Читать книгу Seewölfe Paket 26 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 23
2.
ОглавлениеDer Offizier führte den anderen Gardisten aus Santiago de Cuba in jenen Flügel des Palastes, in dem sich die Administrationsbüros befanden. In einem kahlen Vorraum, der lediglich mit ein paar einfachen Stühlen und einem Tisch ausgestattet war, mußte der Gardist eine Viertelstunde warten, bis die Tür zum Nebenraum geöffnet wurde.
Ein buckliger Schreiber forderte ihn mit näselnder Stimme auf, einzutreten.
Erstaunt blieb der Gardist stehen, als er das große Büro betrat. Es war prunkvoll eingerichtet, mit schweren Vorhängen aus Samt und Brokat, mit dicken Teppichen und einem blattgoldverzierten Kamin. Die Möbel hatten ebenfalls Verzierungen aus Blattgold.
Der kleine Mann, dem das alles zu gehören schien, wirkte fast verloren in der Pracht des Raumes.
Er war ein dürres Männchen mit Puderlocken und einem Gesicht, das man nicht anders als füchsisch bezeichnen konnte. Mit einer herrischen Handbewegung forderte er den reitenden Boten auf, näherzutreten.
„Sie sind Señor Corda?“ fragte der Gardist sicherheitshalber. „Sie führen die Gouverneursgeschäfte in Abwesenheit von Don Diego de Campos in Ihrer Eigenschaft als Sekretär? Sie waren auch Sekretär von Don Antonio de Quintanilla und seinem Nachfolger Alonzo de Escobedo?“
Corda trommelte mit dürren Fingern auf dem Schreibtisch.
„Wenn Sie Ihre Befragung beendet haben, sagen Sie nur Bescheid“, entgegnete er in gespielt geduldigem Ton.
Der Gardist straffte seine Haltung.
„Verzeihung, Señor Sekretär, aber mein Vorgesetzter hat mich ausdrücklich angewiesen, mich zu vergewissern, wem ich die Nachricht überbringe. Es handelt sich nämlich um eine Nachricht von größter Wichtigkeit, die nur für den rechtmäßigen Stellvertreter des Gouverneurs bestimmt ist.“
Corda runzelte die Stirn.
„Wo befindet sich de Campos, wenn er diese Nachricht nicht entgegennehmen kann?“
„Er ist im Kampf gegen den berüchtigten Seewolf gefallen“, erwiderte der Gardist. „Eben das ist die Nachricht, die ich zu überbringen habe. Señor de Campos starb im Gefecht um die Hafenfestung von Santiago de Cuba. Den Engländern gelang es, anzugreifen und unseren Reihen große Verluste zuzufügen.“
Corda ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. Er brachte nicht sofort eine Antwort hervor und starrte den Boten nur fassungslos an.
„De Campos gefallen“, murmelte er tonlos, als müsse er die Worte wiederholen, um ihre Bedeutung richtig zu begreifen. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Dann schob er die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. Er faltete die Hände, stützte das Kinn mit beiden Daumen und senkte sinnierend den Blick.
Minutenlang stand der Gardist da, ohne auch nur beachtet zu werden.
Plötzlich hob Corda wieder den Kopf. Mit gefurchter Stirn sah er den Boten an.
„Haben Sie ein Dokument?“ herrschte er ihn an. „Können Sie sich ausweisen?“
Der Gardist holte tief Luft, um seine Empörung nicht zu zeigen.
„Mit Verlaub, Señor, das habe ich bereits bei der Palastwache getan. Sonst wäre ich sicherlich nicht vorgelassen worden. Aber ich werde mich natürlich auch Ihnen gegenüber ausweisen, wenn Sie es verlangen.“
„Ich bitte darum“, sagte Corda schroff.
„Wie Sie wünschen, Señor.“ Der Gardist zog seine Legitimation unter dem Wams hervor, faltete das Papier auseinander und reichte es über den Schreibtisch.
Corda studierte das Geschriebene Wort für Wort. Dann hielt er das Siegel dicht vor die Nase, um es genau zu prüfen. Schließlich ließ er das Dokument sinken, und sein Blick richtete sich ins Leere. Alles stimmte. Dieser Mann war tatsächlich vom Generalkapitän in Santiago de Cuba geschickt und autorisiert worden, eine mündliche Nachricht zu überbringen, die aus Geheimhaltungsgründen nicht schriftlich fixiert worden war.
