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KUNST UND GELD
Оглавление„Der Künstler beherrschte die Epoche; alle Rang- und Standesunterschiede durchbrechend, trat er, wenn ihn der Erfolg beglaubigte, mit einem Schlage aus dem Nichts ins All“, schwärmte Raoul Auernheimer über das Wien der Jahrhundertwende.223 Das Wiener Fin de Siècle ist berühmt für sein heute Millionenwerte repräsentierendes Kunstschaffen. Doch keiner der Kulturschaffenden, der Maler, Architekten, Designer oder auch Literaten konnte in den Einkommensolymp von mehr als 100.000 vorstoßen. Nur in der leichten Muse war das möglich. 1910 hatte Wien die weltweite Führung im Operettenschaffen übernommen. Fast über Nacht waren die drei bekanntesten Komponisten der silbernen Operette zu Millionären geworden: Franz Lehár, Leo Fall und Oscar Straus. 1910 standen sie am Höhepunkt ihres Erfolgs. Die Lustige Witwe, Der Fidele Bauer und Ein Walzertraum wurden die meistgespielten Operetten nicht nur ihrer Zeit. Auch der routinierteste Librettoschreiber der Zeit, Victor Léon, schnitt mit ihnen mit. 1910 versteuerte Leo Fall 121.810 Kronen, Oskar Straus 186.365, Franz Lehár 193.187 und ihr Librettist Viktor Léon 108.305 Kronen.
Leo Fall war 1907 bis 1908 mit drei Operetten, dem Fidelen Bauern, der Dollarprinzessin und der Geschiedenen Frau innerhalb kürzester Zeit zum weltweit bekannten Erfolgskomponisten geworden. 1910 war er auf den drei wichtigsten Wiener Operettenbühnen mit drei Uraufführungen (Puppenmädel, Die schöne Risette und Die Sirene) präsent, was außer ihm nur Franz Lehár mit Fürstenkind, Graf von Luxemburg und Zigeunerliebe in der vorhergehenden Spielzeit gelungen war. Victor Léon schrieb nach dem Sensationserfolg des Fidelen Bauern: „Fall‘s Brieftasche ist zu klein. Kauft sich große. Geht fortwährend mit von Banknoten geschwellter Brust herum.“224 Die Dollarprinzessin machte Leo Fall reich. Mit dem plötzlichen Reichtum wurde die „Villa Dollarprinzessin“ in der Lainzerstraße erworben und fürstlich ausgestattet. „Fall, der in seinem Äußeren eher wie ein Börsenspekulant als ein Künstler“225 wirkte, verstand vom Geschäft recht wenig. Er war ein Verschwender. Der haushälterisch veranlagte Franz Lehár warnte ihn. So wie Oscar Straus dem Glückspiel und den Pokerkarten verfallen war, wo er immer wieder beträchtliche Summen verlor, gaben Fall und seine Frau das Geld in vollen Zügen aus: z. B. 78.350 Kronen im Dezember 1910 für ein Perlencollier vom Juwelier Moritz Kraus oder einige zehntausend für den Renault-Wagen. 48.709,80 Mark kostete die noble Inneneinrichtung der neu erworbenen Villa, 50.586 Kronen hatten die Umbaukosten betragen.226 Der Krieg wirkte sich auf die Einnahmen des Komponisten sehr nachteilig aus. Leo Falls Finanzlage wurde immer bedrohlicher, der „60-HP-Wagen“ der Fa. Benz, die Schulden beim Tischler, die Hypothek auf dem Haus … Im Dezember 1918 schrieb ihm das Steueramt Hietzing eine Kriegsgewinn- und Einkommenssteuer in Höhe von 135.000 Kronen vor …227 Doch das Ehepaar lebte weiter weit über die Verhältnisse. Leo Falls früher Krebstod beendete alle Chancen. Die Villa musste verkauft werden. 1934 beging Falls Witwe, 53-jährig, völlig verarmt, Selbstmord.
