Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Robert Esser, Manuel Ladiges - Страница 46
I. Grundgesetzliche Parameter
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Das materielle Strafrecht (ius poenale) sowie das Strafverfahrens- und Strafvollstreckungsrecht (ius puniendi) haben die Aufgabe, die vom Staat gesetzte Rechtsordnung zu sichern, den Rechtsfrieden zu erhalten oder wiederherzustellen und den Einzelnen und die Gemeinschaft gegen grobe Rechtsverletzungen zu schützen.[1] Dabei stehen materielles Strafrecht und institutionell-verfahrensrechtliche Durchsetzung des Strafanspruchs zueinander in einem notwendigen Ergänzungsverhältnis.[2] Eine Strafrechtsordnung ohne staatliche Strafgewalt vermag ebenso wenig dem Rechtsgüterschutz und dem sozialen Frieden zu dienen wie umgekehrt eine zielorientierte Verfahrens- oder Vollstreckungsregelung nicht möglich ist, wenn sie materiell-rechtliche Vorgaben und Rechtsfolgen außer Acht lässt.[3] Eine willkürliche oder übermäßige Ausübung staatlicher Strafgewalt kann allerdings auch die Freiheit des Betroffenen gefährden. Daher sieht die Verfassung nicht nur Freiheitsgewährleistungen durch die staatliche Strafgewalt, sondern auch gegenüber der staatlichen Strafgewalt vor.[4]
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Die Kriminalstrafe ist der schärfste Freiheitseingriff, den die deutsche Rechtsordnung kennt.[5] Sie geht deutlich über die zivilrechtliche Ausgleichsfunktion und Schadensersatzpflicht bei schädigenden Handlungen hinaus; Strafe wird als Rechtsfolge einer Verwirklichung von materiellen Strafvorschriften auch gegenüber ersatzbereiten und -fähigen Tätern verhängt.[6] Bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und der damit verbundene drohende Schuldspruch stellen – ungeachtet der Unschuldsvermutung – ein ehrenrühriges Unwerturteil über eine Verhaltensweise des Betroffenen dar, das ihm eine defizitäre Einstellung zur Norm attestiert und ihn dadurch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) trifft.[7] Verhängung und Vollstreckung der Strafe begründen gar einen schwerwiegenden Eingriff in Freiheit oder Vermögen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 oder Art. 2 Abs. 1 GG).[8] Derartige Grundrechtseingriffe können nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn sie auf materiellen Strafnormen und prozeduralen Vorschriften beruhen, die bestimmten rechtsstaatlichen Mindeststandards genügen.[9] Entsprechendes gilt für sonstige, dem Strafrecht vorbehaltene Tatfolgen, die zwar nicht Strafe sind, wie Maßregeln der Besserung und Sicherung, aber an eine schuldlos begangene Tat grundrechtsrelevante Rechtsfolgen knüpfen, wie z.B. die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB.
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Die staatliche Strafgewalt ist freilich nicht nur Bedrohung grundrechtlicher Freiheit, sondern zugleich ihr wesentlicher Schutz und Garant.[10] In ihrer Schutzpflichtendimension verpflichten die Grundrechte den Staat, die elementaren Schutzgüter des Einzelnen wirkungsvoll vor Übergriffen Dritter zu bewahren.[11] Ohne das Instrument der Strafandrohung und ohne eine funktionstüchtige Strafverfolgung wäre dieser grundrechtliche Schutz nicht realisierbar.[12] Nicht von ungefähr hat das Bundesverfassungsgericht die staatliche Schutzpflichtenlehre gerade anhand einer „Pflicht zum Strafen“ entwickelt[13] und betont, dass der Staat seiner grundrechtlichen Schutzpflicht nur genüge, wenn er elementare Rechtsgutsverletzungen unter Strafe stellt und an das Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO) gebundene Strafverfolgungsbehörden einrichtet.[14] Auch die von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Straftheorien, insbesondere die Vereinigungstheorie, die sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringt,[15] werden vom Bundesverfassungsgericht zur Konturierung staatlicher Schutzpflichten herangezogen.[16] Ob darüber hinaus aus der Schutzpflichtendimension sogar ein verfassungsrechtlich verbürgter subjektiver Anspruch des Opfers auf Strafverfolgung des Täters erwächst, ist nicht geklärt.[17] Nicht bestreiten lässt sich aber, dass die zentralen Rechte des Opfers im Strafprozess (etwa als Nebenkläger) ihre Wurzel ebenfalls in den grundrechtlichen Schutzpflichten haben und damit nicht vollständig zur Disposition des Gesetzgebers stehen.[18]
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Das materielle Strafrecht sowie die Ordnungen des Strafprozesses, der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs als Verfahren zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs stellen bedeutsame Bewährungsfelder des Rechtsstaates und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dar.[19] Nicht von ungefähr wird insbesondere das Strafverfahrensrecht als „Seismograph der Staatsverfassung“,[20] als „angewandtes Verfassungsrecht“[21] oder als „Magna Charta des Rechtsstaats“[22] bezeichnet. Denn vor allem am Zustand des Strafprozessrechts lässt sich ablesen, wie es um die Freiheitlichkeit, aber auch um die rechtsstaatliche Fähigkeit zu verlässlicher Sicherheitsgewährleistung eines Staatswesens bestellt ist.[23] Daneben ist auch das materielle Strafrecht nicht „verfassungsfest“, sondern muss sich an den Prinzipien der gewaltengegliederten Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, messen lassen.
