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Ich hatte unbeschreiblichen Hunger auf eine Currywurst mit braunem Senf. Ich fuhr zur „Stadtmitte“, wo die Currywurst mit Senf am besten schmeckt. Das war ein übersichtliches Ziel, erreichbar auf dem Schienenweg. Ich mußte nicht einmal den Tunnel wechseln.

Das Geld vom Grabstein sollte angelegt werden, dachte ich. Am günstigsten sind zur Zeit Investmentfonds. Der Vorteil eines Investmentfonds besteht darin, daß das Geld täglich verfügbar bleibt. Ich muß schnell heran können an das Geld. Also chancen-orientierte Anlagen, stand in dem Prospekt der Bank.

Eine vom Computer simulierte Frauenstimme, kündigte den Umsteigebahnhof „Stadtmitte“ an. Elektronisch modulierte Sprach-Freundlichkeit wies auf die Möglichkeiten des Umstiegs zu den Linien hin, die diese Mitte hier kreuzten. Ich begab mich wieder auf die Rolltreppe. Sie endete an der Unterführung, die diese zwei Untergrundlinien miteinander verband. Ich mußte weiter aus eigener Kraft.

Der Stand, an dem es Currywurst mit scharfem Senf gab, befand sich am Aufgang zur Linie D. Der Weg dorthin beinahe ein Kilometer lang. Die Unterführung überfüllt von Menschen auch nach Mitternacht. Voll von Leuten, für die Draußen hier ein Drinnen geworden war. Die Wände sprachen davon. Sie waren voller Bilder, die ein Obdach gefunden hatten, denn dieser Tunnel blieb als Ort beständig. Künstler hatten es schnell begriffen und sich zu Underground-Gruppen zusammengefunden. Konzentriert zeichneten sie ihre Ansichten in Öl, in Tusche, in Aquarell. Immer neue Mischtechniken wurden an den Wänden ausprobiert. Bis auf Graffiti war alles erlaubt, was nach GRUND in dieser Unterführung suchte. Die Wände hier waren als Chance, nicht als Hindernis angenommen worden. Begrenzung als Möglichkeit, die Geborgenheit versprach. Ja, das machte den Charme dieser Unterführung aus. Einige boten gleich ihr Lebenswerk zu erheblichem Rabatt an.

Die Objektkünstler beeindruckten mich auch diesmal am stärksten. Stellten ihre Installationen den zur Verfügung stehenden Ort doch auch wieder in Frage. Füllten ihre Gegenstände den Raum mit einer so immensen Spannkraft von oben nach unten und von unten nach oben, daß sie auf seine Grenzen wiesen. Die Frage, ob und wie es weiterginge, wenn die Installation „Erde in Grün“ aus den Schutzraum nach oben durchbräche, drängte sich hartnäckig auf, je länger ich vor ihr stand.

Da jeder Künstler hier unten seine Chance aufs neue bekommen sollte, wurden die Tunnelwände von Zeit zu Zeit mit weißer Farbe überstrichen. Das Prinzip der Chancengleichheit war für die Gemeinde in dieser Unterführung ein unumstößliches Prinzip und wurde mit rituellem Ernst gehandhabt.

Die Currywurst schmeckte vorzüglich. Ich holte gleich noch zwei. Wortlos schlang ich sie in mich hinein. Mir tränten die Augen von dem braunen Senf.

Die Grabstelle läßt sich schwarz verpachten, dachte ich und konnte mich gegen den Gedanken nicht wehren.

Es gibt Makler für solche Immobilien. Wenn das Doppelgrab für zehn oder gar für fünfzehn Jahre vergeben werden könnte, wäre ein guter Preis drin. Zwei Erdstellen in bester Friedhofsgegend. Mittelgang, Blick auf die Kapelle. Verkehrsgünstig liegt der Friedhof auch. War doch erst vor einigen Jahren ein Teil des Gottesackers an die Stadt verkauft worden, weil sich der Bau einer Umgehungsstraße für das Stadtzentrum nicht länger hinauszögern ließ.

Gedankenversunken schnipste ich den Plastikteller in den Abfalleimer und behielt das papieren helle Geräusch seines Aufpralls im Ohr. Es ging über in Klangfetzen, die ich schon zum dritten oder vierten Mal hörte, obwohl ich mich wehrte, sie hören zu wollen. Ich wollte nie wieder Opfer meiner Halluzinationen werden. Ich hatte mich nicht hinter mir gelassen, damit ich in diesem Tunnel hier Tonfolgen aus einer Zeit zu hören bekam, aus der ich auf so umständliche Weise herausgetreten war.