„De Campos gefallen“, sagte Corda noch einmal. „Dann ist es also wirklich wahr.“
„Verzeihen Sie, Señor“, sagte der Gardist standhaft, „welchen Grund sollte ich wohl haben, Ihnen eine Falschmeldung zu überbringen?“
Corda hob den Kopf und sah ihn mit seinem füchsischen Lächeln an.
„Junger Freund, ich zweifle nicht an Ihrer Ehrlichkeit und Dienstauffassung. Aber Sie ahnen nicht, mit welchen Listen in höheren Kreisen gelegentlich operiert wird. Und Ihnen dürfte klar sein, daß die Nachricht vom Tod des stellvertretenden Gouverneurs ein beträchtliches politisches Gewicht hat.“
„Selbstverständlich, Señor“, antwortete der Gardist mit einer angedeuteten Verbeugung.
Corda winkte ab.
„In Ordnung. Sie können jetzt gehen. Aber vergessen Sie nicht, daß die Geheimhaltungspflicht nach wie vor gilt.“
„Ich werde mich daran halten, Señor. Darauf können Sie sich verlassen.“ Der Gardist zögerte und räusperte sich schließlich.
Corda, bereits völlig in Gedanken versunken, blickte irritiert auf.
„Gut, gut, in Ordnung. Sie können gehen.“
„Wenn Sie erlauben, Señor, mein Dokument …“
Corda starrte das Papier an, als bemerkte er erst jetzt, daß er es noch immer in der Hand hielt. Mit einer ärgerlichen Miene, als verscheuche er eine lästige Fliege, stieß er es über die Schreibtischplatte. Der Gardist fing es auf, faltete es zusammen und verstaute es unter seinem Wams. Dann salutierte er, vollführte eine Kehrtwendung und marschierte mit harten Schritten hinaus.
Der bucklige Schreiber streckte den Kopf durch die noch offene Tür. Fragend sah er den Sekretär des Gouverneurs an.
Corda wedelte unwillig mit der Hand.
„Ich will jetzt nicht gestört werden, Lope. Von niemandem! Verstanden?“
„Si, Señor, wie Sie wünschen.“ Der Schreiber dienerte und zog die Tür hinter sich zu.
Corda beobachtete die sich schließende Tür, als handele es sich um einen äußerst interessanten Vorgang. Dann stemmte er sich aus dem Stuhl hoch und ging steifbeinig zu dem Schrank, in dem er einen kleinen Getränkevorrat für gelegentliche Besucher aufbewahrte.
Er goß Rum in ein Kristallglastrank einen Schluck und ging mit dem Glas zum Schreibtisch zurück. Wie flüssiges Feuer brannte sich das Getränk seinen Weg von der Kehle bis hinunter in den Magen. Er setzte sich wieder, nahm noch einen Schluck und stellte das Glas vor sich hin.
Die innere Wärme beseitigte ein gewisses Unbehagen, das er in den vergangenen Minuten empfunden hatte.
De Campos tot.
Himmel, im ersten Moment war eine solche Neuigkeit natürlich geeignet, auch den widerstandsfähigsten Mann zu erschüttern. Bei einer so schlimmen Nachricht konnte man den bevorstehenden Verdruß buchstäblich riechen.
Aber es galt, einen klaren Kopf zu bewahren. Corda begann, die Dinge in seinem Kopf zu sortieren. Er war nun in der Lage, seine Gedanken in gezielten Bahnen zu bewegen. Voller Zuversicht, daß er zur richtigen Entscheidung gelangen werde, leerte er das Glas.
Um den Posten des Gouverneurs von Kuba war es in der letzten Zeit höchst ungünstig bestellt. Corda hielt sich zunächst vor Augen, daß er inzwischen immerhin drei Inhaber dieses Amtes überlebt hatte. Wörtlich traf das zumindest im Fall de Campos zu.
Er, Corda, war bereits Sekretär und damit enger Vertrauter von Don Antonio de Quintanilla gewesen. Alonzo de Escobedo war der Nächste im Amt des Gouverneurs gewesen, und ihm war als Stellvertreter der Generalkapitän Don Diego de Campos gefolgt.
Und nun die Nachricht von dessen Tod.
Corda versorgte sich mit einem weiteren Gläschen Rum und gelangte zu der Ansicht, daß er Zeuge eines historischen Moments war. Nein, nicht nur Zeuge. Er gehörte zu den wesentlichen Entscheidungsträgern.