Franz Lehárs musikalische Karriere als Orchestermusiker und Kapellmeister hatte über Barmen-Elberfeld, Pola, Triest und Budapest nach Wien geführt. Schon mit seinen beiden Erstlingswerken Wiener Frauen und Der Rastelbinder galt er als der kommende Mann der Operette. Mit dem Welterfolg der Lustigen Witwe (1905) setzte er sich endgültig an die Spitze der damaligen Operettenkomponisten. Franz Lehárs Erstlingswerke waren von Josef Weinberger, dem Nestor der Wiener Musikverleger, betreut worden. Weinberger habe den Aussagen Lehárs zufolge für den Rastelbinder 2.000 Kronen bezahlt und 160.000 Kronen daran verdient. 1904 hatte Lehár daher das Verlagsrecht für seine nächsten Operetten der Fa. Doblinger überlassen.228 Der dritte der Könige der Silbernen Operette, Oscar Straus, Sohn des jüdischen Bankiers Leopold Straus, trat um die Jahrhundertwende mit mehreren Operetten hervor. Am bekanntesten und finanziell erfolgreichsten wurde Ein Walzertraum von 1907. Straus deklarierte ein deutlich höheres Einkommen als Fall, was wohl mit seiner deutlich reicheren Herkunft und einem ererbten Vermögen zu erklären sein dürfte. Sein Umgang mit Geld dürfte allerdings dem von Fall recht ähnlich gewesen sein.
Gab sein Geld in vollen Zügen aus. Komponist Leo Fall.
Viktor Léon wirkte mit seinen Operettenlibrettos an den Erfolgen mit: Im Jahre 1897 war ihm mit dem Textbuch zu Richard Heubergers Musikstück Der Opernball der Durchbruch gelungen. Wirklich gut verdiente er mit Wiener Blut und der Lustigen Witwe. Insgesamt verfasste er die Libretti für 75 Operetten. Die Tantiemen wurden mit den Komponisten meist eins zu eins geteilt. In zahlreichen Fällen erhielt er als Librettist sogar mehr als der Komponist, etwa beim Fidelen Bauern, wo 55 Prozent auf Léon und 45 Prozent auf Fall entfielen. Auch wenn die Texte noch so banal anmuten mögen, trugen sie doch maßgeblich zu den Bühnenerfolgen bei. Doch ein Teil der Einkünfte Léons könnte auch aus Kapitalerträgen gestammt haben. Léon hatte zwar keine Vermögen geerbt. Aber er hatte reich geheiratet.
Ein anderer Komponist der leichten Muse, Gustav Pick, der durch das Fiakerlied schlagartig bekannt geworden war – die Schrammeln formten es zur heimlichen Hymne Wiens –, eilte sein ganzes Leben vergeblich dem großen finanziellen Erfolg hinterher. Arthur Schnitzler schrieb, Pick habe sich noch als Achtziger, nicht zu Unrecht, immer wieder bitter beklagt, dass er keinerlei Tantiemen für seine Schöpfung, hingegen der geschickte Verleger Hunderttausende daran verdient habe.229 Am 10. 11. 1907 notierte Schnitzler in sein Tagebuch: „Gustav Pick, jetzt 75 … der alte Mann, der nun Carrière machen und Geld verdienen will!“ und am 12. 6. 1918: „Gustav Pick kommt, der 86jährige – immer noch auf der Suche nach einem, der seine ,Operette‘ theaterfertig macht.“ Pick war aber durchaus wohlhabend. Er war mit einer Tochter Salomon Weikersheims verheiratet. In Wien wechselte er oft die Anschrift und führte ein großes Haus, etwa in der Kantgasse 2 mit großem Marmorsaal und türkischem Zimmer. Einflussreiche Leute verkehrten dort. Schnitzler beschrieb Pick als „im ganzen sehr aristokratisch und dazu ein ganz klein wenig wie ein jüdischer Patriarch“. Er nahm ihn als das Urbild des alten Eissler in Der Weg ins Freie.
„Der fidele Bauer“: Librettist Viktor Léon erhielt mehr Tantiemen als Komponist Leo Fall.
Ernste Musik konnte da nicht mithalten. Man kann nur von Komponisten berichten, die ihrem finanziellen Erfolg hinterherliefen. Arnold Schönberg war, um über die Runden zu kommen, auf wohlhabende Mäzene und Mäzeninnen angewiesen. Auch Hugo Wolf brauchte Geldgeber. Nicht auf Sponsoren angewiesen war Gustav Mahler. Er verdiente als Operndirektor in Wien etwa 28.000 Kronen im Jahr. Wie viel aus Tantiemen für seine Kompositionen und aus Sonderverträgen noch dazukam, ist ungewiss. 1907 hatte er genervt die Operndirektion für ein Engagement in New York aufgegeben, gelockt durch das höchste Gehalt, das die Metropolitan Opera jemals einem Dirigenten zahlte, 15.000 $ oder 75.000 Kronen, mehr als das Doppelte dessen, was Mahler in Wien erhalten hatte. Als er 1910 nach Europa zurückkehrte, war er bereits todkrank.
