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6/21 ― Das Spukschloss

Edith beendete ihren Mittagsschlaf um halb drei, trank einen Kaffee und spazierte danach missmutig durchs Dorf. Hier gefiel ihr gar nichts. Es gab keine Modegeschäfte und die Straßen waren fast menschenleer. Das halbe Dorf war zum Landsitz der Baronin gepilgert, denn die Nachricht von dem Unglück hatte sich in dem kleinen Ort in Windeseile herumgesprochen. Edith beschloss, auch dorthin zu gehen. An der Dorfkirche begegnete ihr der Wirt des Postillion.

„Wohin wollen Sie denn?“, fragte er Edith.

„Zum abgebrannten Landsitz der Baronin. Wollen Sie nicht mitkommen?“

„Ach nein“, sagte der Wirt. „Was gibt es an einer rauchenden Ruine schon zu sehen?“

„Wohin führt denn diese schöne Allee, aus der Sie gerade kommen?“

„Zum alten Schloss, einer hässlichen schwarzen Ruine in einem verwilderten Park.“

„Waren sie gerade dort?“ fragte Edith neugierig.

„Nein, ich habe nur einen Verdauungsspaziergang durch die Felder gemacht.“

„Ich würde gern das Schloss sehen. Würden Sie es mir zeigen?“, fragte Edith charmant lächelnd.

„Das wird nicht möglich sein, weil das Parktor immer verschlossen ist. Außerdem soll es dort spuken“, sagte der Wirt.

Edith lachte: „Ach, wie interessant. Jetzt möchte ich erst recht dorthin ‒ wenigstens bis zum Parktor. Sie können ja mitkommen und mich beschützen.“

„Einverstanden, ich beschütze Sie.“

„Dann sollten Sie "Edith" zu mir sagen.“

„Bruce“, sagte der Wirt und reichte Edith seine Pranke.

„Oh, Bruce, du bist ein richtiger Mann, groß und stark, bei dir fürchte ich mich vor gar nichts!“, säuselte Edith und Bruce grinste.

Nach wenigen Minuten waren sie am Parktor. Edith drückte auf die Türklinke. Das Tor öffnete sich.

„Es ist offen!“, rief sie übermütig und bat Bruce mit einer einladenden Geste einzutreten.

Aber der zögerte: „Und wenn jemand das Tor hinter uns abschließt?“

„Dann klettern wir eben über die Parkmauer“, wischte Edith die Bedenken des Gastwirts hinweg.

Auf der dunklen Allee schmiegte sich Edith an ihren neuen Freund.

„An der Ruine gibt es eigentlich nichts zu sehen und der Garten hinter dem Schloss ist total verwildert“, sagte Bruce.

„Ich möchte trotzdem dort hin“, beharrte Edith.

„Dann sollten wir um das Schloss herum gehen“, schlug Bruce vor.

„Warum ‒ weil es dort spukt? Hat der starke Bruce etwa Angst?“, fragte Edith keck.

„Ach was“, entgegnete der, „ich möchte bloß nicht, dass dir in dem morschen Gemäuer ein Stein auf dein hübsches Köpfchen fällt.“

„So morsch sieht das Gemäuer gar nicht aus“, meinte Edith, als sie das Schloss erreichten. „Also ich gehe jetzt da durch. Du kannst ja außenrum gehen, dann treffen wir uns hinter dem Schloss im Garten wieder.“

Forsch marschierte Edith über die Katzenbuckelbrücke des Schlossgrabens.

„Warte, warte, ich komme mit!“, rief Bruce und eilte ihr nach. „Ich kann dich doch nicht allein durch ein Spukschloss gehen lassen!“

Edith lächelte ihn an und gab ihm einen Kuss. Sie befanden sich jetzt im Schlosshof.

„Das muss hier einmal herrlich gewesen sein!“, rief Edith begeistert. „Das müsste man restaurieren ‒ und dann hier leben, mit einem Mann wie dir!“

„Du bist schon verheiratet“, erinnerte sie Bruce.

„Tja, manchmal macht man eben Fehler“, seufzte Edith.

Nach dem Abitur hatte sie, wie ihre damalige Schulfreundin, ein Romanistikstudium begonnen. Ihre Freundin hatte nach dem zehnten Semester einen promovierten Juristen geheiratet. Edith hatte noch zwei Semester länger ohne besonderen Eifer vor sich hin studiert und dann, wohl auch in Torschlusspanik, den Finanzbeamten Robert geheiratet.