Teufel auch, vielleicht hingen die allerwichtigsten Entscheidungen sogar von ihm allein ab. Immerhin führte er in Abwesenheit des jeweiligen rechtmäßigen Gouverneurs die Geschäfte.
Richtigerweise hatte man ihm in dieser Funktion die Nachricht vom Tod des amtierenden Gouverneurs überbracht. Folgerichtig war, daß er daraus die Konsequenzen ziehen mußte. Etwas mußte geschehen.
Er faltete die Hände unter dem Kinn und blickte andächtig zur Zimmerdecke. Ohne sonderliche Mühe könnte er jetzt sich selbst in den Sattel des Gouverneurs schwingen. Die Fähigkeiten dafür hatte er.
Überhaupt, was war denn schon an Fähigkeiten erforderlich? Wenn er an den dicken Don Antonio dachte, fiel ihm fast überhaupt nichts ein. Bestenfalls List und Tücke. Nun – Corda grinste vor sich hin – mit Eigenschaften solcher Art war auch er reich gesegnet.
Sicherlich würde es ihm auch gelingen, jenen Personenkreis, der in Havanna den Ton anzugeben glaubte, von der Rechtmäßigkeit seiner Amtsübernahme zu überzeugen. Die Stadtgarde hatte er ohnehin hinter sich. Niemand konnte ihm also ernsthaft Schwierigkeiten bereiten.
Dennoch behagte ihm der Gedanke nicht, Gouverneur zu sein.
Denn ein solcher Posten hatte auch beträchtliche Nachteile. Man befand sich an exponierter Stelle, im Licht der Öffentlichkeit und war entsprechend angreifbar und verwundbar.
Sich hervorzutun oder gar das Großmaul zu spielen, war eine Eigenschaft, die Corda fehlte. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß er lieber im Hintergrund wirkte.
Er hatte es immer verstanden, seine Fäden zu ziehen, ohne daß die Beteiligten letztlich wußten, von wem sie in bestimmte Richtungen gelenkt wurden. Im Fall de Quintanilla hatte das besonders gut funktioniert.
Dem Dicken war es ausgesprochen lästig gewesen, sich mit den vielen bürokratischen Einzelheiten seiner Amtsgeschäfte zu befassen. Daher hatte er das meiste Corda überlassen und lediglich die erforderlichen Unterschriften geleistet. Nur in den Angelegenheiten, die seine persönliche Bereicherung betrafen, hatte de Quintanilla allein entschieden.
Eine solche Regelung, überlegte Corda, war eigentlich ideal.
Er mußte der Mann im Hintergrund sein.
Die graue Eminenz!
Dazu fehlte ihm nur die passende Marionette, die er in den Gouverneurssessel hieven mußte.
Letztlich entschied natürlich der Kronrat in Spanien, wer das Gouverneursamt in Havanna ausübte. Corda erinnerte sich sehr genau, welche wohlüberlegten Regelungen der verehrte Don Antonio de Quintanilla getroffen hatte, als er abberufen worden war, um im Mutterland die Würde eines Vizekönigs über Neu-Spanien entgegenzunehmen. Zum kommissarischen Verwalter des Gouverneursamtes hatte er Señor Alonzo de Escobedo bestimmt, der ursprünglich Hafen- und Stadtkommandant gewesen war.
Nun hatte es in der Folgezeit gewisse Unregelmäßigkeiten gegeben, wegen denen sich de Escobedo zu verantworten gehabt hatte. Don Diego de Campos war in seiner Eigenschaft als Generalkapitän ranghöchster Seeoffizier in Havanna gewesen, und er hatte demzufolge das Recht und die Befugnis gehabt, die Anordnung Don Antonios bezüglich de Escobedos über den Haufen zu stoßen. Seither saß de Escobedo im Stadtgefängnis ein.
Jetzt aber war de Campos tot.
Corda grinste, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der mageren Brust. Ein Toter konnte nicht mehr als Ankläger auftreten. Folglich würde es auch nicht besonders schwierig sein, einen Prozeß gegen Alonzo de Escobedo von vornherein zu verhindern.
Punktum.
Alonzo de Escobedo war der richtige Mann für das Gouverneursamt – die geeignete Marionette. Und er, Corda, war der richtige Mann, um die Fäden zu lenken. Er lachte leise, beinahe übermütig, bei diesem Gedanken.
