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Kapitel 10

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Wieder ging etwas Zeit ins Land und bis zum Frühjahr 2011 sollte ich aus Andreas Mund nichts mehr über jene Wesen aus Silizium, Zeta Reticuli oder das kosmische Netz und Transportmedium XY hören. Das lag allerdings weniger daran, dass mein Freund sein Interesse an dieser Sache verloren hätte. Eher das Gegenteil war der Fall. Weil er voll und ganz in seinem, ich musste es mittlerweile einfach so bezeichnen, Lebenstraum aufging, machte der gute, alte Hillmann sich äußerst rar.

Das änderte sich an einem regnerischen Nachmittag kurz nach Ostern, als er mich anrief und fragte, ob ich nicht Lust verspüre, auf ein paar Bierchen bei ihm daheim aufzuschlagen und ich könne, sofern es mir beliebe, gerne Michael mitbringen.

Seine Stimme klang fröhlich, so dass es keinen Grund zur Beunruhigung gab.

Michael weilte im Urlaub und so machte ich mich alleine auf den Weg, nachdem Sara mir versichert hatte, dass es kein Problem sei, wenn sie diesen Abend alleine mit Marlene daheim verbrächte.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht empfing Andreas meine Person an der Tür und führte mich in sein Wohnzimmer, das noch immer genauso aussah wie vor fast zehn Jahren.

Sofort fielen mir die zahlreichen Kataloge diverser Spezialfirmen für Laborartikel auf, welche sich in dem gesamten Raum, ja in der gesamten Wohnung verteilten. Weiterhin lagen überall handschriftliche Notizen herum. Bei einem Blick auf all die zahllosen Zettel wurde von mir bemerkt, dass es sich hauptsächlich um Tabellen handelte, auf deren linker Seite lateinische Buchstaben und arabische Zahlen standen und rechts davon sehr seltsame, zumeist wellenförmige Zeichen.

Ich forderte ihn freundlich auf, mir doch bitte das Chaos hier zu erklären; einer Bitte, der Andreas selbstverständlich umgehend nachkam. Andreas, der einen zerknitterten, grauen Trainingsanzug trug, griff nach einem Klemmbrett, das auf einem ganzen Berg frisch gewaschener, ungefalteter Wäsche lag. Ich musste grinsen. Denn so lagerte mein alter Freund seine Klamotten; zuerst in die Waschmaschine, dann ab auf die Leine, endlich in einer Ecke der Wohnung einfach auftürmen und bei Bedarf überstreifen.

„Ich beherrsche die Sprache, in der die Botschaft von Zeta Reticuli verfasst ist. Die ich mit meinem gesamten Körper zu empfangen pflege.“, sprudelte er los. „Ich habe erste Übersetzungen bereits fertig, mein Freund! Fertig! Die ganzen Papiere, die du hier siehst, skizzieren förmlich meinen Weg hin zur Beherrschung dieser Sprache. Und hier auf dem Klemmbrett habe ich diesen ganzen Prozess noch einmal zusammengefasst. Zunächst dachte ich, bei dieser Sprache habe es sich um Worte aus einem Morsealphabet gehandelt. Aber das stimmt so nicht. Diese Sprache besteht aus einer Form von elektromagnetischen Wellen, wenn ich das mal so formulieren darf. Nur dass es da nicht nur Wellen gibt, sondern auch Linien, wenn ich das mal etwas visuell beschreiben darf. Hier siehst du sie.“

Er zeigte mir ein Blatt, einen schlichten, weißen Bogen Bürokopierpapier, der mit blauer Tinte beschrieben war. Ich sah Wellen in diversen Größen und mit unterschiedlichen Scheitelpunkten, unterbrochen von kurzen und langen Strichen oder Punkten.

Dann blätterte er weiter und nun fiel mein Fokus auf zweispaltige Tabellen, welche ebenfalls handschriftlich erstellt worden waren. Links befanden sich die bereits bekannten Wellen, Punkte und Striche, die sich immer in Kombination untereinander befanden, und rechts davon wurden ihnen lateinische Buchstaben sowie die arabischen Zahlen von Null bis Neun zugeordnet. Sogar die Umlaute hatte Andreas einzeln erfasst.

