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11/21 ― Chapitre I


Der Brief

Endlich frei! Baron Henry de Brandt atmete auf, als die Kutsche durch das Hoftor über die kleine steinerne Katzenbuckelbrücke ratterte, die den Wassergraben vor seinem Schloss überspannte. Schon lange hatte er diesen Samstag, den 11. Juli des Jahres 1789, herbeigesehnt und in der vergangenen Nacht vor Aufregung kaum schlafen können. Noch während des gemeinsamen Frühstücks mit seiner Gemahlin Baronin Elfi und seiner hübschen, blonden Tochter Regine hatte er anspannen und seine Koffer verladen lassen. Hastig hatte er sich von Gattin und Tochter verabschiedet, seinen eleganten Reisemantel übergeworfen, den Spazierstock, in dessen Innerem eine Degenklinge verborgen war, ergriffen und die Kutsche bestiegen. Die Sonne kündigte einen schönen Tag an. In der Nacht hatte es geregnet und die Straßen waren noch feucht, so dass die Pferde keinen Staub aufwirbelten. Die Kutsche verließ den Park, der das Schloss von dem kleinen Ort Q. trennte und fuhr dann mitten durchs Dorf. Als sie an dem einzigen Gasthof, der den Namen Zum Postillion trug, weil er auch als Poststation diente, vorbei kamen, verzog der Baron verächtlich den Mund. Der Gasthof gehörte Charles Maison, einem rebellischen Sechzigjährigen, der sich als Dorfschulze aufspielte und alle Unzufriedenen um sich scharte. Aus der gegenüberliegenden Schmiede hörte man rhythmisches Hämmern. Der Schmied hatte immer zu tun. Wenn er nicht die Postpferde oder die Ackergäule beschlagen musste, war er mit der Reparatur von landwirtschaftlichen Geräten beschäftigt. Auch aus der Schreinerei, ein paar Häuser weiter, waren Arbeitsgeräusche zu hören. Ansonsten war es ruhig und die Straßen menschenleer, denn die Bauern waren auf den Feldern und ihre Frauen und Kinder bei der Arbeit in Haus und Stall. Die Kutsche hatte den Dorfausgang erreicht und bog in die Landstraße nach Paris ein.

Der Baron zog einen Brief, den er schon vor einer Woche erhalten hatte, aus seiner Brusttasche und hielt ihn unter das Kutschenfenster. Obwohl er ihn schon kannte, wollte er ihn noch einmal lesen.


Verehrter Herr Baron, lieber Onkel,

leider muß ich Euch die traurige Mitteilung machen, daß meine liebe Mutter, Eure Schwester Louise, am 20ten Juni an der Schwindsucht verschieden ist.

Der Tod hat sie im Schlaf ereilt und war, wie der Arzt meinte, völlig schmerzfrei.

Aufgrund der Bestattungsvorschriften mußte ihre Beisetzung binnen drei Tagen erfolgen.


Bitte vergebt mir, wenn ich Euch erst heute benachrichtige, aber ich war dazu in meiner tieftraurigen Gemütsverfassung einfach nicht eher in der Lage ‒ und es waren auch so viele Dinge zu regeln.

Ach, wenn Ihr wüßtet, wie schwer es mir fällt, diesen Brief zu schreiben.

Ich kann Euch versichern, daß Eure Schwester bis zu ihrem letzten Atemzug an Euch gedacht hat und sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als ihren geliebten Bruder noch einmal wiederzusehen.


Leider habt Ihr Eurer Schwester diesen letzten Wunsch nicht erfüllt, obwohl ich Euch doch dringend um diesen kleinen Liebesdienst in meinem Eilbrief vom 1. Juni gebeten hatte.


Ach verzeiht mir, lieber Onkel, ich will Euch keinen Vorwurf machen, es ist nur der Trauerschmerz, der mich so schreiben läßt. Vielleicht hielten Euch dringende Geschäfte davon ab, an das Sterbebett Eurer lieben Schwester zu eilen oder Ihr habt meinen Brief gar nicht erhalten ‒ die Post ist ja so unzuverlässig!