Alonzo de Escobedo, der arme Kerl, hatte lange genug im Gefängnis geschmachtet. Wenn man ihn herausholte, tat man nichts weiter, als die ursprüngliche Anordnung Don Antonios wieder in Kraft zu setzen. Im Grunde war es die logischste und einfachste Sache der Welt, de Escobedo in den Gouverneurssattel zu hieven, bis von Spanien aus eine andere Regelung erfolgte.
Corda lachte abermals.
Wann erfolgte schon eine solche Regelung aus Spanien! Das konnte in ein paar Jahren sein. Oder auch nie. Bis dahin war es schon besser und einträglicher, selbst die Entscheidungen zu treffen und die dafür auserwählte Strohfigur zielsicher zu lenken.
Corda wußte, daß er damit mehrere Vorteile für sich buchte. Erstens erhielt er sich den Sekretärsposten. Zweitens hatte er den kommissarischen Gouverneur de Escobedo natürlich in der Zange, da er von ihm wußte, welchen Dreck er am Stecken hatte. Folglich konnte er ihn nach Belieben erpressen, wenn das denn überhaupt erforderlich sein sollte.
Corda kicherte leise und rieb sich die Hände.
Er selbst trug bei der ganzen Regelung letzten Endes keinerlei Verantwortung. Die übernahm kraft seiner Unterschrift der kommissarische Gouverneur, der sehr verehrte Señor Alonzo de Escobedo. Er, Corda, erfüllte – für jedermann glaubhaft – lediglich treu seine Pflicht als Sekretär, wie es Don Antonio de Quintanilla angeordnet hatte.
Daß er in Wirklichkeit der heimliche Herrscher über Havanna und Kuba sein würde, sollte niemals jemand herausfinden.
Das Erwachen aus dem Mittagsschlaf war für Alonzo de Escobedo stets das unangenehmste aller Tagesereignisse. Da war jedesmal dieses fast unerträgliche Gefühl der Benommenheit, das er meist erst nach einer Stunde abschütteln konnte. Häufig war sein Schlaf in der Mittagsstunde auch von Alpträumen begleitet, die ihn schweißgebadet in die Wirklichkeit entließen.
Über eine weite, sonnendurchglühte Plaza hatten sie ihn geführt. Henkersknechte hielten seine Arme fest und stützten ihn, denn er konnte die Stufen zum Schafott nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen. Auf der Holzplattform war ein Galgen aufgebaut worden. Er wunderte sich darüber, warum der Scharfrichter trotzdem neben dem Richtblock stand und seine Hände auf den mächtigen Griff des Beidhandschwerts gelegt hatte.
Wollten sie ihn bis zur letzten Minute im Ungewissen darüber lassen, auf welche Weise er sterben würde?
Denn nun, als er den Kopf in den Nacken legte und gegen die Sonne blinzelte, sah er die Schlinge, die vom Galgen baumelte, direkt vor seiner Stirn. Der Hanfstrick pendelte im Wind und vollführte kreisende Bewegungen, als sollte er zu Tode genarrt werden.
Unvermittelt drang der Geruch in seine Nase. Dieser Geruch von fauligem Stroh in modernden Leinensäcken, vermischt mit menschlichen Ausdünstungen, übelriechenden Essensresten und der Feuchtigkeit von Mauerwerk.
Die grelle Sonne war nichts weiter als das trübe Tageslicht, das durch das vergitterte Fenster hereinströmte.
Aber die Schlinge war da! Sie kreiste jetzt immer schneller. De Escobedo schrie auf und riß schützend die Hand hoch. Der Strick schlug gegen seine Finger, und im selben Augenblick durchzuckte ein stechender Schmerz seine Hand. Er schrie erneut, voller Entsetzen jetzt.
Rauhes Gelächter brandete auf und riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er zitterte vor Ekel und wagte nicht, sich zu rühren.
Was da vor seinem Gesicht kreiste, war eine Ratte, von der Drehbewegung halb betäubt. Aber die Kraft und die Schnelligkeit, zuzubeißen, hatte das widerliche Vieh noch gehabt.
Rusco, dieser riesenhafte bärtige Kerl, hielt die Ratte am Schwanz. Rusco war ein Peiniger, einer, der sein größtes Vergnügen darin fand, Schwächere zu quälen. De Escobedo hatte das Pech, mit ihm und dem anderen Schweinehund eine Zelle teilen zu müssen.