Ich versuchte mir, durch Konzentration auf das Geschehen an diesem Ort, zu verbieten, was ich hörte. Eine elektronische Orgel spielte das Thema des adagio, das zuletzt in New York so unerwartet auf mich zugekommen war.

Ich blieb stehen und hielt mir die Ohren zu. Das änderte nichts daran, daß eine Hammond-Orgel schon die zweite Variation auf das adagio in langsamen Halbtonschritten aufsteigen ließ, um in plötzlichem Tempowechsel schneller immer schneller zu werden. Der abrupte Wechsel des Tempos und die sich noch immer beschleunigende Variation, brachte ein Vibrieren in mich. Ich hatte Mühe, vor erhabener Rührung nicht loszuheulen. Rührung, von der unklar war, wem und was sie galt.

Wie sehr haßte ich Liederlichkeiten in Gefühlssachen. Verabscheute diffuse Trauer und deren unberechenbaren Umschlag in Selbstmitleid. Lebenslänglich bin ich mit ungeheuerlicher Kraft und Härte gegen jegliche Sentimentalität in mir angegangen. Sollten die Anstrengungen aus all den Jahren ihr Ende darin gefunden haben, daß ich in dieser Unterführung vor einem Abfalleimer voll von fettigen Papptellern mit all den Sentimentalitäten konfrontiert wurde? Sollte meine Arroganz, diffuse Gefühle durch Willensstärke niedergehalten zu haben, hier an diesem Imbißstand widerlegt werden? Dem einzigen Stand im gesamten Netz der Untergrundbahn, an dem es die Currywurst mit scharfem Senf gab. War ich in diese Unterführung geraten, damit ich mit meiner Selbstüberhebung vor einem weißen Plastiktisch konfrontiert werden konnte. Sollte meine Überstiegenheit ausgerechnet an dem Wurststand zum Aufgang D auf den banalen Punkt zurückgeführt werden, daß auch mein Hunger gestillt werden konnte, und zwar durch Currywürste mit braunem Senf?

Ich versuchte durch Konzentration, die eigene Schwäche wegzudrücken. Versuchte auf Druck mit Gegendruck zu reagieren. Aber meine Kraft reichte nicht. Ich heulte los. Die Orgel setzte aus. Ich flennte weiter. Es tat mir gut. Und trotzdem. Mit Halluzinationen wollte ich nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben. Sie gehörten mir nicht mehr. Gehörten nicht hier her. Ich preßte die Hände fest gegen die Ohren. Für einen Augenblick war Ruhe. Nachdem durch zu starkes Pressen auf das Trommelfell in den Ohren schließlich allerlei Geräusche entstanden waren, gab ich sie wieder frei. Ich hörte die elektronische Orgel deutlicher als vorher. Ich ging der Melodie nach. Ich wollte sicher sein, daß mir meine Ohren nach all dem Ende nicht schon wieder einen Streich spielten. Ich lief mit geschlossenen Augen auf das Gehörte zu. Als ich sicher war, daß ich der Melodie zum Berühren nahe war, öffnete ich die Augen. Vor mir saß Moses Grossman und spielte auf einer Hammond-Orgel.

Das Gehör war also auch geblieben. Moses Grossman nickte und brach die Variation ab. Er blies in seine Hände und spielte Tonleitern mit einer Fingerfertigkeit, aus der auf Anhieb klar wurde, daß er ein Profi war. Seine Technik und der Anschlag verrieten es. Die akustische Abstimmung der Orgel auf den Ort hier unten konnte nur einem Berufsmusiker mit solcher Präzision gelingen. Die nach oben aufeinander zulaufenden Wände, die der Deckenwölbung das Aussehen eines Spitzdachs gaben, akustisch so auszugleichen, daß kein Hall entstand, bedurfte jahrelanger Spielerfahrung in unterschiedlichsten Sälen.

Moses Grossman spielte die Tonleitern immer schneller. Erst jetzt sah ich, rechts neben der Orgel lag seine Joggingmütze, mit Kleingeld, da zwischen auch Scheine. Moses Grossman steigerte das Tempo der aufsteigenden Tonleitern noch immer. Unerwartet brach er das Spiel ab, stand auf und bedankte sich beim Publikum, das um die Orgel stehengeblieben war. Er verbeugte sich nach allen Seiten und nahm schließlich seine Joggingmütze auf. Das Geld steckte er zufrieden in die Hosentasche.

Das Publikum zerstreute sich. Ich blieb.

Die gefundene Frau

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