Читать книгу Das Portrait der Toten - Ronald Fuchs - Страница 13

Оглавление

9/21 ― Das Pokerspiel

Auch in dieser Nacht konnte Bruce nicht einschlafen. Hatte er wirklich an alles gedacht? Waren wirklich alle Spuren verwischt? Er rief sich den vergangenen Sonnabend noch einmal ins Gedächtnis.

Normalerweise fuhr er sonnabends in die Stadt, um sich dort zu amüsieren, während Ivonne im Postillion hinter dem Tresen stand. Samstags kamen nur die Stammgäste. Die jüngeren Leute fuhren am Wochenende weg oder trafen sich bei Freunden. In der Stadt spielte Bruce den großen Herrn und war zu gewissen Damen des Nachtlebens reichlich spendabel. Als Yvonne ihm einmal wegen seiner hohen Ausgaben Vorwürfe machte, hatte er sie verprügelt. Seitdem sagte sie nichts mehr zu diesem Thema. Irgendwann geriet Bruce mit der Zahlung des Pachtzinses für den Postillion in Verzug. Die Baronin ermahnte ihn, zuerst telefonisch, dann schriftlich, dann durch ihren Anwalt mit der Androhung einer Klage und Kündigung des Pachtvertrages. Bruce versuchte, sie mit einer Lüge zu vertrösten. Er habe in Kürze einen hohen Gewinn aus einer Beteiligung an einer Goldmine in Kanada zu erwarten und versprach hoch und heilig, seine Schulden sofort nach Erhalt des Geldes zu begleichen. In der Zwischenzeit versuchte er es mit Lottospielen, blieb jedoch glücklos. Dann schloss er sich in der nahegelegenen Stadt einer Pokerrunde an. Am Anfang lief es ganz gut. Er machte immer wieder kleine Gewinne. Nach einiger Zeit fühlte er sich als Pokerprofi und glaubte, alle Tricks zu kennen. Seine Einsätze wurden höher, die Gewinne auch ‒ bis zu jenem Tag, als dieser smarte Typ in der Pokerrunde auftauchte. Bruce wollte an diesem Tag mal so richtig absahnen und hatte, um auch bei sehr hohen Einsätzen mithalten zu können, bei einem Geldverleiher einen hohen Kredit aufgenommen. Aber der Neue in der Pokerrunde war einfach besser. Bruce verlor alles. Jetzt hatte er nicht nur die Baronin am Hals, sondern auch noch den Kredithai ‒ und der war ungeduldig und völlig humorlos. Letzten Freitag war der Kerl mit zwei finsteren, muskelbepackten Gesellen im Postillion aufgekreuzt. Sie hatten sich ausgiebig bewirten lassen und schweigend gegessen. Zum Abschied hatte der Geldverleiher nur das Wort "Donnerstag" gesagt und mit seinen Gorillas ohne auch nur einen Franc zu zahlen das Lokal verlassen. Sie gaben ihm also nur noch sechs Tage Zeit, um seine Schulden zu tilgen.

Warum aber war er denn überhaupt in dieser schwierigen Lage? War es denn seine Schuld, dass die Geschäfte so schlecht liefen? Warum zogen denn die jungen Leute weg? ‒ Doch nur deshalb, weil ihnen ihre Eltern nicht genug Land hinterlassen konnten, denn das Land ringsum gehörte der Baronin und die verkaufte nichts, sondern ließ es lieber brach liegen. Und nur, weil die Alte auf ihrem vielen Geld saß, anstatt damit das Schloss wieder aufzubauen, kamen auch nur selten Touristen in dieses Dorf. ‒ Warum erlaubte die alte Hexe nicht wenigstens das Baden im Schlossteich? Dort könnte doch ein großes Freibad entstehen und aus dem Schlosspark könnte man einen Vergnügungspark mit Achterbahn, Riesenrad, Abenteuerspielplätzen, Tiergehege, Hotel, Restaurant, Diskothek, Spielkasino und Imbissbuden machen. Bruce sah sich schon als Direktor der ganzen Anlage oder zumindest als Hotelier. War also nicht eigentlich die Baronin schuld an seiner prekären Lage? Hatten nicht immer schon die de Brandts seiner Familie das Leben schwer gemacht? War es nicht die Baronin Regine de Brandt, die Napoleon vor etwa 180 Jahren veranlasst hatte, seiner Familie den Postillion wegzunehmen? Man kann sich schon denken, wie sie das erreicht hat. Sie soll ja bildhübsch gewesen sein, diese Regine, und Napoleon war, wie man weiß, kein Kostverächter. Seitdem waren die Maisons nur noch Pächter des Postillion. Jeder seiner Vorfahren hatte bei Ablauf des Pachtvertrages demütig um eine Erneuerung betteln müssen. Der Pachtzins war ständig gestiegen und die Maisons mussten sich abrackern, während die de Brandts in ihrem Gutshaus wie die Maden im Speck lebten. Bruce hasste die Baronin. „Die de Brandts schulden meiner Familie etwas! Ich werde es mir holen!“

Letzten Samstag hatte ihn die Baronin zu einer Aussprache ins Gutshaus bestellt. Bruce befürchtete, dass er sie nicht länger vertrösten könne und die fristlose Kündigung des Pachtvertrags bevorstand. Das durfte nicht geschehen! Der Postillion war seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie. Den durfte man ihm nicht wegnehmen! Der Postillion war sein Einundalles. Ohne den Postillion war er ein Niemand. Wenn man ihm das Wirtshaus wegnahm, würde Blut fließen. ‒ Sein Hass auf die Baronin stieg ins Unermessliche.