Mehr als doppelt so viel wie Lehár, Straus oder Fall verdiente der größte Musikverleger und Musikalienhändler Wiens, Bernhard Herzmansky. Er versteuerte 1910 ein Einkommen von 436.055 Kronen. 1876 hatte er die Musikalienhandlung Ludwig Doblinger um 24.000 fl. oder 48.000 Kronen gekauft. 1911 kaufte er das gesamte Palais. In seinem Programm hatte er nicht nur die bekanntesten Operetten und Wiener Lieder, sondern auch Anton Bruckner, Gustav Mahler, Karl Goldmark oder Alexander Zemlinsky.
Maler sind nicht unter den Millionären, weder Gustav Klimt, der „teuerste“ Maler der Zeit, noch Carl Moll, der kommerziell umtriebigste, oder Kolo Moser, verheiratet mit der vermögenden Industriellentochter Ditha Mautner-Markhof. Nur der heute weitgehend vergessene akademische Maler und Erfinder der Heliogravüre, des Rakeltiefdrucks und der nach ihm benannten „Klicotypie“ Karl Klietsch war mit seinen Vervielfältigungstechniken reich geworden. Mit einem Jahreseinkommen von 140.800 Kronen lag er an 521. Stelle des Rankings von 1910. Dass Gustav Klimt, der für seine Bilder Rekordpreise erzielte, nicht unter den Millionären ist, mag vielleicht erstaunen.230 Am Höhepunkt seines Ruhms konnte er für Landschaften 6.000 bis 8.000 Kronen verlangen, für Porträts zwischen 5.000 und 10.000 Kronen. Hermann Bahr erwarb 1900 Klimts „Nuda Veritas“ um 4.000 Kronen, die er in Raten abstotterte. 10.000 Kronen kostete das großformatige Bild von Hermine Wittgenstein, 8.000 Kronen bezahlte Karl Wittgenstein 1908 bei der Galerie Miethke für Wasserschlangen I, und ebenfalls im Jahr 1908 zahlte das Niederösterreichische Landesmuseum 12.000 Kronen für das Porträt Emilie Flöge. Für eine Zeichnung erhielt Klimt 1910 etwa 300 Kronen.231
Schon in seiner Frühzeit war Klimt teuer. 1894 waren bei ihm und Franz Matsch die Deckenbilder für den Festsaal der Wiener Universität in Auftrag gegeben worden: Das Honorar, 60.000 fl, davon 20.000 für das Mittelbild, je 5.000 für jedes der vier weiteren Deckenbilder und 20.000 für die zwölf Zwickelfelder, war sehr ordentlich. 1905 kaufte Klimt, der lang dauernden Auseinandersetzungen um die Fakultätsbilder (Philosophie, Medizin, Jurisprudenz) müde, seinen Teil der Bilder um 60.000 Kronen zurück. Das war für Klimt zwar eine empfindliche finanzielle Einbuße, aber er hatte sein künstlerisches Selbstbewusstsein gerettet. Klimt habe sein ganzes Vermögen geopfert, zumal er jahrelang alle Privataufträge zurückgestellt habe, und sei nun bettelarm, schrieb Berta Zuckerkandl.232 August Lederer, der durch die Jungbunzlauer Spiritusraffinerie und den Handel mit Spiritus und Melasse auf ein Einkommen von 114.000 Kronen kam, und Kolo Moser, der durch seine Heirat mit Ditha Mautner Markhof über ein stattliches, wenn auch nicht millionärsreifes Vermögen verfügte, hatten den Deal vorfinanziert. Klimts „Kuss“, der Höhepunkt der Kunstschau 1908, wurde vom Unterrichtsministerium sofort um die stolze Summe von 25.000 Kronen angekauft, „Danae“ wurde um 8.000 Kronen an Eduard Ast verkauft, die Mohnwiese um 5.000 Kronen an Viktor Zuckerkandl. Die Gesamtkosten für den Stoclet-Fries (1908 – 10) beliefen sich auf 117.000 Kronen, wovon über 60.000 Kronen für Klimt und Forstner reserviert waren.233