„Trara! Ich präsentiere die Übersetzung des Alphabetes und der Zahlen der Silici. Und natürlich habe ich auch oder, um es genauer zu formulieren, bin ich noch dabei, ein Wörterbuch zu verfassen. Und ein Reader zur Grammatik darf selbstverständlich auch nicht fehlen. Aber das ist zum größten Teil am PC geschehen. Hier schau mal!“

Strammen Schrittes steuerte er auf einen seiner MACs zu, die überall in den bewohnten Teilen seiner vier Wände herumstanden und selbstverständlich miteinander vernetzt waren, und klemmte sich hinter die Bluetooth Tastatur auf dem Schreibtisch. Über den hochauflösenden Flachbildschirm zogen kurze Zeit später in weißer Schrift auf blauem Grunde Wörter, Zahlen, Wellen, Punkte und Linien, die im Halbdunkel dieses Raumes ein dumpfes Licht- und Schattenspiel auf unsere Gesichter warfen.

Andreas musste von A bis Z bereits tausende von Wörtern zunächst in dieser angeblich fremden Sprache erstellt und dann übersetzt haben.

„Meine Güte!“, entwich es mir in einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung. „Du hast in den paar Monaten das Alles auf die Beine gestellt. Wahnsinn! Der totale Wahnsinn!“

Die Frage ist nur, wie definierst du hier das Wort Wahnsinn, mein Freund der Sonne! Andreas balanciert, wie er das auf den Linien der Gehwegplatten tut, über einen schmalen Grat!

Ich führte die Flasche Herforder Pils an meinen Mund, um einen genüsslichen Schluck von dem kühlen Bier zu nehmen.

„Och, das war eigentlich alles nur halb so wild, kein Problem. Ich habe ein Computerprogramm geschrieben, welches mich beim Erfassen der Wörter, dem Übersetzen und Erlernen der silicischen Grammatik unterstützt. Die Kombination aus menschlichem Gehirn und Computerprogramm funktioniert prima, wie du sehen kannst. Aber natürlich greife ich manchmal bei meiner Arbeit eben auch auf Papier und Füller zurück. Besonders zu Beginn einer neuen Aufgabe stehen Stift und Bogen. Das gibt mir irgendwie das Gefühl, den Silici, die hier mit mir kommunizieren, besonders nahe zu sein. Und zu guter Letzt habe ich es bei meinem Job an der Uni langsamer angehen lassen in letzter Zeit. Etwas sehr viel langsamer.“

Hillmann lachte kurz auf. Es handelte sich um ein klares, herzliches Lachen voller Freude und Lebenslust.

Du solltest ihm vorsichtig sagen, dass er vielleicht dabei ist, sich hier ein wenig in einer Sache zu verrennen und dass es an der Uni genügend junge Doktoranden und Promovierte gibt, die es nicht wegen einer fixen Idee langsam angehen lassen. Nicht, dass Andi diesen Job dort bräuchte, aber er liebt es doch, Forscher zu sein!

„Und was erzählen dir diese Silici so?“

„Oh! Sie teilen mir zunächst Baupläne und Formeln mit. Wissenschaftliche Anleitungen, um etwas zu konstruieren, was ich bislang einfach noch nicht ermessen kann. Aber die Botschaft, die sich stetig wiederholt, ist ja noch ellenlang. Lediglich einen Bruchteil davon habe ich übersetzt. Es gibt also noch viel zu tun. Ich werde in Zukunft es wohl noch häufiger langsamer angehen lassen müssen an der Uni.“

Wieder lachte er voller Zufriedenheit und sein Lachen hallte von den Wänden seines Wohnzimmers wider, während ich mich in einem Sessel niederließ, immer noch derselbe, auf den ich vor so vielen Jahren schon gesessen hatte.

Du musst ganz dringend ernsthaft mit ihm reden! Schließlich bist du sein bester Freund! Er verrennt sich mehr, als ich dachte, in dieser Sache! Immer mehr und mehr!

„Ich sehe schon, du stehst voll hinter deiner Idee. Wirklich sehr interessant, das muss ich zugeben. Aber sag`, was sollen die Kataloge hier?", kam es stattdessen aus meinem Mund und ich schämte mich gar ein wenig meiner Unehrlichkeit wegen.

