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Wie uns der Hof Berg in den Schoss fiel

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Ein bisschen ist die Schweizer Armee an allem schuld. Hätte ich der Armee nicht im März 1997 nach einer ziemlich geradlinigen Militärkarriere abrupt und endgültig den Rücken gekehrt, wäre ich nicht zu vier Monaten Zivildienst verknurrt worden. Dann wäre ich auch nicht als Zivildienstleistender im Winter 1998 in der Bauernküche unserer Freunde Oswald und Natalie auf dem Herzberghof gesessen, als Oswald eines Nachmittags mit aufregenden Neuigkeiten von einer landwirtschaftlichen Veranstaltung heimkehrte. Er war dort einer älteren Dame begegnet, die eine Nachfolge für ihren kleinen Bauernhof suchte. Natalie und Oswald interessierten sich dafür, landwirtschaftliches Eigentum zu erwerben. Ihr eigener Hof war damals im Besitz einer Stiftung. Der einige Kilometer entfernte, im Baselbieter Jura gelegene Kleinbetrieb schien sehr verheissungsvoll. Er hätte ab sofort als Aufzuchtbetrieb für die eigenen Braunviehrinder und in ferner Zukunft vielleicht als Altenteil dienen können. Meine damalige Partnerin und heutige Frau Claudia und ich wären als Rinderhirtin und Mieter für den kleinen Hof vorgesehen gewesen. Soweit die Idee. Diese Perspektive kam uns sehr gelegen. Wir waren nämlich damals als gut Dreissigjährige, wie es so schön heisst, «offen für neue Herausforderungen». Also auf der Suche nach einer beruflichen Zukunft. Zwei Jahre zuvor waren Claudia und ich gemeinsam in die Welt der Landwirtschaft gesegelt, hatten aber mit unserem ersten Projekt nach kurzer Zeit fulminant Schiffbruch erlitten.

Natürlich konnten wir es damals kaum erwarten, unsere mögliche neue Heimat mit eigenen Augen zu sehen. Heute ist es möglich, mit elektronischer Spürnase alle Winkel eines Ortes auszuschnüffeln, ohne auch nur einen Fuss auf das Gelände zu setzen. 1998 begnügten wir uns noch damit, voller Vorfreude die papierene Landeskarte zu studieren. Eines Nachmittags war es dann so weit. Oswald kurvte mit uns über Hügel und durch Täler ins Baselbiet. Mit leichtem Herzklopfen näherten wir uns dem Juradorf Rünenberg, erspähten den ersten kleinen Hof ausserhalb des Dorfes, auf den die Beschreibung zuzutreffen schien; aber nein, das war er noch nicht. Wir rollten durch das Dorf, durchquerten Felder in Richtung des Jurahauptkamms. Schliesslich gelangten wir auf ein Natursträsschen, folgten einer Waldstrasse bergan, erreichten wieder den Waldrand. Da stand er vor uns: der Hof «im Bärg äne», wie es im hiesigen Dialekt heisst. Meinen ersten Eindruck vom Hof Berg werde ich nie vergessen. Das war der Ort unserer Träume! In einem Reisebuch, das während kanadischer Wandermonate entstanden war, hatte ich Jahre zuvor meinen Traumort gezeichnet. Hier war fast alles versammelt, was ich damals skizziert hatte: die Zufahrt auf der Naturstrasse, die Hoflage am sanften Hang, die Waldnähe, der Obstgarten und sogar der Bach, der durch die Wiesen murmelte. Das klingt jetzt arg kitschig, aber mein vergilbtes Reisebuch birgt noch immer den Beleg. Einzig die damals im Hintergrund skizzierte Bergkette kann der Hof Berg nicht bieten. Dafür schweift der Blick hinüber in den Schwarzwald.

Wir schwankten zwischen Hoffen und Bangen. Konnte dieser Traum wahr werden, nach zwei Jahren vergeblicher Suche nach einem solchen Ort? Auf dem Hof erwartete uns die Besitzerin. Margrit war eine hellwache, selbstbewusste Frau von damals 78 Jahren. Sie war freundlich, aber zurückhaltend. Wir tranken Tee und Kaffee in ihrer kleinen Stube und näherten uns einander an. Natürlich waren wir nervös. Ich glaube, der Funke zwischen Margrit und Claudia sprang sofort. Margrit, die gebürtige Städterin, die seit Kindsbeinen innig mit der Landwirtschaft, den Bergen und der Natur verbunden war. Und Claudia, ebenfalls in der Stadt aufgewachsen, die nach einer Ausbildung als Krankenschwester die Spitalwelt schnell hinter sich gelassen hatte und Landwirtin wurde – das passte einfach. Wir sollten später noch viel über das ungewöhnliche Leben dieser alten Dame erfahren, die uns da gegenübersass.