Sie näherten sich der Freitreppe vor der Empfangshalle. Bruce nahm Edith auf seine starken Arme und trug sie die Treppe hinauf in den Saal. Edith hielt seinen Hals umschlungen und quietschte vor Vergnügen. In dem Kamin, in dem der schwarze Pier seine Suppe gekocht hatte, glommen noch ein paar Holzscheite. Bruce trug Edith, die in die entgegengesetzte Richtung schaute, schnell durch die Halle in den Garten. Der alte Barockgarten war verwildert und die streng geometrische Anordnung seiner Beete kaum noch erkennbar. Ein großer Teich glitzerte im Sonnenlicht. Schattenspendende Bäume umgaben ihn und an seinem Ufer wuchsen Seerosen.

„Wunderschön! Lass uns zum See gehen“, schlug Edith vor.

„Willst du etwa in dem schmutzigen Wasser schwimmen?“, fragte Bruce besorgt.

„Ich kann gar nicht schwimmen!“, rief Edith, die schon ein Stückchen vorausgelaufen war. „Ich möchte im Schatten der Bäume am See ausruhen, weil es dort so schön ist!“

Dagegen hatte Bruce nichts einzuwenden. Sie lagerten sich unter einer Trauerweide.

„Bist du glücklich mit deiner Yvonne?“, fragte Edith unvermittelt.

„Ach, was heißt glücklich? Wir haben jung geheiratet und leben eben schon lange zusammen.“

Edith rückte nah an Bruce heran. „Und es gab nie andere Frauen für dich ‒ so zwischendurch?“

„Nein, natürlich nicht, niemals!“, grinste Bruce.

Edith lachte: „Das klingt nicht überzeugend! ‒ Und Yvonne, ist sie dir treu?“

„Ja, ganz sicher“, antwortete Bruce prompt und fragte seinerseits: „Und du, bist du deinem Mann treu?“

„Er glaubt es zumindest!“

„Und dein Mann, ist er dir treu?“

„Oh ja, der ist mir verfallen und frisst mir aus der Hand.“

Sie lachten beide, küssten sich leidenschaftlich und entledigten sie sich ihrer Kleidung.

„Oh, du bist verwundet!“, Edith deutete auf ein blutiges Tuch am rechten Unterarm ihres Geliebten.

„Nicht schlimm, nur ein kleiner Kratzer. Hab' mich an einem Zaunnagel geritzt.“

„Das ist sogar sehr schlimm!“, widersprach Edith mit besorgtem Doktorblick. „Das kann eine Blutvergiftung geben! Du musst damit zum Arzt!“

„Mach dir keine Sorgen!“, lachte Bruce. „Ich bin gegen Tetanus geimpft.“

Er nahm Edith in seine Arme und erstickte alle weiteren Einwendungen mit einem langen Kuss, der Edith in den sprichwörtlichen siebten Himmel beförderte, wo der Verstand aussetzt und alle weiteren Handlungen nur von Gefühlen gesteuert werden. ‒ Ein anschließendes Bad im See, bei dem Bruce darauf achtete, dass sich Edith ganz nah am Ufer hielt, sorgte dann für Abkühlung.

„Ach, wären wir uns doch schon früher begegnet!“, seufzte Edith.

„Zu schade, dass ich mich nicht von Robert scheiden lassen kann, weil ich dann nicht mehr Baronin wäre und kein Schloss mehr hätte!“

„Robert ist gar kein Problem. Der wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen, weil er seine Großmutter umgebracht hat“, meinte Bruce.

„Robert hat seine Großmutter nicht umgebracht“, widersprach Edith.

„Die Polizei glaubt, dass er den Landsitz angezündet hat“, sagte Bruce trocken.

„Aber er war nur ein paar Minuten in dem Gutshaus. Kann man in so kurzer Zeit einen so verheerenden Brand legen?“, fragte Edith zweifelnd.

„Sicher kann man das ‒ mit Petroleum aus alten Lampen, zum Beispiel. ‒ Wenn du bei der Polizei die "richtigen" Aussagen machst, bist du deinen Mann bald los.“

Das Portrait der Toten

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