Читать книгу Seewölfe Paket 26 - Roy Palmer, Burt Frederick - Страница 34

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In seine zerlumpte Verkleidung gehüllt, kehrte Jussuf an diesem Vormittag des 9. Juli 1595 in die Faktorei zurück. Er benutzte dazu den Hintereingang in einem Moment, in dem sich in der Seitengasse keine Menschenseele aufhielt. Überhaupt waren die Gassen und Straßen erstaunlich ruhig.

Bevor er ins Haus ging, stattete er seinen Brieftauben einen Besuch ab und vergewisserte sich, daß es seinen „Kinderchen“ an nichts mangelte – weder an Futter, Wasser oder Zufriedenheit. Gerade der letztere Umstand, das wußte er, war besonders wichtig für die Einsatzbereitschaft seiner gefiederten Nachrichtenübermittler.

Traurige oder verstörte Täubchen waren absolut ungeeignet für wichtige Aufgaben. Seine schnellen Lieblinge, das hatte Jussuf in jahrelanger aufopfernder Betreuung festgestellt, brauchten so etwas wie ein unumstößliches inneres Gleichgewicht. Sie durften keine Futtersorgen haben und auch keinerlei anderen Kummer. Sie mußten nur ihren Partner im Sinn haben, der im Schlag an der Cherokee-Bucht auf sie wartete.

Aischa, die liebe Kleine, war vor drei Stunden an diesem Morgen losgeflogen, mit der Nachricht Arnes an den Seewolf im Federkielröhrchen. An der Cherokee-Bucht würde Mustafa, ihr Auserwählter, sehr bald in Verzückung geraten. Dann nämlich, wenn sie nach dem Flug von Havanna in den Schlag im Stützpunkt einfiel.

Arne von Manteuffel las bereits im Gesicht des türkischen Taubenvaters, daß sein rascher Erkundungsgang durch die nähere Umgebung der Faktorei niederschmetternd gewesen sein mußte.

Arne und Jörgen Bruhn hielten sich im Kontor auf. Sie hatten alle kaufmännischen Unterlagen zusammengetragen, die vernichtet werden mußten, falls der Pöbel die Oberhand gewinnen sollte. In der Küche war Isabella Fuentes mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt.

„Draußen ist es sehr ruhig geworden“, sagte Arne, noch in einen Folianten vertieft. „Die Ruhe vor dem Sturm, Jussuf?“ Dann hob er den Kopf und stutzte. „Was ist geschehen?“

Auch Jörgen Bruhn bemerkte den düsteren Gesichtsausdruck des Türken sofort.

„Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Jussuf“, sagte er trocken. „Was, zum Teufel, hast du gesehen?“

Jussuf zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken.

„Könnt ihr euch das nicht vorstellen?“ murmelte er finster. „Ich habe die Hölle gesehen – oder besser, das, was die Hölle übriggelassen hat.“ Seine Stimme versagte. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren.

Arnes Blick wurde starr.

„Die Familie Herrera?“ flüsterte er tonlos.

Jussuf nickte. Seine Lippen waren zusammengepreßt und schmal wie ein Strich.

„Sie sind alle tot“, sagte er mit bebender Stimme. „Alle! Señora Herrera, die Hausgehilfinnen, die Kinder! Ja, auch die Kinder! Nicht einmal sie hat die Mörderbrut verschont. Und Señor Herrera hat offenbar versucht, sie noch mit seinem eigenen Körper zu schützen. Es hat nichts genutzt.“ Tränen standen in den Augen des Türken, als seine Stimme erneut erstickte.

Minutenlang herrschte völlige Stille im Kontor der Faktorei.

„Felipe Herrera war ein tapferer Mann“, sagte Arne von Manteuffel dumpf. „Die Bürgerschaft dieser Stadt ist mitschuldig an seinem und seiner Familie Tod. Wenn man seine Vorschläge angehört hätte, wäre es wahrscheinlich zu einem gut organisierten Widerstand gegen den Pöbel gekommen.“

„Du hast davon berichtet“, murmelte Jörgen Bruhn. „In dieser famosen Besprechung hielten sie es für angebracht, einen Adligen als Versammlungsleiter zu wählen. Herrera war ihnen nicht gut genug.“

„Dabei war er der tapferste von allen“, fügte Jussuf hinzu.