Wie jeden Samstag hatte Bruce den Postillion um 20.30 Uhr verlassen. Mit dem Fahrrad fuhr er zum Gutshaus, unter seinem Regencape die alte Streitaxt.

An diesem Sonnabend hatte Baronin Rose-Lene de Brandt keine Gäste, weil das Hauspersonal sein freies Wochenende hatte. Alle waren ausgeflogen, sogar die dicke Köchin war zu ihrer Schwester nach Poitiers gereist. Nur der kräftige Butler Paul war geblieben, denn Paul hatte keine Angehörigen und verreiste nie. Er servierte die von der Köchin vorbereiteten Speisen, begleitete die Baronin bei ihrem Nachmittagsspaziergang durch den Wald hinter dem Gutshaus und versorgte Hasso, den großen Wachhund.

Der Butler öffnete Bruce die Haustür, ließ ihn in der Eingangshalle stehen und verschwand in dem dunklen Korridor, während sich Hasso mitten in den Durchgang unter das unheimliche Portrait setzte und hechelnd Bruce fixierte.

„Das Biest bewacht den Durchgang wie Cerberus den Eingang zur Unterwelt“, dachte Bruce und griff nach der Axt unter seinem Cape. Er war zu früh gekommen und die Baronin ließ ihn eine geschlagene Viertelstunde in der Empfangshalle warten. Als der Butler ihn endlich rief, schnaubte Bruce vor Wut. Er ging auf den Durchgang zu, aber Hasso knurrte und fletschte die Zähne.

„Hierher, Hasso!“, rief Paul in scharfem Ton. Der Hund parierte sofort und gab den Weg frei. Bruce folgte dem Butler durch den dunklen Korridor in ein geräumiges Büro. Hinter einem großen Schreibtisch aus dunklem Palisander, auf dem eine alte Petroleumlampe flackerte, saß die Baronin, vor sich den Pachtvertrag. Bruce zwang sich, freundlich zu grüßen. Die Baronin nickte nur kurz und wies auf einen Hocker vor dem Schreibtisch. Bruce setzte sich. Der Butler nahm in einem bequemen Sessel in einer Ecke des Zimmers Platz. Hasso blieb draußen vor der Bürotür.

„Sie sind mit der Pacht jetzt schon zwölf Monate im Rückstand“, eröffnete die Baronin das Gespräch. „Früher haben Sie doch immer pünktlich gezahlt ‒ warum jetzt nicht mehr? Welche Schwierigkeiten haben Sie?“

Wollte ihm die Baronin etwa helfen?

„Ich habe mich an der Börse verspekuliert“, sagte Bruce.

Das klang besser, als zu beichten, dass er den einen Teil seines Geldes mit Huren verjubelt und den anderen beim Pokerspiel verloren hatte. Außerdem ging sein Privatleben die alte Schachtel gar nichts an. Was erlaubte die sich überhaupt, so zu fragen?! Er war schließlich ein erwachsener Mann und kein dummer, kleiner Bubi. Er konnte doch mit seinem Geld machen, was er wollte!

„Verspekuliert haben Sie sich, an der Börse ‒ so, so“, zweifelte die Baronin.

„Ja, mit einer Goldmine in Kanada“, behauptete Bruce und rutschte unbehaglich auf seinem Hocker herum.

„Und nun, was soll nun werden?“, fragte die Baronin.

„Ich muss warten, bis die Aktien wieder steigen.“

„Und ich soll wohl so lange auf die Pacht warten? ‒ Das kann ja ewig dauern!“, lachte die Baronin zynisch.

Eine Gesprächspause war eingetreten. Bruce umklammerte den Griff der Streitaxt unter seinem Regencape. Sollte er jetzt zuschlagen?

„Ich mache ihnen einen Vorschlag“, sagte die Baronin unvermittelt mit einem honigsüßen Lächeln.

„Sie geben mir Ihre kanadischen Goldminenaktien und ich erlasse ihnen die Pachtschulden.“

Bruce war verdutzt. „So viel sind die Aktien im Moment nicht wert!“

„Um so besser für Sie, dann machen Sie ja ein gutes Geschäft!“, erwiderte die Baronin.

„Das, das Angebot kann ich nicht annehmen. Das, das verstößt gegen meine Ehre!“, stotterte Bruce verdattert.