Egon Schiele beobachtete Klimts Umgang mit Geld: „Er verdiente viel, sehr viel, doch verausgabte er alles: ‚Das Geld muss rollen. Dann interessiert es mich‘, sagte er.“234 1917 feilschte Klimt mit Othmar Fritsch: „Das Bild ‚Schönbrunner Landschaft‘ kann ich leider nicht um 6.000 Kronen überlassen – muss bei 8.000 Kronen bleiben. Könnte noch ein zehn prozentiges ‚Cassenskonto‘ mir vorstellen und als Draufgabe 2, eventuell 3 Zeichnungen.“235 Er zählte damit zu den teuersten Malern Europas. Ähnlich exorbitante Honorare für Porträtaufträge konnten zur selben Zeit nur mehr Max Liebermann in Berlin oder John Singer Sargent in London verlangen.236 Im Jahr 1917 hatte Klimt Einkünfte aus Verkäufen in Höhe von 112.715 Kronen.237 Sehr reich starb Klimt dennoch nicht, angesichts dessen, was er für seine Bilder zeit seines Lebens verlangt hatte. Er hinterließ 1918 den durch die Inflation ohnehin schon etwas entwerteten Betrag von 60.000 Kronen. Als Schriftsteller oder Dichter Millionär zu werden, war noch schwieriger als als Komponist oder Maler.
Arthur Schnitzler, der um 1910 am Höhepunkt seines Erfolges stand und wie kein anderer die Wiener Gesellschaft zu analysieren und zu demaskieren verstand, schaffte die Grenze von 100.000 Kronen nie. Der finanzielle Erfolg spielt in seinen Tagebucheintragungen eine wesentliche Rolle. Am 24. Jänner 1903 notierte er: „Im vorigen Jahr Einkommen 32- Ausgaben über 35tausend Kr.- Das Vermögen, klein genug, schmilzt. Die Papiere fallen. Hab ich heuer und im nächsten Jahr nicht Glück, so hab ich überhaupt nichts mehr. Die Ausgaben für meine Verhältnisse übergroß. Mit einem Wort: es muss ernstlich ans, Verdienen‘ gedacht werden … “238 Im Jahr 1904 verzeichnete er Ausgaben von über 30.000 Kronen. Aber er war zufrieden: „Die Einnahmen decken sich mit den Ausgaben.“239 Am 22. September 1906 sagte er zu Bruder Julius und Mama: „Wir leben über unsere Verhältnisse. – Ich. Was würdet ihr dann an meiner Stelle thun? – Längst aufhängen.“240 Der Abschluss der Jahresrechnung 1906 zeigte ihm: „Haben die wahrhaft ungeheure Summe von über 39.000 Kronen verbraucht. Dabei eine überraschende Einnahme – die in der 2. Hälfte des Jahres allerdings schrecklich zurückging. Ich bin beinah gespannt, was kommen wird, um mich vor dem finanziellen Ruin zu retten.“241 Zwar wurde sein Einkommen von Jahr zu Jahr höher. Doch am 15. 4. 1907 resigniert er: „Gebe trotzdem langsam mein kleines, Vermögen‘ aus und werde, wenn nicht ein besonderer Glücksfall eintritt, zu Schuldenmachen gezwungen sein.“ 1910 ist er am Höhepunkt seines Erfolgs. Es ist so weit, dass er über einen Hauskauf nachdenken kann. Er kalkuliert scharf: „Ein Haus, das gegen 100.000 Kronen kostet, bedeutet über 6.000 Kronen Zins, über 40.000 Kronen unvermeidlichen jährlichen Verbrauch – Was thun?“242 Am 7. 4. 1910 kaufte er das Haus in der Sternwartestraße um 95.000 Kronen: „Die Hälfte leiht mein Bruder, die andre die Sparcasse … “243 Dr. Pollak war von dem Haus entzückt; er schätzte es auf 200.000 Kronen.244 Am 4. 1. 1910 schreibt Schnitzler ins Tagebuch: „Weiteres Rechnen und Ordnen, etwa 10.000 Kronen mehr ausgegeben als eingenommen. Wohin?“ und am 2. 1. 1913: „1912 abgeschlossen. Größre Einnahmen und Ausgaben als je.“ Am 4. 1. 1915 macht er die Bilanz für 1914: „Ausgaben – etwa 90.000! – Ein Defizit von ca. 25.000. Halt!“ und am 31. 3. 1915: „Einnahmen 1. Quartal – 1289 – Ausgaben 11.426; voriges Jahr 1. Quartal 30.369! Ausgaben 23.479! … Wenn nicht ein Wunder kommt, sind meine Ersparnisse (da ja die Papiere sich immer tiefer entwerthen) in 4 – 5 Jahren aufgezehrt, – die Einnahmemöglichkeiten kaum gestiegen – die Ausgaben gewiss nicht gesunken – was dann?“ Krieg und Inflation zerstörten sein Vermögen. Er verdiente auch in der Hyperinflation nicht schlecht und lebte gut. Aber ein Leben wie bei den wirklich Reichen war undenkbar.