„Es gab ein paar andere“, sagte Arne und blickte den Türken fragend an. „Regt sich nirgendwo mehr etwas?“

Jussuf schüttelte den Kopf.

„Sie sind alle tot. Alle. Herrera war für mich der schlimmste Anblick. Weil ich ihn kannte, und weil ich mir vorstellen kann, wie er sich selbst im Augenblick des Todes noch vor die Menschen gestellt hat, die ihm etwas bedeuteten.“

Wieder wurde es still im Kontor des Handelshauses von Manteuffel, das in Wahrheit alles andere war, nur eben kein Handelshaus. Die geschäftlichen Tätigkeiten, die Jörgen Bruhn in seinen Folianten aufzeichnete, waren nur fingiert. Deshalb hatten Arne und Jörgen begonnen, die Vernichtung aller gefälschten Geschäftsunterlagen vorzubereiten. Wenn man gezwungen sein sollte, die Faktorei aufzugeben, dann durfte dennoch nicht ans Licht dringen, was sich hier wirklich abgespielt hatte.

Die Brieftauben waren ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit des vermeintlichen deutschen Handelsherrn von Manteuffel und seiner Mitarbeiter. Jussufs gefiederten Lieblinge hatten stets zuverlässig jene Nachrichten übermittelt, die Arne und seine Freunde für den Bund der Korsaren ausgekundschaftet hatten.

Jetzt, wenn die Faktorei in Gefahr war, mußte Jussuf auch an seine Tauben denken. Würde man Zeit haben, sie fortzuschaffen, ohne daß ihnen etwas geschah? Oder sollte man sie einfach aufsteigen lassen, in der Hoffnung, daß sie allesamt zur Cherokee-Insel fliegen würden?

Zweifellos würde das letztere die beste Lösung sein, und alle Tauben würden auch zu ihren Partnern in den Schlag finden. Dennoch konnten sich Arne und Jörgen vorstellen, welche Gedanken Jussuf angesichts des zerstörten Handelshauses der Compañia Herrera y Castillo durch den Kopf gegangen waren.

„Wir sind also die letzten Überlebenden“, sagte Arne nach einer Weile. „Der Angriff in der vergangenen Nacht hatte wahrscheinlich den Zweck, auch uns den Rest zu geben. Wir müssen uns vor Augen halten, daß wir für die Horden von jetzt an ein Dorn im Auge sind. Ihre Angriffe werden noch heftiger werden.“

„Zur Zeit ist es erstaunlich ruhig“, sagte Jussuf. „In den vergangenen Tagen, als der Pöbel schon mehr und mehr die Oberhand gewonnen hatte, war auch tagsüber immer irgendwo ein Geplänkel im Gange. Jetzt aber rührte sich nichts. Ich habe den Eindruck, als ob sie sich auf etwas Besonderes vorbereiten. Als ob sie zum großen Schlag ausholen.“

Arne rieb sich das Kinn.

„Du könntest recht haben, Jussuf. Ja, es liegt auf der Hand. Die Stadt und den Hafen haben sie praktisch vereinnahmt. Was ihnen noch fehlt, sind in erster Linie die beiden Forts und die Residenz. Die Forts sind uninteressant, weil es da wenig Beute zu holen gibt. Aber die Residenz! Das ist der Punkt.“

„Da finden sie den versammelten Reichtum“, sagte Jörgen Bruhn und nickte. „Nicht nur die Wertgegenstände im Palast, sondern auch die Sachen, die die Bürger bei sich haben.“

„Vor allem die Señoras“, sagte Jussuf.

„Wie dem auch sei“, sagte Arne, „es mag traurig klingen, aber ein Angriff auf die Residenz könnte uns einen unverhofften Aufschub geben.“

Er brauchte nicht auszusprechen, was er damit meinte. Den Freunden war es klar. An diesem Nachmittag würde die Brieftaube Aischa die Cherokee-Bucht erreichen. Es gab keinen Zweifel für Arne und seine Freunde, daß Hasard und die anderen sofort etwas unternehmen würden, um ihnen in Havanna zu helfen.

Drei Tage konnten darüber vergehen.

Über das, was sich beim Bund der Korsaren in der Cherokee-Bucht abspielte, konnten die Männer in der Faktorei nur Mutmaßungen anstellen. Fest stand aber, daß Hasard keinesfalls seinen „Mann in Havanna“ aufgeben würde. Diese Einrichtung, die ein exaktes Ausspähen aller spanischen Schiffsbewegungen ermöglichte, war für den Bund im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Man würde also alles tun, um den als Faktorei getarnten Erkundungsposten beizubehalten.