„Ich werde mir ein Labor einrichten, ein absolutes High End Labor in jedweder Hinsicht. Vom Reagenzglas über die Apparaturen bis hin zu den Computern und der IT. So was hat die Welt noch nicht gesehen, mein Freund. Es wird mir helfen, meine Forschungen zügig voranzubringen.", sprudelte Andreas.

„Du willst dir hier ein Labor einrichten? Um diese Baupläne nachzubauen?"

Andreas sah mich an, als hätte ich soeben voller Ernsthaftigkeit die These aufgestellt, dass der Mond aus grünem Käse bestünde.

„Hier doch nicht!", antwortete er beinahe entsetzt klingend. „Ich bin auf der Suche nach einer Gewerbeimmobilie in der Gegend. Ein Labor hier in diesem Hause würde viel zu viel Aufsehen erregen. Alleine die ganzen Bestellungen und Anlieferungen. Und Aufsehen will ich in jedem Fall vermeiden, mein Bester. Denn es verhält sich wie mit beinahe jeder bedeutenden Forschung. In den falschen Händen kann es schnell zur Katastrophe kommen. Denn ich weiß ja noch nicht, was man mit diesen Apparaturen machen kann. Es wird wie immer im Leben sein; Gutes und Schlechtes, zwei Seiten einer Medaille!"

Etwa zwei Stunden später befand ich mich auf dem Heimweg und musste den Kragen meines Mantels gegen die noch kalte Nachtluft dieses Frühjahrs nach oben schlagen.

Während ich die Strecke zwischen Andreas Wohnung und meiner Bleibe mit dem Fahrrad zurücklegte, gingen viele Gedanken kreuz und quer durch meinen Kopf.

Da gab es zum ersten Mal die Ahnung, mein guter Freund könne in Gefahr laufen, den Verstand zu verlieren.

All das klingt schon extrem schräg, besonders wenn eine Person ein Vermögen in die Hand nimmt, um ein Labor zur Erforschung dieser Lebensformen und seiner Botschaften auf die Beine zu stellen. Nein, nicht nur das. Er will sogar Dinge nachbauen, die diese Wesen ihn über einen der Welt unbekannten Kommunikationsweg vermittelt haben; dem großen Netz des Kosmos mit seinem Medium des Transportes XY! Dafür hat er Monate mit Übersetzungen und so weiter verbracht!

Andererseits verkörpert Herr Andreas Hillmann einen brillanten Wissenschaftler, der mit Ende dreißig bereits doppelt promoviert ist, und der von den Naturwissenschaften sicherlich mehr weiß als 95 Prozent der Menschen auf dieser Welt zusammengenommen.

Wie viele Pioniere der Wissenschaft und die großen Entdecker wurden zu Anfang wegen ihrer Ideen verlacht und für verrückt befunden?

Wie bei so vielen genialen Menschen der Wissenschaft wandelt eben auch mein guter Freund Andreas auf einem recht schmalen Grat.

„Andreas ist klug genug, zu wissen was er tut.“, sprach ich es leise gegen den kühlen Fahrtwind an. „Egal, ob bei seinen Sachen was rumkommt oder ob es am Ende nur der große Satz mit X ist. Freund Hillmanns Leben wird schon nicht aus den Fugen geraten. Und Existenzangst braucht er sich auch keine zu machen. Der doch nicht! Alles ist gut!“

Obgleich diese Worte wieder und wieder von mir ausgesprochen wurden, gelang es nicht, mich selbst tatsächlich davon zu überzeugen, dass alles gut sei.

An einer Szenerie von an den Bordsteinen parkender PKWs, die sich gleich einer Schlange aus Blech aneinanderreihten, und an der schier ununterbrochenen Fassade der hohen Häuser mit den zumeist dunklen Fenstern radelte ich vorbei und in Richtung Heimat, während ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen rumorte. Die weißlich-gelb scheinenden Straßenlaternen ließen mein Trekkingrad durch ein Meer aus dumpfem Licht und gräulich–schwarzen Schatten gleiten.

Die Geburt eines finsteren Universums

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