Als die Tassen leer waren, ging es auf den Hofrundgang. Die bisherigen Pächter waren schon weitergezogen. Es lebten lediglich Hühner, Laufenten und eine Katze zusammen mit Margrit auf dem Hof. Claudia und mich interessierte das Hofgebäude weniger als das Kulturland. Dass sich in diesem Haus gut würde leben lassen, hatten wir schnell gesehen. Aber wie mochten Wiesen und Weiden aussehen, wo verlief die Hofgrenze, wie verhielt es sich mit dem Bächlein, das durch das Land floss? Wir streiften zu viert über das Gelände, das zum Hof Berg gehört und sich hangabwärts erstreckt. Es war Vorfrühling, erste Blüten zeigten sich in den Wiesen, pralle Knospen schmückten die Obstbäume. Die Vielgestaltigkeit des Terrains liess die Hoffläche viel grösser erscheinen, als sie in Quadratmetern ist. Da ist der Bach mit dem Ufergehölz aus Erlen, Eschen, Heckenkirschen, Hasel und Hartriegel. Er bildet zuerst die Hofgrenze zum Wald hin, dann fliesst er durch Wies- und Weideland. Gleich hinter und unterhalb des Hofgebäudes stehen Dutzende von Obstbäumen: Äpfel, Zwetschgen, Kirschen, Birnen. Zwei grosse, schlanke Pappeln rahmen das Hofgebäude ein. Ein Teil der rund fünf Hektaren Land besteht aus steilen Weiden, die allesamt von Stacheldrahtzäunen umfasst waren. Das übrige Wiesland ist überall geneigt und nur an wenigen Stellen ackerfähig. Hinter dem Hofgebäude lag ein grosser Garten. Er war von einem Schneckenzaun umgeben, aber reichlich verwildert. Das Hofgebäude zeigt sich in der typischen Baselbieter Form: Wohnhaus, Stall und Scheune sind längs aneinandergereiht, eine abgestufte Dachlandschaft erstreckt sich von der südöstlich orientierten Wohnhausfassade bis zur letzten Scheunenwand, die nach Nordwesten blickt. Von dort schweift der Blick hinüber nach Rünenberg und weiter bis in den Schwarzwald. Gegenüber dieser Hofzeile steht eine niedrige, lang gestreckte Remise. Sie beherbergt Fahrzeuge, Maschinen, Werkzeuge.

Aufgekratzt, glücklich und voller Tatendrang machten wir uns abends auf den Heimweg. Diskutierten mit Natalie und Oswald die künftige Zusammenarbeit und unter uns, wie wir den nötigen Zusatzverdienst erzielen sollten, was wir als Erstes im Garten anpacken würden und tausend Dinge mehr. Doch dann tauchte unverhofft ein Hindernis auf. Ein Baselbieter Landwirtschaftsbeamter stellte sich quer. Er wollte die heimische Scholle nicht ohne Widerstand einem dahergelaufenen Aargauer überlassen. Dafür bemühte er rechtliche Grundlagen, die auf wackligen Füssen standen. Doch das erkannten wir erst später. Damals bereitete uns diese überraschende Entwicklung schlaflose Nächte: Würden unsere Pläne zerplatzen wie eine Seifenblase? Eine Besprechung der neuen Situation mit Hofbesitzerin Margrit brachte Klarheit: Sie würde den Hof – das Einverständnis von Oswald und Natalie vorausgesetzt – auch Claudia und mir verkaufen. An der vorgesehenen Zusammenarbeit in der Rinderaufzucht wollten wir festhalten. Oswald und Natalie begrüssten diese Lösung. Und es kam alles für alle gut. Die beiden konnten später ihren schönen Pachtbetrieb erwerben, den jetzt bereits die junge Generation übernommen hat.

Damit gab es eigentlich nur noch ein Problem: Claudia und ich wollten zwar die Chance unseres Lebens ergreifen und den Hof Berg kaufen. Aber wir hatten erstens kein Geld und zweitens kein gesichertes Einkommen. Unsere gemeinsamen Ersparnisse dürften sich damals auf rund 20 000 Franken belaufen haben. Das war deutlich zu wenig, auch wenn Margrit aus tiefer Überzeugung den Hof nicht zum Marktwert verkaufen wollte. Sie war der Meinung, dass Grund und Boden eigentlich gar nicht in Privatbesitz sein sollten. In jungen Jahren hatte sie sich in diesem Sinn politisch engagiert. Für ihren Verkaufspreis orientierte sie sich deshalb am Ertragswert, also an der Summe, die man theoretisch mit dem Hof erwirtschaften und für die Zinszahlung aufwenden konnte. Das ergab einen Verkaufspreis von 280 000 Franken für den ganzen Hof. Es war nicht nur weit weniger, als Margrit und ihr verstorbener Mann seit 1980 selbst für die Renovation des Hofs aufgewendet hatten. Es war auch kaum ein Drittel dessen, was sie durch den ausserlandwirtschaftlichen Verkauf an gut betuchte Interessierte hätte einheimsen können. Schon damals waren die Behörden nämlich nur zu gerne bereit, die Bewilligung für die Auflösung kleiner Bauernhöfe zu erteilen. Das frei werdende Kulturland hätte dann benachbarten Höfen Wachstum ermöglichen und deren wirtschaftliche Lage verbessern sollen. Das war schon damals nicht wahr und ist es auch heute nicht. Doch am Heilsglauben vom ewigen und immer segensreichen Wachstum wird unverändert festgehalten, besonders in der Landwirtschaft. Wir erleben deshalb seit zwanzig Jahren, dass um uns herum die einen Bauern aufgeben und die anderen expandieren. Der schönfärberische Fachbegriff dafür heisst «Strukturwandel».

Zurück zu unseren damals leeren Taschen: Wir machten uns schleunigst daran, Geld für unseren Hofkauf aufzutreiben. Allerdings konnte der Hof Berg nicht warten, bis wir dieses Problem gelöst haben würden. Die Zwetschgenbäume begannen zu blühen, das Gras reckte längst seine zarten Spitzen aus der Winterstarre. Jemand musste auf den Hof ziehen, um die Frühlingsarbeiten an die Hand zu nehmen – und das waren wir.

Stolze Kühe, krumme Rüebli

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