Читать книгу Das Portrait der Toten - Ronald Fuchs - Страница 12

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8/21 ― Der Kelch

Am nächsten Morgen ging Kommissar Simenon in Begleitung des Pfarrers zur Schlossruine. Der Pfarrer wunderte sich sehr darüber, dass der schwarze Pier nicht mehr da war. In der Empfangshalle ließ sich Simenon genau berichten, wie die gestrige Begegnung verlaufen war.

„Robert de Brandt stand also hier in der Halle mit einem Knüppel und der schwarze Pier dort oben auf der Treppe mit einem Beil in der Hand“, resümierte der Kommissar. „Was geschah dann?“

„Ich bat Robert, den Knüppel wegzulegen“, sagte der Pfarrer.

„Wohin hat er ihn gelegt?“

„Er hat ihn dort fallen lassen.“ Der Pfarrer zeigte auf die Stelle.

Simenon sah sich um: „Wo ist der Knüppel jetzt?“

„Pier wird ihn wohl als Brennholz verwendet haben“, meinte der Pfarrer und deutete auf den Kamin.

Nachdem er sich in der Halle gründlich umgeschaut hatte, ging Simenon in den Schlossgarten. Dort sah er die Fußspuren, die Bruce und Edith in der weichen Erde hinterlassen hatten.

„Haben Sie schon einen Tatverdächtigen?“, fragte der Pfarrer den Kommissar auf dem Rückweg.

„Mindestens schon zwei, wenn ich Sie nicht mitrechne!“

„Mich mitrechnen ‒ das ist doch wohl nicht ihr Ernst!“

Der Pfarrer war entrüstet stehengeblieben.

„Wieso nicht?“, fragte Simenon grinsend.

„Na hören Sie mal, das fragen Sie noch? ‒ Ich bin der Pfarrer, ein Mann der Kirche, ein gläubiger Diener Gottes, unseres Herrn, der auch Ihr Schöpfer ist!“

Simenon amüsierte sich über den erregten Gottesmann und provozierte munter weiter: „Auch unter Geistlichen soll es hin und wieder schwarze Schafe geben.“

„Das ist leider wahr ‒ aber ich bin ein weißes! Zu der Baronin hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Sie kam zwar nie in unsere Kirche, aber sie hat des öfteren größere Geldbeträge für die Armen unserer Gemeinde, zur Renovierung der Schule und für die Dorffeuerwehr gespendet. Die ist übrigens ganz zerknirscht, weil sie nicht helfen konnte.“

„Ja, ja, die Feuerwehr kommt leider meistens zu spät“, bedauerte der Kommissar.

„Wie die Polizei!“, sagte der Pfarrer spitz.

Simenon schmunzelte: „Schließen wir Frieden?“

„Nur, wenn Sie mich nicht mehr verdächtigen!“

„Einverstanden. ‒ Was glauben Sie, wo der schwarze Pier jetzt sein könnte?“

„Ich weiß es nicht, er ist ein Vagabund.“

„Er hat ihnen doch gestern den Abendmahlskelch zurückgegeben. Da könnten seine Fingerabdrücke drauf sein.“

„Ja sicher ‒ aber glauben Sie mir, Herr Kommissar, der schwarze Pier ist vollkommen harmlos.“

„Hat er Sie gestern im Schloss nicht mit einem Beil in der Hand empfangen?“

„Nur, weil er vor Robert de Brandt Angst hatte!“

„Also Pier hatte Angst vor Robert und Robert hatte Angst vor Pier und beide waren bewaffnet“, überlegte Simenon. „Die Frage ist: warum hatten die beiden Angst voreinander? Nur, weil jeweils der andere eine Waffe in der Hand hielt? Oder hatte der eine den anderen bei dem Verbrechen beobachtet? Oder verdächtigten sie sich nur gegenseitig?“

„Warum sollte Pier Feuer legen? Der Butler war sein Vater. Er hat ihm immer Geld gegeben“, sagte der Pfarrer.

„Vielleicht hat Pier diesmal kein Geld von seinem Vater bekommen oder es war ihm zu wenig und es kam zum Streit und Pier hat erst seinen Vater und anschließend die Baronin mit seinem Beil erschlagen und dann das Feuer gelegt, um die Tat zu vertuschen.“

„Die beiden wurden erschlagen? Ich dachte sie sind verbrannt!“, wunderte sich der Pfarrer.

„Erst erschlagen und dann verbrannt“, klärte ihn Simenon auf.

„Pier hat das nicht getan, sonst hätte er sich doch sofort aus dem Staube gemacht, anstatt sich häuslich im Schloss niederzulassen“, sagte der Pfarrer mit fester Überzeugung.

