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VIII. Beschleunigungsgebot

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Das Gebot effektiven Rechtsschutzes enthält implizit auch die Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.[217] Dabei ist die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen.[218] Die Pflicht zu Beschleunigung leitet das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, sondern unmittelbar aus den Freiheitsgrundrechten[219] oder – unter Rückgriff auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der die Angemessenheit der Frist sogar ausdrücklich statuiert – dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip her.[220] Speziell für Haftsachen ist die Beschleunigungspflicht in Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG verankert; §§ 163 Abs. 2, 229 Abs. 1, 2 StPO greifen dieses verfassungsrechtliche Gebot auf der einfachgesetzlichen Ebene auf. Auch weitere Einzelvorschriften der StPO dienen der Verfahrensbeschleunigung (z.B. §§ 115, 121 f., 128 f., 228 f. StPO). Im Strafprozess besteht im Allgemeinen ein erhebliches Interesse an einer raschen Strafrechtspflege, da sie in Grundrechte des Beschuldigten empfindlich eingreift und die Güte der Beweismittel, vor allem die Erinnerungskraft der Zeugen, im Laufe der Zeit abnimmt.[221] Ferner steht das Beschleunigungsgebot im öffentlichen Interesse an zügiger Wiederherstellung des Rechtsfriedens.[222]

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Die Rechtsfolgen einer durch Verfahrensverzögerung veranlassten überlangen Verfahrensdauer waren über lange Zeit umstritten. So führte nach der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Verfahrensverzögerung nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern war lediglich bei der Strafzumessung oder einem späteren Gnadenerweis zu berücksichtigen.[223] Diese Judikatur fand im Grundsatz die Billigung des Bundesverfassungsgerichts.[224] Lediglich in Extremfällen komme von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis in Betracht.[225] Demgegenüber sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar eine Strafmilderung als prinzipiell adäquates Mittel als Reaktion auf überlange Verfahren an,[226] hielt es jedoch für unzureichend, wenn der Betroffene bei Verletzung des Beschleunigungsgebotes nur in den Genuss eines besonderen Strafmilderungsgrundes komme.[227] Die Konventionsstaaten seien aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 13 EMRK außerdem verpflichtet, eine Rechtsbehelfsgarantie zur Beschleunigung des Verfahrens und zur Sicherung fristgerechter Gerichtsentscheidungen bereitzuhalten.[228] Deshalb forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland mehrfach nachdrücklich dazu auf, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen.[229] Diese Mahnung nahm der Große Senat für Strafsachen zum Anlass, die bisherige Strafzumessungslösung durch eine Vollstreckungslösung zu ersetzen, die für den Fall der vom Staat zu vertretenden Verfahrensverzögerung vom Tatrichter verlangt, zum Zwecke der Kompensation der hierin liegenden Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK einen numerisch bestimmten Teil der verhängten Strafe für verbüßt zu erklären.[230] Daneben seien in außergewöhnlichen Fällen auch Verfahrenshindernisse als Folge überlanger Verfahrensdauer in Betracht zu ziehen.[231] Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die mittlerweile in alle Prozessordnungen eingeführte kompensatorische Verzögerungsrüge[232] prinzipiell als sinnvollen und wirksamen Rechtsbehelf ansieht,[233] unterstreicht er in seiner jüngsten Judikatur erneut, dass es in Verfahren, in denen sich die Untätigkeit von Behörden oder Gerichten auf das Privatleben des Betroffenen auswirke, eines Rechtsbehelfs bedürfe, der verfahrensbeschleunigende Wirkungen entfalte.[234]

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Für ablehnende Gnadenentscheidungen soll Art. 19 Abs. 4 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gelten, da das Begnadigungsrecht gemäß Art. 60 Abs. 2 GG lediglich eine Befugnis begründe, dort helfend und korrigierend einzugreifen, wo die Möglichkeiten des formalisierten Gerichtsverfahrens nicht genügten.[235] Demgegenüber betonen Teile des Schrifttums, dass eine Gnadenentscheidung nicht von der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen sei, da Art. 19 Abs. 4 GG auf alle Hoheitsakte exekutiver Natur Anwendung finde.[236] Allerdings beschränke sich die gerichtliche Kontrolle von Gnadenentscheidungen auf eine Verfahrens- und Willkürprüfung.[237]

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › C. Justizgrundrechte als besondere verfassungsrechtliche Einzelgarantien

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