Millionär war Siegfried Trebitsch, der als Übersetzer von Bernhard Shaw bekannt geblieben ist und als Beruf Schriftsteller angab. Er verdankte jedoch einen mehr oder weniger großen Teil seines Einkommens wohl nicht der Literatur, sondern seinen Anteilen an der familieneigenen Seidenmanufaktur S. Trebitsch & Sohn. Mit dem Einkommen aus Buchhonoraren, Übersetzungstantiemen, der reichen Erbschaft und dem Vermögen der Gattin, einer geborenen von Keindl, konnte sich das kinderlose Ehepaar Siegfried und Antonia (Tina) Trebitsch einen aufwendigen Lebensstil leisten. Sein so unsäglicher, als früher Förderer Hitlers bekannter Halbbruder Arthur Trebitsch schaffte den Sprung über die 100.000er Grenze zwar nicht. Aber auch er hatte Anteile am ererbten Vermögen und pumpte, um sich wie sein älterer Halbbruder als Schriftsteller zu beweisen, viel Geld in seine Veröffentlichungen. Ein 1909 vollendeter Roman und ein 1910 fertiggestellter Band philosophischer Betrachtungen fanden keine Verleger. War es die schriftstellerische Unterlegenheit gegenüber seinem gefeierten und viel erfolgreicheren älteren Bruder, war es der Einfluss Weiningers oder das allgemeine antisemitische Klima, von dem er sich treiben ließ? Arthur Trebitsch trat jedenfalls 1909 aus dem Judentum aus und wurde zum fanatischen Judenhasser. „Ich bin kein Jude, ich war nie einer und werde nie einer sein“, war nunmehr sein Standardsatz. Er gründete auf eigene Kosten einen Verlag, den er nach dem Riesen Antaios aus der griechischen Sagenwelt benannte. Gegen seinen Halbbruder und gegen den Kritiker Ferdinand Gregori, die eine seiner Novellen als „dilettantisch“ bzw. als „Schmarrn und Mist“ abqualifiziert hatten, reagierte Trebitsch 1912 nicht nur mit mehreren Duellforderungen, sondern auch mit einem Gerichtsverfahren, das er natürlich verlor. Mit seinem bedeutenden Einkommen gehörte er 1920 zu Hitlers ersten finanziellen Förderern.245
Felix Salten wurde nie Millionär. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und strebte immer nach Reichtum: „Er möchte“, notierte Schnitzler in sein Tagebuch, „in zehn Jahren mit Operetten 800.000 Kronen haben, hofft es.“246 Er schaffte es nicht, trotz seiner Erfolge in vielen Genres, von Bambi bis zur Mutzenbacherin. Auch Hugo von Hofmannsthal wird seiner Herkunft wegen häufig den Millionären zugerechnet. Seine Familie war aber schon nach dem Börsenkrach von 1873 relativ verarmt. Wohl aber zählten die Väter von Stefan Zweig, von Hermann Broch und von Heimito von Doderer zu den Superreichen des Jahres 1910. Im Jahr 1907 hatte Stefan Zweig aus dem Erbe seiner Großmutter 40.000 Kronen erhalten. Aus der Fabrik seines Vaters, der 1910 etwa 170.000 Kronen Einkommen deklarierte, bezog er eine jährliche Rente von etwa 20.000 Kronen.247 1911 zahlte ihm Moriz Zweig stattdessen 400.000 Kronen aus. Auch der ältere Bruder Alfred wurde im Testament seines Vaters mit einem entsprechenden Anteil berücksichtigt. 1917 kaufte Stefan Zweig in Salzburg um 90.000 Kronen das kleine Schloss am Kapuzinerberg mit 8.000 m2 Grund, das beste Geschäft, das er angesichts der damals hereinbrechenden Hyperinflation hatte machen können.