Arne und seine Freunde ahnten nicht, wie schlagkräftig die Unterstützung sein würde, die innerhalb weniger Stunden ankerauf gehen und Kurs auf Havanna nehmen würde. Sie wußten auch nicht, daß Old Donegal Daniel O’Flynn und seine Mannen von der „Empress of Sea“ vorübergehend verschollen waren, so daß Hasard eine Suchaktion mit der Hilfeleistung für Havanna verbinden würde.

Noch am Nachmittag dieses 9. Juli sollten in der Cherokee-Bucht die „Isabella“, die „Le Griffon II.“ und die „Golden Hen“ in See gehen. Und sie sollten auf die „Empress“ stoßen, die sich ihnen mit Kurs auf Havanna anschließen würde.

Es waren dreißig harte Burschen, mit denen Alonzo de Escobedo am frühen Nachmittag loszog. Er hatte sie ausgesucht, nachdem Bastida nicht mehr als vierzig Männer auf die Beine gebracht hatte. Zehn von den Figuren hatte de Escobedo ausgesondert, weil sie schon am Morgen eine Schnapsfahne gehabt hatten, die beileibe nicht von der vergangenen Nacht herrührte.

Waffen und Munition führte de Escobedos kleine Truppe am Mann und auf Handkarren mit. Er wußte, daß das Gefängnis eine harte Nuß werden würde. Schließlich kannte er es gut genug, wenn auch mehr von innen.

Der Gebäudekomplex lag etwa auf halber Entfernung zwischen Hafen und Residenz mitten im Stadtgebiet. Wie es dem Zweck eines Gefängnisses entsprach, war es festungsartig ausgebaut und weder von innen noch von außen so ohne weiteres zu überwinden. Ein massiver Steinbau, mauerumwehrt und mit wuchtigen Türen und Toren versehen.

Als de Escobedo seiner Truppe auf der Straße vor dem Gefängnis das Kommando „Halt“ gab, erschauerte er unwillkürlich.

Unter dem wolkenverhangenen Himmel von Havanna wirkte das Gefängnis düsterer und bedrohlicher, als er gedacht hatte. Ja, für einen Moment zweifelte er, ob er es sich überhaupt richtig überlegt hatte, als er beschloß, diese Festung anzugreifen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Vor seinen eigenen Leuten und vor einem Heer von Schaulustigen hätte er das Gesicht verloren.

Überall in den nahen Gasseneinmündungen drängten sich die Galgenvögel und die Hafendirnen, die sich der de-Escobedo-Mannschaft auf dem Marsch zum Gefängnis angeschlossen hatten. Sie wollten etwas sehen und würden in Verzückung geraten, wenn der Bau gestürmt wurde. Wahrscheinlich würden sie sich aber auch verziehen, sobald die ersten Kugeln durch die Luft flogen.

De Escobedo versuchte, sich einen gedanklichen Überblick zu verschaffen und seine Chancen auszurechnen. Wenn er die stoppelbärtigen und verwüsteten Visagen hinter sich sah, hatte er nicht gerade das beste Gefühl, zumal er wußte, daß sie Flaschen mit Schnaps und Wein auf die Handkarren verladen hatten.

Es hätte keinen Sinn gehabt, das zu verhindern. Sie hatten überall und jederzeit Gelegenheit, sich Alkohol zu verschaffen. Das Problem war nur aus der Welt zu schaffen, indem man blitzschnell aufeinanderfolgende Einsätze befahl. Dann hatten sie keine Zeit, zu den Flaschen zu greifen.

Davor stand aber diese Festung, die ein Gefängnis war.

Natürlich hatten alle hochgelegenen Außenfenster massive Gitter. Keiner der Gefangenen hatte jemals ein solches Gitter beseitigen und ausbrechen können – bis auf die holländische Mannschaft von der „Zeehond“ vor fast einem Jahr. Aber darauf waren die Gitter verstärkt worden. Ebenso brauchte man sich auch gar nicht erst mit dem Gedanken zu befassen, durch ein Fenster in den Bau vorzudringen.

Ein weiteres wesentliches Hindernis war Gefängnisdirektor José Cámpora selbst. Alonzo de Escobedo kannte ihn als einen harten Knochen, der im Umgang mit Gesindel aller Art seine Erfahrungen hatte. Zweifellos würde er nicht vor diesem Haufen kapitulieren, der da vor dem Haupttor seiner Gefängnisfestung Aufstellung genommen hatte.

