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1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der überwiegend aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit abgeleitet wird,[85] ist zur Feststellung der Verfassungskonformität strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und ihrer Anwendung von überragender Wichtigkeit.[86] Speziell für das Strafrecht bedeutet das Verhältnismäßigkeitsprinzip nämlich, dass sowohl jede normative Strafbewehrung als auch jede auf dieser Grundlage verhängte Strafe oder Maßnahme, die in Freiheitsrechte des Beschuldigten eingreift, zur Erreichung des angestrebten legitimen Zwecks geeignet und erforderlich sein muss und außerdem nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachtes oder der ermittelten Schuld stehen darf.[87]

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Auf einer ersten Stufe bindet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Gesetzgeber, der darüber Rechnung legen muss, dass die Schaffung oder Änderung einer materiellen Strafrechtsnorm dem verfassungsrechtlich legitimen Schutz von Rechtsgütern Dritter oder der Allgemeinheit dient sowie erforderlich und angemessen ist.[88] Zwar verfügt der Gesetzgeber wegen seiner unmittelbaren demokratischen Legitimation über einen erheblichen Beurteilungsspielraum bei der Zweckbestimmung und der Geeignetheit des Mittels, der der verfassungsgerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen ist.[89] Eine absolute Grenze besteht nur dort, wo die Verfassung selbst die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt.[90] Allerdings darf auch unterhalb dieser Grenzlinie nicht jeder beliebige zivil- oder verwaltungsrechtliche Verstoß unter Strafandrohung gestellt werden. Das materielle Strafrecht muss sich auf die Sanktion schwerwiegender Beeinträchtigungen von verfassungsrechtlich legitimen Rechtsgütern des Einzelnen oder der Allgemeinheit konzentrieren.[91] Dazu können auch „großflächige“ Rechtsgüter wie die Umwelt oder das Kreditwesen gehören, die wesentliche Gemeinschaftsinteressen schützen.[92] Ein bloß moralwidriges Verhalten kann eine Strafvorschrift aber nicht legitimieren.[93] Unter anderem deshalb ist der Beschluss zur Strafbarkeit des Geschwisterbeischlafs, in dem sich das Bundesverfassungsgericht gegen eine Verfassungswidrigkeit des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB ausgesprochen hat,[94] umstritten geblieben. Insbesondere die Begründung, dass die Strafbarkeit des Geschwisterinzests dem Schutz von Ehe und Familie, der sexuellen Selbstbestimmung und der Verhinderung erbkranken Nachwuchses diene,[95] ist in der Literatur vielfach auf Widerspruch gestoßen. Die genannten Verfassungsrechtsgüter seien, wie die Vermeidung von Erbkrankheiten, entweder nicht existent oder, in Bezug auf den Schutz von Ehe und Familie und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht, bei einem einvernehmlichen geschwisterlichen Beischlaf nicht berührt.[96] Freilich hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Strafbewehrung des Geschwisterinzests keine Einwände erhoben, sondern auf den „margin of appreciation“ der Konventionsstaaten abgestellt.[97]

