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Ich stand am Fenster. Vor mir die Schienen im Winterlicht. Silbrig glänzten sie. Parallel zueinander die Gleise. Ihre Richtungen einander entgegengesetzt. Wenn ich im flachen Winkel auf die Schienen sah, blendeten sie mich. Ein Zug kam. Er nahm mir die Sicht. Ich sah zum erstenmal hoch. Der Himmel über mir ein hellblauer Guß: Fragen eingeschlossen im Wintersmog.

Ich machte das Lärmschutzfenster zu. Es war erst eingebaut worden im letzten Jahr. Vor dem schallgedämpften Fenster ein zweiter Zug. Er fuhr auf den Tunnel zu. Ich horchte in den teilbaren Zeit-Raum, der meine Unterwohnung nun war. Der Raum klang hohl. Es war ein Echo in ihm, das noch keinen Inhalt hatte. Da war nur Hall von einer Wand zur anderen. Erst jetzt nahm ich wahr, daß der Raum viel größer war als er beim ersten Hinsehen schien. Zu sehr war ich auf die Aussicht aus dem Fenster konzentriert gewesen. Nun versuchte ich, mir den Raum als Raum einzuprägen. Ich schritt den gerade gemieteten Zeit-Raum ab. Er war 6 Meter breit und 8 Meter lang. Der Fußboden Holzdielen, deren Lack von den Jahren abgetreten war.

Als Ort, der mir Obdach werden sollte, mußte er von mir erst noch erfunden werden. Auf keinen Fall wollte ich ihn mit Erinnerungen verstellen, mit Andenken aus der Zeit, aus der ich gerade auf so umständliche Weise herausgetreten war. Die wenigen Dinge, die ich mitgenommen hatte aus dem Haus, nachdem ich es an die Hypothekenbank verloren hatte, konnten vorerst im städtischen Speicher ihren Platz finden. Ich wollte selbst bestimmen, wann ich auf meine Erinnerungen zuging. Auf keinen Fall sollten sie mir den Ort hier vollstellen.

Zu den wenigen Dingen, die ich haben wollte, gehörten ein Futon. Ja, einen Futon wollte ich unbedingt. Er sollte direkt vor dem Fenster seinen Platz finden. Beim Aufwachen wollte ich den Himmel sehen. Auf den bloßen Dielen sollte der Futon liegen. Ich wollte auf ihm auch künftig meine Lage erfühlen und ihre Widerstände gegen den Boden bemessen können, bevor ich aufstünde und in den Tag ginge. Ich maß mit Schritten die Größe ab, den der Futon haben konnte. Denn groß sollte er sein. Warum, wußte ich nicht, aber ich wollte es trotzdem. Ich war zufrieden, daß ich das erste Möbelstück für diesen Ort so schnell entschieden hatte. Zwei mal zwei Meter konnte seine Größe sein.

Zum ersten Mal schloß ich meine Unterwohnung von außen ab. Die Straße vor dem Haus rechts und links neben der Hochbahn war dreispurig. Ich nahm den Weg in die Stadt. Bevor ich mich um einen Futon kümmern konnte, mußte ich nach dem Laptop sehen. Sein Preis war nur noch heute so günstig. Es war das beste Sonderangebot seit Wochen. In der Morgenzeitung des Wohnheims hatte ich es gefunden:. 30 Prozent Rabatt vom Kaufpreis, wenn im Kaufvertrag die Anmeldung einer e-Mailnummer bei einem deutschen on-line Dienst eingeschlossen war. Das Faxmodem hatte eine enorme Geschwindigkeit. Es war das schnellste Modem, das augenblicklich im Handel war. Ja, ein Modem wollte ich unbedingt. Nie wieder wollte ich in eine Situation kommen, keine Adresse zu haben. Denn keine Adresse zu haben, bedeutet doch auch, keinen Ort mehr zu haben, an den man zurückkehren kann. Diese Erfahrung von Verlorensein hatte mich zutiefst verunsichert. Die Adresse im Netz bleibt, egal welche Wohnung oder Unterwohnung ich gerade aufgegeben habe. Das weltweite Netz ist ein einzigartiger Ort. Ein Fixpunkt, den ich als Ort selbst programmieren kann. Ein Ort, auf den ich zu jeglicher Zeit zugehen, den ich aber auch wieder verlassen, ein Ort, von dem aus ich allerorts unterwegs sein kann. Wohin, liegt in meiner Hand. Das Netz als imaginärer Punkt, über den ich mich nach eigenem Ermessen mit der Welt verbinde.

Der Laden lag an der letzten Querstraße vor dem neuen Großmarkt. Um mich zu vergewissern, ob es wirklich die letzte Querstraße war, sah ich noch einmal im Stadtplan nach. Seitdem ich nämlich meine eigene Hinterbliebene geworden war, war ich, was Orte und ihre Lage betraf, zutiefst verunsichert. Mit Bestimmtheit konnte ich nie mehr sagen, ob mein Gedächtnis die Orte an den Plätzen erinnerte, an denen sie sich auch jetzt noch befanden. Der Grund für diese Unsicherheit lag darin, daß mein Gedächtnis die Orte in verschiedenen Zeitzonen gespeichert hatte. Denn der Raum, wie ich erfahren mußte, hatte mehr Bestand als die Zeit, die in ihm abgelaufen war. Und erst allmählich wurde mir klar, daß ich mit der Zeit, aus der ich herausgetreten war, auch das Koordinatensystem hinter mir gelassen hatte, in dem der Punkt auf den Punkt genau zu berechnen war. Von den Parametern, auf die ich nun zulief, wußte ich nur, daß Unbestimmtheit eine ihrer Konstanten war. Und ich wußte, daß auf das Ende, welches hinter mir lag, als Orientierungspunkt nicht mehr zurückzukommen war.

Nachdem ich die U-Bahn verlassen hatte, stand ich also wieder auf der Straße und wußte einmal mehr nicht, über welchen Zugang die Unterführung zu erreichen war, an dessen Ausgang der Computerladen lag. Es dauerte eine Weile, bis ich mittels eines umständlichen Weges endlich vor dem Laden stand.

Dem Verkäufer führte mir den Laptop vor.

Bei unserem Kundendienst können Sie sich nach dem Kauf des Geräts für den halben Preis eine Homepage nach Ihren Wünschen erstellen lassen, sagte er unaufdringlich.

An eine Homepage hatte ich noch nicht gedacht. Zu sehr war ich auf eine e-Mailadresse konzentriert, über die ich erreicht werden konnte.

Haben Sie für den Namen ihrer e-Mail besondere Wünsche, fragte der Verkäufer.

Agnes@on-line., sagte ich und wußte nicht, wie ich darauf gekommen war.

Der Verkäufer meldete den von mir gewünschten Namen an. Kaum war die Anmeldung bestätigt worden, kam die Nachricht: “Sie haben Post.”

Der Verkäufer bat mich, die Post selbst abzuholen.

“Falls das Netz überfordert ist und du nicht weißt wohin. Wir sind schon unterwegs. Moses”

Überrascht und erfreut über die Nachricht, bezahlte ich schnell meine Rechnung. Wegen der Homepage komme ich wieder, versicherte ich dem Verkäufer und verließ den Laden.

Die gefundene Frau

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