Früher, als de Escobedo ebenfalls noch auf der Seite von Recht und Ordnung gestanden hatte, war Cámpora in seinen Augen ein pflichtgetreuer Mann mit einem gesunden Rechtsempfinden gewesen. Alles andere als ein Folterknecht, dieser Cámpora. Aber dennoch war er nie zimperlich gewesen. Aufsässige Gefangene hatten von ihm gelernt, was Zucht und Ordnung bedeuteten.

Wie erwartet, hielt Cámpora die Stellung.

Keine Frage, daß es unmöglich gewesen wäre, auch die Gefängnisinsassen in die Residenz zu evakuieren. Zum einen war dort die erforderliche Sicherheit nicht gewährleistet, und zum anderen war die Residenz ohnehin bereits überfüllt.

So war der Gefängnisdirektor Cámpora mehr oder weniger gezwungen, in seinem Bau auszuharren. Bei sich hatte er an die fünfzehn Aufseher, die man auch nicht gerade Waschlappen nennen konnte.

Die Zahl der Gefangenen betrug ungefähr fünfzig. De Escobedo kannte sie zur Genüge. Das war die Hefe aus dem Gossenviertel am Hafen – Langfinger, Trunkenbolde, Herumstreuner, Buschklepper bis hin zu zwei Raubmördern. Mit einigen von ihnen hatte de Escobedo seine eigenen unliebsamen Erfahrungen gemacht.

Seit Ende Mai hatte er in dem verfluchten Bau gesessen, und er war schon so weit gewesen, mit seinem Leben abzuschließen. Seine Mitgefangenen hatten ihn gepeinigt und ihm das Leben zur Hölle werden lassen. Deshalb wußte er nur zu gut, welche Sorte von schrägen Vögeln er jetzt für seine Pläne rekrutieren wollte. Aber er war auf sie angewiesen. Er brauchte ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Gier nach Beute. Alles andere zählte im Augenblick nicht.

Alonzo de Escobedo verständigte sich durch ein Nicken mit seinen Leuten und ging auf das Gefängnistor zu.

Der Bedeutsamkeit seines Tuns war er sich bewußt. Hunderte von Augenpaaren beobachteten ihn aus den Gassen heraus. Und er war der unerschrockene, hoch aufgerichtet gehende Mann, der sich in größte Gefahr begab, um sein Ziel zu erreichen.

Er, Alonzo de Escobedo, trat mutterseelenallein auf das Gefängnistor mit den beiden flankierenden Türmen zu. Dabei wußte er, daß dort oben auf den Wehrgängen und hinter den Turmzinnen Gefängniswärter mit schußbereiten Waffen in Stellung gegangen waren. Wenn sie wollten, brauchten sie nur abzudrücken, um ihn zu töten.

Es würde sich in Windeseile herumsprechen, was für ein Kerl er war.

Einem zukünftigen Gouverneur stand es gut zu Gesicht, daß man Geschichten über seine Heldentaten erzählte. Später würde es seine Autorität kräftigen.

Breitbeinig und herausfordernd blieb er stehen. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und legte den Kopf in den Nacken.

„Cámpora!“ brüllte er. „Gefängnisdirektor Cámpora! Hören Sie mich?“

Hinter den Zinnen des rechten Turms bewegte sich etwas. Gleich darauf erschien die breitschultrige Statur Cámporas. Sein kantiges Gesicht war auf die Entfernung und in dem trüben Tageslicht nur undeutlich zu erkennen.

„Ergeben Sie sich!“ fuhr de Escobedo fort und strengte sich dabei an, seine Stimme donnernd klingen zu lassen. Es mußte seine „Truppe“ und die Neugierigen beeindrucken. „Öffnen Sie das Tor und übergeben Sie das gesamte Gefängnis meiner Gewalt! Ich bin der rechtmäßige kommissarische Gouverneur von Kuba. Wenn Sie sich meiner Anordnung widersetzen, werde ich den Bau stürmen lassen!“

Alonzo de Escobedo blieb stehen und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Täuschte er sich, oder bildete sich da ein verächtliches Lächeln in Cámporas harten Gesichtszügen?

De Escobedo spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann.

Seewölfe Paket 26

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