Lieber Onkel, ich möchte Euch hiermit erneut bitten, nach Paris zu kommen, damit wir gemeinsam unserer lieben Verstorbenen gedenken und unsere Freundschaft, die vor fast zwei Jahren am

10.Oktober 1787 begonnen hat, vertiefen können.


Leider ist meine finanzielle Situation etwas angespann.

Ihr müßt wissen, daß der Erlöß aus dem Verkauf unserer Baumwollplantage in Louisiana aufgebraucht ist.

Eure liebe Schwester verstand nicht viel vom Sparen, dafür aber um so mehr vom Geldausgeben. Die Livres rannen ihr nur so durch die Finger. Frau Mama war sehr freigiebig. Jeden Abend hatten wir Gäste und der Wein floß in Strömen. - Nun, wenigstens hatte Mutter ein turbulentes, lustiges Leben im Kreise ihrer Künstler-, Philosophen-, Bankiers- und Aristokraten-freunde.

Leider haben die Gläubiger unsere schöne Villa am Place du Trône gepfändet und mich in ein sehr bescheidenes Häuschen in der Rue Morgue verbannt. Dort befindet sich auch mein Atelier. Ich bin nämlich Kunstmaler und wenn Ihr mich mit Eurem Besuch beehrt, werde ich Euch gern portraitieren.


Im Angedenken an unsere geliebte Verstorbene verbleibt mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen,


Euer Nephe Julien (Paris, 1. Juli 1789)


Baron Henry de Brandt rief sich den 10. Oktober 1787 ins Gedächtnis. An jenem warmen Tag hatte er lesend in einem bequemen Fauteuil gesessen, als ihm der Hausdiener die Ankunft seiner Schwester, Louise de Beau und ihres blonden Sohnes Julien aus Louisiana meldete.

Während die Diener noch die Kutsche entluden und das Gepäck ins Schloss brachten, empfing der Baron zusammen mit seiner Gemahlin Elfi und seiner siebzehnjährigen Tochter Regine die amerikanischen Verwandten in der Eingangshalle mit gekühltem Champagner.

Danach gingen die Gäste auf ihre Zimmer, um sich umzukleiden. Anschließend traf man sich frisch gepudert und parfümiert in der Empfangshalle und begab sich in den Garten, wo in einem Pavillon am See Obst, gekühlte Limonade und Leckereien gereicht wurden, während es Regine kaum erwarten konnte, ihren schönen gleichaltrigen Cousin durch den Garten und das Schloss zu führen.


Julien war in Nouvelle-Orleans in Amerika aufgewachsen und hatte noch nie einen Barockgarten gesehen. Diese symmetrische Anlage mit ihren kegel- und kugelig geschnittenen Bäumchen und eckigen Hecken machte auf ihn einen lächerlichen Eindruck. Er hatte das Gefühl, sich in einer künstlichen Welt der Geometrie zu befinden. Das Schloss mit seiner repräsentativen Fassade, den großen Fenstern und der imposanten Freitreppe gefiel ihm jedoch sehr gut. Aber als Regine ihn in ihr persönliches Zimmer führen wollte, erklärte Julien genervt, er habe fast zwei Monate auf einem kleinen Schiff verbringen und danach noch eine zehntägige Fahrt in einer engen Kutsche von Bordeaux nach Q. mit neun Übernachtungen in schmutzigen Herbergen über sich ergehen lassen müssen und sehne sich deshalb nach Bewegung in frischer Luft.

Sie gingen also in den Garten und lustwandelten durch die weinbewachsenen, schattigen Laubengänge. Dabei berichtete Julien von seinen Erlebnissen auf der langen Seereise ‒ nicht jedoch von den furchtbaren Ereignissen in Louisiana, die ihn noch immer bis in seine Träume verfolgten.

Das Portrait der Toten

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