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Die staatliche Strafgewalt ist im Grundgesetz nur fragmentarisch und zudem bloß punktuell-verstreut konstituiert. Ein dem Finanzverfassungsrecht (Art. 104a–115 GG) entsprechender Abschnitt ist dem „Strafverfassungsrecht“ im Grundgesetz nicht gewidmet.[24] Vielmehr wird die staatliche Strafgewalt in verschiedenen Vorschriften (z.B. Art. 9 Abs. 2, 11 Abs. 2, 20 Abs. 3, 74 Abs. 1 Nr. 1, 92, 95, 101, 103 Abs. 2 GG) schlicht vorausgesetzt.[25] Ihre institutionelle Ausformung sowie die Normierung ihrer Handlungs-, Verfahrens- und Entscheidungsbefugnisse und deren materiell-rechtlichen Bewertungsgrundlagen obliegen primär dem Gesetzgeber.[26] Damit lässt die Verfassung Raum für die demokratische Gestaltungsfreiheit bei Schaffung und Ausgestaltung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und der (Landes-)Strafvollzugsgesetze und anerkennt darüber hinaus die dogmatische Eigenständigkeit des Fachrechts.[27]
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Auf der anderen Seite unterliegt die staatliche Strafgewalt verschiedenen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen. Die allgemein gegenüber jeder staatlichen Gewalt nach dem Grundgesetz bestehenden grundlegenden Gewährleistungen und Staatsstrukturprinzipien (insbesondere Menschenwürde, Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip, Bundesstaatsprinzip, materielle Grundrechte, Rechtsschutzgarantie und Verfassungsbeschwerde) gelten auch gegenüber der staatlichen Strafgewalt und binden diese sowohl in materiell-rechtlicher als auch in institutionell-verfahrensrechtlicher Hinsicht.[28] Aufgrund ihres in hohem Maße abstrakten Regelungsgehalts bedürfen diese grundlegenden Verfassungsgarantien allerdings der Konkretisierung und gesonderten Absicherung. Dies geschieht durch spezifische Vorkehrungen im Grundgesetz selbst.[29] Dabei richten sich manche dieser Vorkehrungen wiederum an die Staatsgewalt im Allgemeinen (Art. 92, 97, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG) und sind nicht ausschließlich auf die Strafgewalt zugeschnitten. Andere konkretisierende Verfassungsgarantien, insbesondere die Justizgrundrechte, haben jedoch spezifisch die staatliche Strafgewalt im Blick und etablieren spezielle verfahrensrechtliche (Art. 104 Abs. 2–4 GG) oder besondere materiell-rechtliche (Art. 102, 103 Abs. 2–3, 104 Abs. 1 GG) Vorgaben.[30] Hinzu treten verschiedene strafrechtsorientierte Verfassungsgewährleistungen mittlerer Abstraktion, die das Bundesverfassungsgericht aus einer Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Kernprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Willkürverbot, Menschenwürdegarantie und allgemeinem Persönlichkeitsrecht entwickelt hat, etwa das Recht auf ein faires Verfahren, das Gebot der Waffengleichheit, die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts und die verfahrensrechtliche Maxime des nemo tenetur se ipsum accusare.[31]