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Unter dem Blickwinkel des Verhältnismäßigkeitsprinzips ebenfalls nicht unproblematisch sind Erweiterungen des Kreises derjenigen Rechtsgüter, die unter strafrechtlichen Schutz gestellt werden. So ist fraglich, ob der „Schutz der Integrität des Sports“, der als neu entwickeltes kollektives Rechtsgut dem Antidopinggesetz von 2015 zugrunde liegt,[98] tatsächlich eine Strafbewehrung erfordert.[99] Jedenfalls werfen Rechtsgüterschutzerweiterungen grundsätzliche Bedenken im Blick auf die verfassungsrechtliche Erforderlichkeitsprüfung auf, wonach der Gesetzgeber das mildeste Mittel zur Erreichung des legitimen Rechtsgüterschutzes einzusetzen hat.[100] Insoweit ergeben sich Überschneidungen mit dem strafrechtlichen ultima ratio-Prinzip, wonach Strafe nur die letztmögliche staatliche Reaktion auf sozialschädliches Verhalten sein darf.[101] Die Überlappungen zwischen Verfassungsrecht und Strafrecht gehen allerdings nicht so weit, dass der strafrechtliche ultima ratio-Gedanke mit der verfassungsrechtlichen Erforderlichkeitsprüfung identisch wäre. Nach dem strafrechtsdogmatischen Subsidiaritätsprinzip dürfen Straftatbestände erst geschaffen werden, wenn andere Rechtsmittel zur Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Friedens- und Werteordnung nicht verfangen.[102] Dies gilt nicht nur im Blick auf die Frage, ob zivil- oder verwaltungsrechtliche Ausgleichspflichten gegebenenfalls hinreichend wirksam sind, um den sozialen Frieden wiederherzustellen,[103] sondern auch im Verhältnis zum Ordnungswidrigkeitenrecht, das zwar kein aliud zu einer Straftat ist, aber doch eine leichtere Deliktsart mit geringem Unrechts- und Schuldgehalt darstellt.[104] Die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur ist demgegenüber weniger strikt und gesteht dem Gesetzgeber eine Entscheidungsprärogative im Blick auf die „Wahl zwischen mehreren potentiell geeigneten Wegen zur Erreichung eines Gesetzesziels“ zu.[105] Zwar zieht das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Erforderlichkeitsmaßstab regelmäßig auch einen Vergleich zu anderen, nichtstrafrechtlichen Schutzinstrumenten und Schutzkonzepten.[106] Gleichwohl soll das Strafrecht kein subsidiäres Mittel sein, das erst zur Anwendung kommen dürfe, wenn Maßnahmen des übrigen Rechts versagten.[107] Damit relativiert das Bundesverfassungsgericht den ultima ratio-Gedanken und überlässt ihn weitgehend dem Feld der Kriminalpolitik.[108] Lediglich in (umgekehrten) Fällen, in denen es um den Schutz grundlegender Verfassungsrechtsgüter geht, stellt das Gericht klar, dass es aufgrund des verfassungsrechtlichen Untermaßverbotes nicht ohne weiteres möglich sein soll, auf das Strafrecht und die davon ausgehenden Schutzwirkungen zu verzichten. Der Kernbereich sozialethischer Vorwerfbarkeit, insbesondere beim elementaren Rechtsgüterschutz, müsse dem Strafrecht vorbehalten bleiben.[109] Deshalb würde der Gesetzgeber etwa durch die Herabstufung der fahrlässigen Tötung zur bloßen Ordnungswidrigkeit gegen seine Schutzpflicht für das menschliche Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und das daraus folgende Untermaßverbot verstoßen.[110]

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Während dem Gesetzgeber auf den Ebenen der Geeignetheit und Erforderlichkeit von Strafgesetzen mithin eine nicht unerhebliche Einschätzungsprärogative zusteht, die nur begrenzt justiziabel ist,[111] nimmt das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfang zu prüfen.[112] Die verfassungsrechtliche Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) verlange, dass bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein müsse.[113] Darüber hinaus müssten die Schwere einer Tat und das Verschulden des Täters zu der Strafe zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen.[114] Insgesamt müssen Straftatbestand und Rechtsfolge also sachgerecht aufeinander abgestimmt sein und das Übermaßverbot wahren, das einen engen Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip aufweist.[115] In Anbetracht dessen stehen sich – entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts[116] – strafrechtliche Rechtsgutslehre[117] und Verfassungsrecht jedenfalls auf der Ebene der Angemessenheitsprüfung nicht von vornherein unversöhnlich gegenüber.[118]

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Auf einer zweiten Stufe ist jede strafrechtliche Einzelmaßnahme anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen. Nicht zuletzt im Sinne einer Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als ausgleichendes und individualisierendes Moment bei der richterlichen Entscheidung erforderlich.[119] Dies spiegelt auch das einfache Recht wider, etwa in §§ 62, 74f Abs. 1 StGB, §§ 112 Abs. 1 S. 2, 163b Abs. 2 S. 2 StPO. Insbesondere bei Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen ist das Übermaßverbot strikt zu beachten.[120] Beispielsweise ist die Ungehorsamshaft gegen den ausbleibenden Angeklagten (§ 230 Abs. 2 StPO) unverhältnismäßig, wenn die Erwartung gerechtfertigt ist, dass er zum angesetzten Termin erscheinen wird.[121] Bei Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft muss eine detaillierte Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Inhaftierten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit vorgenommen werden,[122] wobei mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrößert.[123] Auch die Sicherungsverwahrung und die Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz unterliegen strikten Verhältnismäßigkeitsanforderungen, insbesondere im Blick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die gefährdeten Rechtsgüter.[124]

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