Dieser Nando war ein Mitläufer, ein dürres Gestell, das bei jedem auch noch so dämlichen Scherz des Bärtigen in albernes Kichern ausbrach. Deshalb war der Dürre in seiner Gefährlichkeit aber keineswegs zu unterschätzen.
Natürlich hatte er sich auf die Seite Ruscos geschlagen. Denn beide zusammen hatten vermutlich zum erstenmal in ihrem Leben die Gelegenheit, einen Mann von Rang und Würden nach Lust und Laune zu quälen.
Manchmal ließen sie ihn tagelang in Ruhe. Aber dann, wie aus heiterem Himmel, gaben sie es ihm knüppeldick.
„Nimm das Dreckvieh weg“, sagte er scharf und versuchte, dabei so unbeeindruckt wie möglich zu wirken.
Rusco und Nando wollten sich halb umbringen vor Lachen.
Die Ratte kreiste weiter.
„Sag bitte, bitte“, verlangte Rusco.
De Escobedo wußte, der Schinder würde das Spiel endlos fortsetzen, wenn er nicht gehorchte.
„Bitte, bitte“, murmelte er zähneknirschend. „Bitte, nimm das Vieh weg.“
„Das ist kein Vieh“, sagte Nando giftig. „Das ist ein Geschöpf Gottes, Mann! Dir paßt es doch auch nicht, wenn wir dich Stinktier nennen, oder?“
Rusco lachte grölend und hieb dem Dürren mit der freien Hand anerkennend auf die Schulter.
„Na, was sagt man, sehr verehrter ehemaliger Gouverneur?“
De Escobedo atmete tief durch. Mit aller innerer Kraft, die er noch hatte, zwang er sich zur Ruhe. Wenn er versuchte, sich von der Pritsche zu rollen oder sonstwie auszuweichen, würde er alles nur noch verschlimmern. Dann brachten sie es fertig, ihn zu packen und ihm die Ratte unter das Hemd zu stopfen.
Daß Rusco überhaupt eine Ratte hatte fangen können, grenzte an Teufelswerk. Aber dieser Peiniger war zehnmal schlimmer als eine Ratte. Deshalb hatte er sie vermutlich auch überlisten können, als sie sich über die Essensreste in der Zelle hergemacht hatte.
„Bitte, bitte“, sagte de Escobedo in unterwürfigem Ton. „Bitte sei so gut, die liebe kleine Ratte wegzunehmen.“
„Warum sollte ich das tun?“ entgegnete Rusco scheinheilig.
„Dem armen Tier wird ja ganz schwindlig“, sagte de Escobedo vorsichtig.
Beide Männer lachten schallend. Rusco sah sich zu Nando um.
„Was meinst du, Amigo, könnte er recht haben? Wird unserem niedlichen Tierchen tatsächlich schwindlig?“
Nando legte die Stirn in Falten und zog die Brauen hoch. Er gab sich den Anschein, als dächte er angestrengt nach.
„Verdammt schwer zu sagen, Rusco. Leider kann das liebe Tierchen nicht reden. Sonst könnten wir es ja fragen, ob es unserem geschätzten Exgouverneur mal in die Nase oder sonstwohin beißen möchte.“
„Das ist ein Wort“, sagte Rusco. „Lassen wir unseren Liebling selbst entscheiden.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er den Rattenschwanz los, und das Tier plumpste auf de Escobedos mageren Bauch.
Er zuckte zusammen, als hätte ihn an eben jener Stelle ein Huftritt getroffen.
Die Ratte stieß einen scharfen Pfeifton aus, schnellte mit affenartiger Schnelligkeit los und raste im nächsten Augenblick an seinem Kopf vorbei zum hinteren Ende der Pritsche. Gleich darauf war das langschwänzige Tier auf dem Fußboden und verschwand in jener Ecke, in der ein Abflußloch ins Freie führte.
Alonzo de Escobedo erschauerte nachträglich vor Ekel. Die Vorstellung, daß ihn dieses scheußliche Wesen, dieser Inbegriff des Unreinen, berührt hatte, ließ ein Würgen in seiner Kehle aufsteigen. Er hatte sich seit seiner Inhaftierung an einiges gewöhnt. Aber dies, in Verbindung mit dem vorangegangenen Alptraum, war mehr, als er verkraften konnte.