„Als Sie sich von Pier verabschieden wollten, hat er gestikuliert. Was wollte er Ihnen wohl mitteilen?“

„Ich dachte, er wollte uns zum Essen einladen. Er hat immer abwechselnd auf Robert und dann auf den Kamin gezeigt, wo sein Essen in einem Topf über dem Feuer kochte.“

„Vielleicht meinte er gar nicht das Essen, sondern das Feuer. Vielleicht wollte der schwarze Pier Ihnen sagen, dass er Robert an dem Brandort gesehen hat.“

„Das würde auch Roberts Aussage von der kleinen Gestalt bestätigen“, stimmte der Pfarrer eifrig zu.

„Wenn Robert die Baronin und den Butler ermordet hat, wäre der schwarze Pier ein gefährlicher Zeuge für ihn“, überlegte der Kommissar.

„Warum sollte Robert seine Großmutter umbringen?“, fragte der Pfarrer aufgebracht.

„Die Aussicht auf eine reiche Erbschaft oder Hass wäre ein Motiv. Auch eine durch irgendetwas ausgelöste Affekthandlung wäre denkbar.“

„Ihre Theorien sind absurd! Weder Robert noch Pier sind Mörder!“, entschied der Pfarrer.

Sie waren bei der Dorfkirche angekommen. Noch ziemlich aufgebracht von ihrem Gespräch händigte der Pfarrer dem Kommissar den noch in Zeitungspapier eingewickelten Abendmahlskelch zur Untersuchung aus.


Am Montag brachte Robert seinen Wagen zum Schrottplatz, nachdem man in einer Autowerkstatt festgestellt hatte, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohnte.

Unterdessen vergnügte sich Edith mit Bruce auf ihrem Zimmer, während Yvonne mit einer Nachbarin beim Kaffeeplausch unten in der Wirtsstube saß.

Als Robert am Abend zurückkam, empfing ihn Kommissar Simenon im Postillion mit Handschellen. Die Polizei hatte nämlich nicht nur Piers Leiche aus dem Schlossteich, sondern auch den goldenen Siegelring der Baronin aus Roberts Jacke, die im Kleiderschrank hing, gefischt.

„Das ist ein Irrtum! Sie machen einen Fehler! Ich habe meine Großmutter nicht umgebracht!“, protestierte Robert, doch Simenon schob ihn an dem hämisch grinsenden Wirt vorbei ins Polizeiauto.


Um die Mittagszeit des nächsten Tages läutete der Kommissar beim Pfarrer. Die Haushälterin, eine rundliche, resolute Person öffnete die Tür.

„Unser Herr Pfarrer isst gerade zu Mittag“, sagte sie abweisend und erwartete offensichtlich eine Entschuldigung für die Störung.

„Das trifft sich gut“, antwortete Simenon stattdessen, „ich habe auch Hunger. Was gibt es denn?“

Sprachlos über so viel Unverfrorenheit ließ sie den Kommissar passieren.

„Sie haben den Falschen verhaftet!“, rief ihm der Pfarrer verärgert entgegen, als Simenon das Speisezimmer betrat.

„Ich weiß, ich weiß!“, beschwichtigte ihn der Kommissar. „Deshalb komme ich ja zu ihnen. Ich brauche Ihre Hilfe.“

„Ja, wenn das so ist, sind Sie herzlich willkommen!“, meinte der Pfarrer und deutete auf eine schöne, große Porzellanterrine auf dem Tisch: „Marie-Claire, meine Haushälterin hat einen köstlichen Eintopf mit frischem Gemüse und Kräutern gekocht. Den müssen Sie probieren!“

Der Pfarrer bediente den Kommissar eigenhändig und nahm dann den Gesprächsfaden wieder auf:

„Wenn Sie nicht glauben, dass Robert der Mörder ist, warum haben Sie ihn dann verhaftet?“

„Zu seinem eigenen Schutz und um den Täter in Sicherheit zu wiegen.“

„Ist Robert in Gefahr?“, fragte der Pfarrer besorgt.

„Der Mörder hat auf sehr plumpe Art und Weise versucht, meinen Verdacht auf Robert zu lenken, indem er den Siegelring der Baronin in Roberts Jackentasche gesteckt hat. Wir müssen damit rechnen, dass der Mörder auch Robert umbringt und diese Tat als Selbstmord aus Verzweiflung und Reue tarnt“, erklärte Simenon.

„Und wen haben sie nun als Mörder in Verdacht?“, wollte der Pfarrer wissen.