„Dass Sie die Pacht nicht zahlen, weil Sie das Geld verspielt oder mit ihren Huren durchgebracht haben, das verstößt gegen ihre Ehre, Sie Ehrenehemann!“, donnerte der Butler dazwischen und die Baronin ergänzte:

„Außerdem wissen wir längst, dass Sie gar keine Aktien haben, Sie Lügenbaron! Der Pachtvertrag für den Postillion wird hiermit fristlos gekün...“

Weiter kam die Baronin nicht mehr. Bruce hatte ihr über den Schreibtisch hinweg mit einem Schlag seiner Streitaxt die Kehle durchgeschnitten. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um dem Butler, der sich auf ihn stürzte, mit einem weiteren Beilhieb den Schädel zu spalten. Einen Moment lang war es still. Plötzlich ertönte ein wütendes Gebell, begleitet von heftigem Geschabe an der Bürotür. Hasso, der Wachhund, hatte gemerkt, dass seine Herrin in Gefahr war und wollte sie beschützen. Bruce öffnete die Tür und schlug zu. Hasso sank mit durchtrenntem Rückgrad jaulend zu Boden. Bruce schlug ihm das Beil ins Genick und das Gejaul verstummte.

Das Gemetzel war beendet. Bruce sah sich grimmig im Büro um. Wo bewahrte die Baronin ihr Geld auf? Sein Blick fiel auf den alten, eisernen Geldtresor neben dem Sessel, in dem der Butler gesessen hatte. Wo war wohl der Schlüssel? Vielleicht im Schreibtisch? Die Baronin lag halb auf der blutüberströmten Tischplatte. Bruce zerrte sie herunter und ließ sie auf den Fußboden sinken. Hastig durchwühlte er die Schubkästen. Nichts ‒ kein Schlüssel. Vielleicht trägt sie ihn bei sich? Bruce zögerte, die blutdurchtränkte Kleidung der Toten zu durchsuchen, doch dann siegte seine Gier. Also fledderte er die Tote, zog den goldenen Siegelring und die Diamantringe von ihren noch warmen Fingern, löste die wertvollen Armbänder von ihren Handgelenken und entfernte mit Mühe das kostbare, bluttriefende Brillantkollier von ihrem aufgeschlitzten Hals. Doch den Schlüssel fand er nicht. Sein Blick fiel auf den am Boden liegenden Butler. Ob der den Tresorschlüssel hat?

Er drehte den Toten auf den Rücken, um ihn besser durchsuchen zu können. Der Butler bot einen nicht weniger grausigen Anblick als die Baronin. Er hatte zwar nur wenig Blut verloren, aber das Beil hatte ihm die Stirn bis zur Nasenwurzel gespalten und sein Gehirn war ausgetreten. Bruce griff dem Toten in jede Tasche, fischte ein silbernes Zigarettenetui und eine silberne Taschenuhr heraus und zuallerletzt einen alten Schlüssel, der in das Tresorschloss passte. Bruce öffnete die Eisentür und sah Goldschmuck und mehrere dicke Geldscheinbündel vor sich liegen. Hastig griff er zu und stopfte sich gerade die Taschen voll, als der schrille Klang der Hausglocke ihm wie ein Skalpell ins Ohr drang.

„Was tun, um Himmels willen? Wo sich verstecken? Wer kommt da? Wie viele Leute sind es?“

Panikschweiß trat Bruce auf die Stirn.

„Bleib ruhig“, ermahnte er sich selbst, „erst nachdenken, dann handeln!“

Mit seinem scharfen Beil in der Hand schlich er über den weichen Teppichboden zur offenen Bürotür. In der Halle hörte er jemanden zaghaft nach dem Hausherrn rufen. Bruce fasste sein Beil fester und wartete, zum Schlag bereit, hinter der Tür. Erleichtert hörte er, wie der späte Besucher plötzlich mit schnellen Schritten die Eingangshalle verließ. Eine Wagentür wurde zugeschlagen und ein Motor heulte auf. Dann war es wieder totenstill.

„Der hat sich wohl vor dem scheußlichen Portrait erschrocken ‒ wie alle Angsthasen“, hatte sich Bruce gefreut, die letzten Geldscheine und den Schmuck aus dem Tresor geraubt, die Petroleumlampe umgestoßen und Feuer gelegt. In der Eingangshalle hatte er übermütig das Portrait mit seiner Streitaxt berührt, als wollte er sich dafür bedanken, dass es den Fremden verschreckt hatte. Die Berührung war jedoch zu heftig und das Portrait fiel auf ihn herab. Er hatte es gerade noch mit seinem blutigen Beil abwehren können. Erschrocken war er aus der Halle gerannt und durch den strömenden Regen nach Hause geradelt. Im Garten hatte er seine Beute versteckt, sich durch den Hintereingang ins Haus geschlichen und ins Bett gelegt.

Das Portrait der Toten

Подняться наверх