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Kapitel 6

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Die Zeit, liebe Leserinnen und Leser, ist schon eine sehr komische Angelegenheit.

Als Kind kommt sie einem unendlich zähflüssig und lang vor. Erinnern Sie sich doch mal, wie qualvoll die Lebensjahre zwischen vierzehn und achtzehn waren, bis man endlich leben durfte, wie man es für richtig befand.

Später, bei mir setzte es ungefähr mit Mitte zwanzig ein, nimmt die Zeit langsam Fahrt auf und ab dreißig zieht sie mit der Geschwindigkeit einer Raumsonde dahin.

Wie mag es erst sein, wenn ich sechzig bin?

Jedenfalls raste die Zeit und Veränderungen traten ein.

Ich lernte eine nette Frau kennen und schloss mein Studium ab, worauf ich einen Job als Archivar im Bielefelder Stadtarchiv fand. Da auch Michael eine feste, vernünftige Beziehung fand, waren die Tage der Studenten–Musiker–Party-WG gezählt und das Leben wurde im Alter von zweiunddreißig Jahren bedeutend ruhiger.

Andreas beendete sein Informatikstudium mit einem glatten Sehr Gut und schob direkt eine Doktorarbeit hinterher, die er so ganz neben seinem Hauptberuf als Physik-Dozent schrieb.

In der Promotion ging es um DNA–Computer und ich verstand nicht mal die ersten zwei Sätze aus der Einleitung. Auch konnte ich Andreas Erörterungen kaum folgen, obgleich er sich die größte Mühe des narrativen Erklärens gab und ich mich ebenfalls im Besitz eines akademischen Grades befand. Es ging wohl um Computer, die als Speicher- und Verarbeitungsmedium auf DNA (Desoxyribonukleinsäure) oder RNA (Ribonukleinsäure) zurückgriffen. Mehr vermochte mein Geist nicht verstehen und ich sagte mir einfach, dass ich das als Nichtinformatiker und Nichtnaturwissenschaftler auch nicht verstehen müsse.

Andreas lebte weiter in der großen Eigentumswohnung in der Nähe des Adenauer Platzes unterhalb der Sparrenburg mit der nicht existenten Küche und den spärlich eingerichteten Zimmern. Die einzigen Gegenstände, in welche er zu investieren schien, waren seine Rechner von Apple, die sich jeweils auf dem Topstand der vorhandenen Technik befanden.

Gelegentlich gingen wir zu dritt, Andreas, Michael und ich, in die Studentenkneipen der Stadt und verbrachten dort stets recht angenehme Stunden, während wir die jungen Menschen betrachteten, die die spaßigen Jahre gerade durchlebten, welche hinter mir lagen.

Im Jahre 2008, genau drei Tage nach dem verlorenen Endspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz, erfuhren meine Freundin Sara und ich, dass wir Eltern würden.

Sara, eine gebürtige Spanierin, die seit dem Sportstudium in Ostwestfalen lebte, freute sich noch ein klein wenig mehr, als ich das tat, war es doch ihre Mannschaft gewesen, die Deutschland im Finale im Wiener Ernst Happel–Stadion klar mit 1:0 besiegt hatte.

Spontan riefen wir ein paar Freunde zusammen, um den Moment des Augenblickes zu feiern.

Wir erlebten einen wundervollen Abend und Sara, jetzt bereits die umsichtige Schwangere, nippte nur einmal ganz kurz an ihrem Glas Champagner. Das, was Sara nicht trank, übernahmen die übrigen Fünf. Nora, eine 27jährige Fitnesskauffrau, erzählte locker fünfundzwanzig Mal, wie sehr sie sich als Jugendliche über den Bademeister des Freibades in ihrem Heimatdorf aufgeregt habe. Immer, wenn sie über diesen fetten Mann berichtete, gackerte sie gleich eines dreizehnjährigen Mädels. Michael bediente den PC, der mit unserer Stereoanlage gekoppelt war, und spielte via YouTube eine klassische Rock–Hymne nach der anderen, während Dilek nicht zu beteuern aufhören konnte, dass sie ihrer ersten Liebe aus der achten Schulklasse auch heute noch hinterhertrauere. Sara saß grinsend in ihrem Lieblingssessel und dachte sich wahrscheinlich, was wir doch alles für betrunkene Figuren sein.

Gegen zwei Uhr morgens löste sich die Versammlung auf und Andreas, der die meiste Zeit stillschweigend die Musik genossen hatte, nahm uns an der Wohnungstür bei Seite.

„Ich weiß, dass die Welt da draußen nicht die beste ist. Kriege, Raubtierkapitalismus, immer mehr Egoismus, soziale Kälte, Verblödungsfernsehen und so weiter. Das nimmt ja immer weiter zu. Ich wünschte, ich könnte sie für euer Kind besser machen. Irgendwie. Denn ich gönne euch zwei Hübschen so sehr von ganzem Herzen, dass euer Kind in eine Welt hineinwächst, die nicht von Gier, Neid, Gewalt und Oberflächlichkeit bestimmt wird. Aber, was mich optimistisch stimmt, ist, dass ihr eure Kleine oder euren Kleinen sicherlich nicht zu so einem emotionalen Krüppel erzieht, von denen so viele dort draußen herumlaufen und dafür sorgen, dass es mit dieser Welt, die doch eigentlich so schön ist, und mit den Menschen, die doch von Natur aus eigentlich lieb sind, immer weiter bergab geht. Wären alle Eltern so wie ihr zwei, müsste ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, wie man endlich eine bessere Welt erschaffen kann. Ich habe euch echt lieb.“

Er nahm sowohl meine bessere Hälfte als auch mich in den Arm und drückte uns für eine Weile, bevor er ähnlich einem Soldaten kehrtmachte, und den Flur in Richtung Treppenhaus entlangstapfte, wo Michael bereits auf ihn wartete.

Sara und ich schauten uns an und zogen synchron die Schultern hoch. Unser aller Freund Andreas Hillmann war doch immer wieder für eine neue Überraschung gut.

Die Geburt eines finsteren Universums

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