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ОглавлениеKapitel 9
Lech – 24. Februar 2003
Als Gabriel seine Aussage bei Major Moosmaier gemacht hatte, war der Techniker vom Kriminallabor in Bludenz gerade damit fertig, nach Fingerabdrücken zu suchen – erfolglos. Der Lecher Kriminalbeamte ging mit Gabriel nach draußen in den Hof, und sie beide sahen zu dem Knattern der Rotorblätter hinauf, als der Helikopter in einer sonnenbeschienenen Schneewolke auf den Landeplatz weiter unten hinabsank.
„Interpol?“, fragte Gabriel.
Moosmaier nickte langsam. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. Eine verwandte Seele des bayerischen Hauptkommissar Brandl, dachte Gabriel. Einem Gefühl folgend, fragte er den Beamten nach seiner Handynummer. Dann ging er die Straße hinunter und trat in einen Schneehaufen, als ein Wagen auf dem Weg nach oben um die Ecke bog.
„Dieser Uringestank an ihr“, sagte Whyte. Sie standen vor dem Strozzi an der Hauptstraße. Die Bar war voll mit jungen Leuten, deren Gesichter von der Wintersonne und dem Glühwein leuchteten. Von dem Tatort einen guten Kilometer weiter den Berg hinauf ahnten sie nichts. Aber bald würden sich alle darüber die Mäuler zerreißen. Er hatte außerdem einige Anrufe getätigt und Nachrichten bei diversen Kontakten hinterlassen, um wenigstens den Namen dieses „Henkers“ herauszufinden. Mit etwas Glück würden sie auch erfahren, wo er sich herumtrieb. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte Whyte bisher noch kein Glück gehabt.
„Was ist damit?“, fragte Gabriel.
„Das war nicht von ihr. Es war überall auf ihrer Bluse, auf ihrem ganzen Rücken“, sagte Whyte. „Der Kerl hat auf sie gepinkelt, während sie gebetet hat. Der ist schlimmer als ein Sadist.“
„Was ist schlimmer als ein Sadist?“, fragte Gabriel und betrachtete die lärmende Menge vor der Eisbar gegenüber.
„Ein intelligenter Sadist. Diese Bergleute hier sind kräftig, auch die Frauen. Signora Zennetti würde sagen, besonders die Frauen. Statt mit körperlicher Folter erniedrigt er sie seelisch.“ Whyte rieb sich das Gesicht. „Er hat von Max nicht bekommen, was er wollte. Was er durch das Auffahrmanöver mit uns erreichen wollte, hat er nicht bekommen. Was er in Max’ Haus gesucht hat, hat er nicht bekommen. Aber wir haben nicht eine einzige verdammte Spur zu diesem Tier.“
Gabriel sah ihn an. „Was er von Frau Köberl wollte, hat er nicht bekommen.“
Whyte sah ihm in sein aschgraues Gesicht. „Die Kassette.“
„In Ihrem Auto ist ein Kassettenrekorder“, sagte Gabriel. Er betete, dass der andere einfach auf der Stelle zu seinem BMW gehen würde, damit er ihm stumpf folgen und sich mitreißen lassen konnte. Aber Whyte bewegte sich nicht, und Gabriel wusste, dass er die Entscheidung treffen musste, ob die letzten Worte, die er je von seinem Großvater hören würde, die seines gewaltsamen Todes waren.
„Entweder wir hören uns das an“, sagte Gabriel, „oder geben die Kassette der Polizei. Ich gebe sie nicht der Polizei.“
Sie gingen wie auf ein Stichwort zusammen los. Whyte hatte seinen Wagen nicht weit entfernt auf dem Parkplatz des Skilifts abgestellt. Er stand vor einer Garage, auf deren Metalltür geschrieben stand: „Achtung! Parken verboten!“ Whyte schloss den BMW auf, öffnete aber nicht die Tür.
„Lass mich“, sagte er und streckte seine Hand nach der Kassette aus. Als Gabriel zögerte, fügte er hinzu: „Für Max. Er würde es so wollen.“
Gabriel rührte sich nicht.
„Ich habe an der ersten Kassette nicht rumgemacht“, sagte Whyte. „Mit der hier werde ich auch nichts anstellen. Irgendwann musst du dich mal dazu durchringen zu kapieren, dass ich auf deiner Seite bin.“
Gabriel nickte. Er zog die Kassette aus seiner Tasche und gab sie ihm. Als er wegging, hörte er, wie die Autotür zuknallte. Er stellte sich unter eine Straßenlaterne und versuchte, nicht nachzudenken. Er machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst. Aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er hörte, wie sich die Wagentür öffnete. Er drehte sich um.
„Sie müssen den Sender unter Max’ Hemd gesehen und ihn abgerissen haben“, sagte Whyte, als er auf ihn zukam. Seine Stimme klang gepresst. „Die ganze Aufnahme dauert nur zwanzig Sekunden. Ich hab schnelle Schritte gehört – dasselbe Geräusch, das ich gehört habe, als mich Max auf dem Handy anrief – dann Rufen … Max sagt: ‚Was wollen Sie?‘ Jemand sagt etwas, das ich nicht verstanden hab’ … Ich hab’ es wieder und wieder angehört … Dann ein Handgemenge …“
Whyte hielt inne und wischte sich mit zitternder Hand über den Mund. „… und dann ist das Band leer.“
„Nichts, was einen Hinweis auf den Henker gibt?“, fragte Gabriel.