Kichernd und glucksend zogen sich seine beiden Mitgefangenen auf die untere Pritsche an der gegenüberliegenden Wand zurück. Dort hockten sie sich hin und genossen ihre Heiterkeit auf seine Kosten.
Manches Mal hatte sich de Escobedo schon vorgenommen, gegen eine x-beliebige Gefängnisvorschrift zu verstoßen – nur, damit sie ihn in Einzelhaft steckten. In eine stockfinstere Zelle seinetwegen. Das war immer noch angenehmer, als mit diesen beiden Ausgeburten der Hölle zusammen eingesperrt zu sein.
„Da kannst du mal sehen, Alonzo“, sagte Rusco höhnisch. „Man lernt nie aus, was? In deinem früheren Leben hattest du doch bestimmt nie Gelegenheit, die Bekanntschaft von Ratten zu machen, nicht wahr?“
„Höchstens die von zweibeinigen Ratten“, sagte Nando und ließ dazu ein albernes Meckern hören.
„Sicher, sicher.“ Rusco nickte. „Solchen Umgang wird er mehr als genug gehabt haben, der gute Alonzo. Gleich und gleich gesellt sich schließlich gern. Nun? Ich warte noch auf eine Antwort, Amigo. Wie war das früher? Gibt es Ratten im Gouverneurspalast?“
„Ich habe nie welche gesehen“, erwiderte de Escobedo wahrheitsgemäß. Er war auf dem Rücken liegengeblieben und fühlte sich zu Tode erschöpft. Der Schreck nach dem Mittagsschlaf war ihm tief in die Knochen gefahren. Und es stand zu befürchten, daß ihn die verdammten Kerle noch stundenlang weiter peinigen würden. Sie waren in der Stimmung dazu.
Es gab keine Hilfe. Wenn er einen Aufseher rief, stellte sich der bestenfalls noch an die Gittertür und schaute amüsiert zu, wie sie ihn quälten.
Schritte wurden im Gang vor den Zellen laut.
De Escobedo rechnete damit, daß jemand vom Wachpersonal das Gelächter gehört hatte und nun an der Heiterkeit teilhaben wollte.
Doch er irrte sich.
Die Schritte endeten tatsächlich vor ihrer Zelle. Aber was dann folgte, verlief völlig unerwartet.
„Gefangener de Escobedo!“ ertönte die energische Stimme des Aufsehers.
Er richtete sich verblüfft von der Pritsche auf.
„Ja, Señor?“ antwortete er mit der Unterwürfigkeit, die man in diesem verdammten Bau von den Gefangenen erwartete.
„Aufstehen, mitkommen! Besuch für dich!“
De Escobedo gehorchte, rappelte sich von der Pritsche auf und strich seine zerlumpte Kleidung glatt. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Besuch um diese Zeit? Außerdem hatte er ohnehin so gut wie nie Besuch erhalten – abgesehen von den Verhören, denen er auf Befehl de Campos’ unterzogen worden war.
Verwandte, Freunde oder auch nur gute Bekannte hatte er in Havanna nicht. Dennoch wagte er keine Nachfrage, geschweige denn Widerspruch. Und wenn es nur irrtümlich geschah, daß er eine Weile aus der verfluchten Gesellschaft der Quälgeister herauskam, so war das schon die reinste Erholung für ihn.
Der Aufseher entriegelte die Gittertür, ließ de Escobedo heraustreten und schloß die Tür wieder.
„Vorwärts, marsch“, befahl er.
Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen wie Ketten an den Handgelenken oder ein zweiter, bewaffneter Aufseher waren nicht erforderlich. Das Stadtgefängnis von Havanna galt als absolut ausbruchssicher. Eine wahre Festung, in die von außen niemand eindringen konnte, um jemanden herauszuholen. Ebensowenig gelang es auch niemandem, aus eigener Kraft zu fliehen.
Die wenigen Male, in denen das einer riskiert hatte, waren nach Augenzeugenberichten zu einem Exempel geworden, das die Aufseher statuiert hatten. Die betreffenden Ausbrecher waren buchstäblich mit Musketenkugeln gespickt worden, bevor sie auch nur die Außenmauer des Gefängnisses erreicht hatten.
Nein, sie konnten ihre Gefangenen ruhigen Gewissens ungefesselt innerhalb des Gebäudes herumspazieren lassen.