Schaffte es nicht unter die reichsten Tausend: Schauspiel-Legende Alexander Girardi, hier im Sommer 1910 in Bad Ischl mit Sohn Anton (links), Leontine Girardi und Ludwig Bösendorfer. Foto: F. Hofer.
Hermann Brochs Vater war doppelt so einkommensstark wie der von Stefan Zweig. Von 1906 bis 1926 betätigte sich Hermann Broch, der später als Literat zu einem der bedeutendsten Romanautoren des 20. Jahrhunderts wurde, als Assistenzdirektor (bzw. Geschäftsführer) in der von seinem Vater erworbenen Fabrik. 1909 konvertierte er zum römisch-katholischen Glauben und heiratete Franziska von Rothermann, die Tochter des Besitzers der Hirmer Zuckerfabrik im heutigen Burgenland. Sie brachte eine Mitgift von 100.000 Kronen ein. Der Vater Josef Broch hielt wenig von der Verbindung mit den „nobilitierten Neu-Ungarn aus Norddeutschland“. Hermann Broch lebte um 1910 wie ein Dandy: etwa 50 Anzüge im Kasten, im Sommer weiße und gelbe aus Leinen- und Seide, im Winter nur schwarzes Tuch, die Schuhe von den besten Schuhmachern Wiens, Reiten und Fechten, eigener Chauffeur, der ihn im Auto – einen Führerschein hat er nie erworben – zwischen Teesdorf und Wien chauffierte.248 Später, nach dem Krieg und nach seiner Wendung zur Schriftstellerei, wurde seine Situation jedoch immer ärmlicher.
Auch Oscar Straus stand 1910 am Höhepunkt seines Erfolgs.
Schauspieler waren die gefeierten Götter der Zeit: Josef Kainz, Alexander Girardi, Adolf von Sonnenthal. Die Spitzenkräfte in Schauspiel und Oper konnten es auf etwa 50.000 Kronen jährlich bringen.249 In die Hunderttausender Ränge schafften es 1910 nur zwei: Selma Kurz-Halban und Leo Slezak, und dies offenbar aus den Zusatzeinkünften aus den ersten Plattenaufnahmen, die damals modern geworden waren. In ihren Gagenverhandlungen mit der Hofoper und deren Direktor Gustav Mahler 1907 wurde Selma Kurz-Halban von Dr. Harpner vertreten. Für die Jahre 1908 bis 1914 wurde ein Gesamtjahresbezug von 52.000 Kronen vereinbart, aufgeteilt in eine Gage von 18.000 Kronen und eine Funktionszulage von 34.000 Kronen mit einem dreimonatigen Sommerurlaub bei vollen Bezügen, nach den Worten des Gustav Mahler nachfolgenden Operndirektors Felix Weingartner ein Vertrag mit grandiosen Bedingungen.250
Die in der Literatur kolportierten Angaben über Schauspielereinkommen sind recht widersprüchlich und schlecht belegt. Der 1910 verstorbene Josef Kainz soll einer nicht näher angeführten Quelle zufolge am Höhepunkt seines Ruhms eine halbe Million Kronen jährlich verdient haben, was recht unwahrscheinlich klingt.251 1910 war Alexander Girardi für ein zweimonatiges Gastspiel im Ronacher engagiert, wo er das Fiakerlied sang, wofür er angeblich 70.000 Kronen Gage erhielt.252 Seine Steuererklärung überstieg jedoch nicht die 100.000er-Grenze. Hansi Niese bekam im Ronacher 1908 eine Monatsgage von 15.000 Kronen. Die mit 12.000 Kronen im Jahr pensionierte Burgschauspielerin Katharina Schratt war 1910 hingegen wohl nicht wegen ihrer schauspielerischen Einkünfte auf ein Einkommen von 102.137 Kronen gekommen, sondern wegen ihrer Rolle als Vertraute des Kaisers, was ihr offensichtlich entsprechend hohe Zuwendungen einbrachte, die sie auch versteuerte. Vom Kaiser erhielt die Schauspielerin, die neben ihrem großzügigen Lebensstil auch eine leidenschaftliche Spielerin war, immer wieder finanzielle Unterstützung, um ihre enormen Schulden tilgen zu können. Außerdem überhäufte der Kaiser sie mit wertvollem Schmuck. Jedenfalls hatte der Kaiser gut für sie gesorgt. An Immobilien besaß sie die Villa in der Gloriettegasse und ein dreistöckiges Palais am Kärntner Ring 4, vis-à-vis der Oper, das sie 1908 erworben hatte.253