„Das sollen Sie mir sagen!“ Mit diesen Worten legte Simenon eine alte Zeitung auf den Tisch. „Dies ist die Zeitung, in die der Abendmahlskelch eingewickelt war. Und nun sehen Sie sich mal an, was ihr schwarzer Pier da draufgemalt hat!“

Der Pfarrer faltete die Zeitung auseinander. Die ganze zerknitterte Seite war mit einer Kohlezeichnung bedeckt. Auf der linken Bildhälfte war deutlich ein brennendes Haus zu sehen, vor dem ein Auto stand und auf der rechten sah man einen riesigen Radfahrer wegfahren, der einen Vollbart trug und ein Beil in der Hand hielt.

„Mein Gott, das ist ja Bruce Maison!“

„Das habe ich auch gedacht. Aber Vorsicht, dies ist nur eine Zeichnung und kein Photo! Die Ähnlichkeit kann purer Zufall sein“, mahnte der Kommissar. „Wie ich erfahren habe, hat Bruce Maison den Postillion von der Baronin gepachtet.“

„Das stimmt“, bestätigte der Pfarrer. „Schon sein Urgroßvater war Pächter des Wirtshauses. Aber zur Zeit der Revolution von 1789 war der Gasthof Eigentum seiner Familie!“

„Dann haben seine Vorfahren den Postillion wohl an die de Brandts verkauft“, vermutete Simenon.

„Nicht verkauft ‒ sie wurden von Napoleon quasi enteignet!“

„Von Napoleon enteignet? Wieso und warum?“, fragte der Kommissar verblüfft.

„Als Entschädigung, hat mir die Baronin einmal gesagt. ‒ Mehr weiß ich leider nicht“, sagte der Pfarrer bedauernd.

„Dann war das Verhältnis der beiden Familien wohl sehr angespannt“, vermutete der Kommissar.

„Früher vielleicht, aber ich habe davon nichts bemerkt. Nach so langer Zeit legt sich der Hass im allgemeinen.“

„Im allgemeinen“, wiederholte Simenon nachdenklich.

„Aus den Geschäftsunterlagen, die wir in dem eisernen Tresor gefunden haben, geht hervor, dass Bruce Maison Pachtschulden hat. Das wäre zwar ein Motiv, aber kein Beweis.“

„Haben Sie denn sonst keine Indizien gefunden?“

„Das Feuer und der Gewitterregen haben leider alle Fingerabdrücke und Fußspuren vernichtet. Nur das grausige Portrait weist eine interessante Spur auf ‒ den blutigen Abdruck eines Beils.“

„Dann müssen Sie nur noch das zugehörige Beil und seinen Besitzer finden und der Fall ist gelöst!“

„Vorausgesetzt, der Besitzer ist auch der Mörder“, dämpfte Simenon den Optimismus des Pfarrers, fragte aber sogleich: „Besitzt Bruce Maison ein Beil?“

„Ja, natürlich, jeder hier im Dorf hat eins ‒ ich auch“, bestätigte der Pfarrer. „Aber Bruce hat ein ganz besonderes Beil, ein altes Erbstück. Es ist eine uralte Streitaxt und hing früher in der Gaststube hinter dem Tresen an der Wand.“

„Wo könnte er sie jetzt aufbewahren?“, fragte Simenon.

Der Pfarrer zuckte die Schultern: „Fragen Sie ihn doch einfach.“

„Gerade das will ich nicht. Bruce würde misstrauisch werden und die Axt so gut verstecken, dass wir sie niemals finden.“

„Durchsuchen Sie doch seine Wohnung.“

„Dazu brauche ich einen Durchsuchungsbefehl, den ich aber wegen der zu schwachen Beweislage nicht bekommen werde. Ich muss Bruce dazu bringen, die Waffe selber zu holen.“

„Und wie wollen Sie das machen?“

„Morgen schicke ich einen Scherenschleifer ins Dorf. Ich hoffe, Bruce will seine Axt schleifen lassen.“

„Keine schlechte Idee,“ lobte der Pfarrer, „aber leider zu spät! ‒ Vor etwa drei Monaten war nämlich schon einer hier und hat alle Scheren, Messer, Beile und Äxte im Dorf geschliffen. Auch die Streitaxt von Bruce. Seitdem hängt sie nicht mehr im Schankraum.“

„Schade, dann muss mein zweiter Plan gelingen!“

„Was haben Sie vor?“

„Das verrate ich Ihnen lieber nicht. Beten Sie mal für einen guten Ausgang, dann sehen wir uns vielleicht morgen wieder.“ Damit verabschiedete sich Kommissar Simenon.

Das Portrait der Toten

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