Whyte antwortete erst nicht und starrte nur ins Leere, dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er und atmete tief aus. Er wedelte schwach in Richtung des Autos. „Ich fahr wohl besser mal weg.“ Aber er blieb stehen und starrte auf den BMW, ohne sich zu rühren.
„Mr. Whyte … Danke.“
Whyte nickte. Er gab Gabriel die Kassette und ging zurück zum Wagen.
Gabriel fand eine kleine Frühstückspension, wo es wegen des Lärms, den der angrenzende Gondellift verursachte, immer freie Zimmer gab. Sie stellten ihre Sachen ab und suchten eine Bar auf. Whyte trank zügig eine Maß Bier. Bei der zweiten ließ er sich mehr Zeit. Gabriel knabberte an einer alten Brezen herum. Hin und wieder fiel sein Blick auf den Eingang. Keiner der beiden sagte viel. Sie hingen ihren Gedanken nach. Es war schon spät, als sie in die Pension zurückkehrten. Whyte schien sich beim Treppensteigen am Geländer hochzuziehen. Er schleppte sich in sein Zimmer im dritten Stock. Gabriel war im zweiten untergebracht. Sofort ging er zum Telefon auf seinem Nachttisch und rief Emily an.
Sie nahm beim ersten Klingeln ab. „Wo bist du?“
Er erzählte ihr ohne Umschweife von Frau Köberls Tod und wartete, als eine lange Stille folgte.
„Ich komme sofort und hole dich ab“, sagte sie endlich.
„Nein, bleib bitte zu Hause“, sagte er und versuchte, wie immer zu klingen. „Ich miete mir morgen gleich als erstes ein Auto und komme zurück.“
Wieder Stille. Gabriel war davon überzeugt, dass Emily im Schlafzimmer stand und aus dem Fenster auf die Silhouette sah, die den Dom vom Nachthimmel abhob.
„Um Gottes Willen“, sagte sie. Ihr irischer Akzent kam durch, wie immer, wenn sie leise sprach. „Was hat dein Großvater da nur losgetreten?“ Darauf gab es keine Antwort.
„Die arme, arme Frau“, sagte sie noch, bevor sie auflegte.
Die Heizung war offenbar im ganzen Haus schon vor Stunden abgestellt worden. Das Zimmer war kalt. Gabriel zog die Schuhe aus, stieg vollständig bekleidet ins Bett und legte sich flach auf den Rücken. Er zog die dünne Decke über sich und redete sich ein, dass er erschöpft war, aber als er die Augen schloss, sah er den Rosenkranz um Frau Köberls arthritische Finger gewunden. Er riss die Augen wieder auf, setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte ein Uhr zwanzig an. Leise nächtliche Geräusche krochen von draußen in sein Zimmer – ein schwaches Scharren auf dem Flur, gedämpftes Lachen von der Straße, das entfernte Klingeln eines Handys. Sein Blick fiel immer wieder auf den schmalen Lichtstreifen unter der Tür. Er warf die Decke zurück, sprang aus dem Bett, zerrte einen schweren Holzstuhl über den Teppich und klemmte ihn unter die Türklinke. Als er wieder im Bett saß, waren seine Zehen taub vor Kälte, die Nebenhöhlen von der Höhe geschwollen. Er hielt sein Gesicht in den Händen. Das einzige Geräusch, das jetzt noch blieb, war das der Uhr. Das Ticken schien immer lauter zu werden. Er dachte an die zerrissenen Familienfotos, an den Urin auf Frau Köberls Bluse, an die schwarzen Schultern seines Großvaters.
Und dann spürte er einen schrecklichen Schmerz in den Rippen. Er griff nach dem Kissen und verbarg darin sein Gesicht. Er wusste jetzt, was sich die ganze Zeit über in ihm aufgebaut und unausgesprochen zwischen ihm und Whyte gestanden hatte, als sie in der Bar gewesen waren:
Schuld.
Sie hatten Frau Köberl nicht angerufen, um sie zu warnen.
Er ließ sich auf den Rücken fallen und starrte auf die geschnitzte Leuchte, die von der Decke hing. Der Wagen, der versucht hatte, sie hinter Vipiteno von der Straße zu drängen – sie hätten verstehen müssen, was es bedeutete: Der Henker wusste, wohin sie unterwegs waren. Und er war entschlossen, vor ihnen dort zu sein. Aber Gabriel war zu sehr in seiner eigenen Suche versunken gewesen und hatte es deshalb versäumt, die Gefahren für andere in Betracht zu ziehen. Nicht nur ein Versäumnis, eine Sünde – der Unterlassung. Und abgesehen von dieser schweren Schuld, die diese Unterlassung mit sich brachte, war da noch die Erkenntnis: Dadurch, dass er sich so leicht hatte austricksen lassen, waren seine Chancen, seinen Großvater und nun auch Frau Köberl zu rächen, gleich null. Nun würde er mit Schmerz und Reue in den Kampf gegen einen Feind ziehen, den nichts davon belastete.
Er warf einen Arm über seine Augen, als könne er den Anblick der Deckenleuchte nicht mehr ertragen, aber in Wirklichkeit waren es seine Gedanken und Erinnerungen, die er verdrängen wollte. Mit geschlossenen Augen schien das Ticken der Uhr seinen Kopf auszufüllen. Er wickelte sich in die Decke und rollte sich mit angezogenen Knien auf die Seite. Nach und nach legten sich die wirren Bilder in seinen Gedanken, und er fühlte, wie er in der Zeit zurückreiste, bis in den Schoß seiner Mutter. Aus dem Ticken wurde der tröstende, mütterliche Herzschlag, der ihn bis zum Morgen trug.