Keiner der Direktoren der großen Theater schaffte es unter die Millionäre, weder in der Hofoper und im Burgtheater noch im Deutschem Volkstheater oder Renaissancetheater. Auch als Theaterdirektor musste man auf Seiten der leichten Muse stehen, um wirklich gut zu verdienen. Bernard Ben Tiber (auch Tieber) leitete das 1904 neu eröffnete Wiener Apollo-Theater (heute Apollo Kino). Er machte es in den folgenden Jahren zum beliebtesten Varietétheater Wiens, das seinen größten Konkurrenten, das Etablissement Ronacher, nicht zuletzt durch die Spezialisierung auf „Nuditäten“ überholen konnte. Aus dem Gewinn der ersten Spielzeit konnte sich Tiber, der vorerst bloß Pächter war, bereits 1905 in nur einem Jahr das ganze Theater samt dem Haus an der Ecke Gumpendorferstraße/Kaunitzgasse kaufen.254 Ben Tiber war ein Emporkömmling. „Seine besten Jahre soll er als Boxer und Ringer verbracht haben“, beschreibt ihn Rudolf Österreicher in der Festschrift zum 50-jährigen Bestand des Apollotheaters. 1910 betrug sein Einkommen 318.103 Kronen. Am 17. August 1911 erwarb er die Otto-Wagner-Villa in der Hüttelbergstraße 26 und bewohnte diese bis zu seinem Tod. Tiber lebte dort mit seinen beiden Adoptivkindern Arnold und Marie (Mimi) und seiner Schwester, Frau Regine Engelmann. Heimito von Doderer porträtierte ihn im Roman Der Grenzwald als jüdisch-ungarischen Varietébesitzer Bela Tiborski.255
Ben Tibers größter Konkurrent war das Ronacher: Von September 1909 bis Juni 1912 hatte Gabor Steiner dort die Direktion inne. Er änderte dessen Ausrichtung zu Ausstattungsrevuen und Operetten. Unter den Spitzenverdienern war er nicht. Mit seinem „Venedig in Wien“ baute er vielmehr horrende Verluste. Karl Kollinsky als einer der Teilhaber des Etablissement Ronacher hingegen versteuerte 1910 ein Einkommen von 108.000 Kronen.256 Über sein Leben ist kaum etwas bekannt. 1925 scheint er in Lehmanns Adressbuch noch als Vergnügungsetablissementbesitzer auf, 1926 nur mehr als Kaffeehausbesitzer, 1927 überhaupt nicht mehr. Im Meldezettel steht zuletzt: „Cafetier, ‚Firma Collini & Rebsamer’, evangelisch Augsburger Bekenntnisses.“ In der NS-Zeit wurde dazu der Vermerk angebracht: „Abstammung: J“. Dennoch blieb er den ganzen Krieg über in Wien gemeldet. Er starb am 20. Dezember 1953.
Auch der Bankier Julius Schwarz (Strisower & Schwarz), Einkommen 1910 : 102.650 Kronen, investierte in Theater: Der in seinem Auftrag von seinem Schwiegersohn, dem Architekten und Zionisten Oskar Marmorek, errichtete Nestroyhof in Wien-Leopoldstadt mit den 1899 eröffneten Nestroy-Sälen umfasste auch ein Wirtshaus, eine Bierhalle, ein Restaurant, eine Tanzbar und einen Theatersaal, in welchem berühmte Erstaufführungen (Wedekind, Gorki, Strindberg etc.) stattfanden.257