Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser, Manuel Ladiges - Страница 108
c) Erweiterung der Verständnismöglichkeiten
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Demgegenüber wirken historisch-genetische Kontexte bedeutungserweiternd, wenn nach grammatischer Auslegung und insbesondere anderen Kontexten die Anwendbarkeit einer Norm auf einen bestimmten Sachverhalt eher nicht gegeben erscheint, sich aber aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt, dass dieser Sachverhalt durchaus erfasst sein sollte. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob der gesetzgeberische Wille im Gesetz nicht doch so weit Ausdruck gefunden hat, dass die Bedenken gegen die Anwendung der Norm überwunden werden können, bzw. ob die Vorschrift nicht wenigstens auf so viele Fälle angewendet werden sollte, wie mit Blick auf die anderen Kontexte noch vertretbar ist. Dieses Zusammenspiel lässt sich anhand einer Entscheidung des BGH zur Auslegung des § 177 StGB i.d.F. durch das 33. StrÄndG verdeutlichen: Danach lag ein besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung (Vergewaltigung) u.a. in Fällen vor, in denen „der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung)“.[80] Der 3. Strafsenat hatte nun zu entscheiden, ob der Tatbestand dieses Regelbeispiels in einem Fall erfüllt war, in dem der Täter das Opfer gewaltsam zur Ausübung des Oralverkehrs zwang, indem er es am Kopf packte und mit beiden Händen zu seinem Geschlechtsteil zog.[81] Der Senat verneinte diese Frage mit grammatischen und systematischen Argumenten, weil im Falle des erzwungenen Oralverkehrs nicht der Täter am Opfer, sondern das Opfer (gezwungenermaßen) am Täter sexuelle Handlungen vornehme. Diese Unterscheidung ergebe sich aus anderen Vorschriften über den strafrechtlichen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, die allesamt sowohl die Handlungen des Täters am Opfer als auch diejenigen des Opfers am Täter explizit erwähnten.
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Historisch-genetische Kontexte allerdings deuten in eine andere Richtung:[82] Im Gesetzesentwurf zum 33. StrÄndG wurde offenbar auch der vom Täter erzwungene Oralverkehr durch das Opfer als erfasst betrachtet: Dies ergibt sich nicht nur aus dem nicht näher differenzierenden Sprachgebrauch, sondern auch aus der Erläuterung als „Eindringen des Geschlechtsgliedes (. . .) als orale oder anale Penetration“,[83] welche als Bild für den vom Täter am Opfer durchgeführten Oralverkehr eher schief ist bzw. zumindest nicht die statistisch bedeutsameren Fälle erfassen dürfte. Auch in den – für den bereits abgeschlossenen Gesetzgebungsvorgang freilich weniger ausschlaggebenden – Materialien der kurze Zeit später erfolgenden Ergänzung um eben jenes „oder an sich von ihm vornehmen lässt“, maß der Rechtsausschuss der Ergänzung nur klarstellenden Charakter bei.[84] Um den in den Materialien zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen möglichst zu berücksichtigen, ohne die normtextnäheren systematischen und grammatischen Kontexte unzulässig zu überspielen, sprechen daher gute Gründe dafür, wenigstens solche Handlungen noch als Vornahme „am Opfer“ zu erfassen, in denen keine (wenngleich auf Zwang beruhende) „passive Inanspruchnahme“ des Opfers vorliegt, sondern die Aktivität zumindest auch beim Täter liegt.[85] Im konkret zu entscheidenden Fall nun hatte sich der Täter nicht etwa weitgehend passiv verhalten und nur durch die Kraft einer Drohung das Opfer zur Durchführung des Oralverkehrs genötigt, sondern vielmehr dessen „Kopf in beide Hände“ genommen und „zu seinem Geschlechtsteil“ gezogen. Jedenfalls diese Vorgehensweise kann selbst unter Berücksichtigung der systematischen Einwände als sexuelle Handlung am Opfer gesehen werden.