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6.

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Der Wind hatte merklich nachgelassen. Nur noch mit verhaltener Kraft rollte die Brandung gegen das Korallenriff. Unbewegt und majestätisch lag die „Isabella“ weit draußen vor Anker.

Dan O’Flynn saß auf einer der Bänke des Riffs, die nur knapp über die Wasseroberfläche ragten. Gischtende kleine Wellen umspielten seine Füße, und er genoß die Abkühlung, die dies brachte. Er hatte das Kanu ebenfalls heraufgezogen, damit der empfindliche Rumpf aus Baumrinde nicht im Wellengang beschädigt wurde.

Die Mädchen waren nur einen Steinwurf weit entfernt. Ihre Auslegerboote dümpelten geschützt auf der Innenseite des Riffs, und dort tauchten Moana und ihre Gefährtinnen immer wieder hinunter zu den Muschelbänken. Ein unermeßlicher Reichtum mußte dort in der geringen Tiefe der Lagune ruhen, denn die Körbe der Mädchen füllten sich rasch mit jenen dunklen Muscheln, die die begehrten Perlen in sich bargen.

Dan stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in beide Hände. Versonnen schaute er den Mädchen bei ihrer Arbeit zu. Es war ein faszinierendes Schauspiel, das sie boten. Mit ihren gertenschlanken Körpern verfügten sie über beträchtliche Ausdauer. Neidlos mußte Dan anerkennen, daß er selbst kaum in der Lage war, sie zu übertreffen. Wahrscheinlich hatten sie das Tauchen schon von Kindheit an geübt. Immer wieder zählte er in Gedanken mit, wenn Moana auftauchte, eine Handvoll Muscheln in den Korb in ihrem Boot warf, Luft holte und wieder wegtauchte.

Die Sekunden dehnten sich endlos. Dan schüttelte ungläubig den Kopf. Nur ständige Übung konnte zu solchen Leistungen führen. Und bei den gewandten Bewegungen der Mädchen tauchte in seinen Gedanken der Vergleich mit jenen Meeresbewohnern auf, die die nördlichsten Breiten der Erde bevölkerten. Wie phantastisch war es gewesen, diese unnachahmlich gleitenden und elastischen Bewegungen jener Seehunde und Robben zu beobachten, die eins waren mit dem nassen Element. Diese jungen Polynesierinnen bewiesen, daß auch Menschen sich diesem Element in hohem Maße anzupassen vermochten.

Immer wenn sie auftauchten, waren ihre glockenklaren Stimmen zu hören – fröhlich und ausgelassen. Dabei war es harte Arbeit, die sie leisteten. Dan gelangte zu der Überzeugung, daß ein so heiterer und stets freundlicher Menschenschlag wie hier in der Südsee äußerst selten war.

Aber für was leisteten sie überhaupt diese Arbeit? Weshalb bürdeten sie sich solche Mühe auf? Wenn es stimmte, daß die Bevölkerung dieser Insel noch niemals mit der Außenwelt Verbindung gehabt hatte – zu was brauchten sie dann die Perlen? War es nur, weil sie selbst Gefallen daran gefunden hatten? Wenn ja, dann mußten sie die Perlen irgendwo auf der Insel horten.

Dieser Gesichtspunkt stimmte Dan nachdenklich. Er beschloß, der Frage bei nächster Gelegenheit auf den Grund zu gehen.

Ein Impuls drang plötzlich in sein Bewußtsein vor. Es war eine Bewegung, die er anfangs nur aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Und dennoch schlugen seine Sinne jäh Alarm.

Dans Kopf ruckte nach links.

Im selben Atemzug erstarrte er. Ihm war, als gefriere das Blut in seinen Adern.

Eine Dreiecksflosse.

Dunkelgrau und drohend schnitt sie durch die leuchtendgrünen Fluten – weniger als eine Kabellänge entfernt.

Dan wollte einen Warnschrei ausstoßen. Doch sein Blick wurde weiter nach links gelenkt.

Drei, vier, nein fünf weitere solcher Flossen, die tödliche Gefahr signalisierten. Ein ganzes Rudel von Haien war durch die Öffnung im Riff in die Lagune eingedrungen.

Dan sprang auf.

„Achtung!“ brüllte er. „Haie!“

Die Mädchen, die gerade aufgetaucht waren und sich an den Booten festhielten, lachten, winkten ihm zu. Sie verstanden ihn nicht. Er selbst war es, der ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Und sie begriffen nichts von der mörderischen Gefahr, die ihnen nahte.

„In die Boote!“ versuchte Dan es noch einmal. Dazu gestikulierte er. Vielleicht zu hastig, denn sie reagierten noch immer nicht. Er erreichte nur, daß sie ihr Lachen und Winken abbrachen und verwundert zu ihm schauten.

Dan stieß einen Fluch aus. Sein Blick suchte Moana, doch er konnte sie nicht entdecken. Sie mußte sich noch unter Wasser befinden.

Er spannte die Muskeln. Wieder spähte er in die Richtung, in der er die Haie gesehen hatte.

Der vorderste hatte sich bereits auf eine halbe Kabellänge genähert. Fast hatte es den Anschein, als sondiere er die Lage für seine räuberischen Gefährten. Plötzlich, bevor Dan den Gedanken zu Ende führen konnte, schoß die Dreiecksflosse vorwärts und jagte mit rasch zunehmender Geschwindigkeit auf die Auslegerboote zu.

Das Rudel verharrte weiter entfernt.

Dan O’Flynn überlegte nicht mehr. Er stieß sich ab und schnellte mit kraftvollem Kopfsprung in die schimmernden Fluten.

Zwei Wahrnehmungen bestürmten ihn in dem winzigen Moment, bevor er eintauchte.

Der Entsetzensschrei, den die Mädchen ausstießen.

Und der schlanke Körper des Haies, der jetzt auf gleicher Höhe mit ihm war.

Dan riß die Augen weit auf und unterdrückte das anfängliche Brennen des Salzwassers. Mit zügigen Schwimmbewegungen glitt er knapp unter der Wasseroberfläche voran.

Der Hai hatte ihn bemerkt.

Dan sah, wie sich der mächtige Leib des Raubfischs schlagartig krümmte und seine Richtung änderte.

Reaktionsschnell tauchte der junge O’Flynn auf, holte tief Luft und stieß wieder hinunter.

Das menschenfressende Monstrum schoß auf ihn zu. Dan registrierte die Einzelheiten in grausamer Deutlichkeit: das breite Maul mit den mörderischen Zähnen, die tückisch funkelnden kleinen Augen. Es schien, als grinse das Tier in mörderischer Vorfreude.

Zwar sagte man, daß Haie nur dann angriffen, wenn sie frisches Blut gewittert hatten. Aber darauf wollte Dan sich nicht verlassen. Und dieser furchterregende Bursche sah beim besten Willen nicht so aus, als würde er sich durch eine Handbewegung verscheuchen lassen.

Dan zog das schwere Entermesser aus der Scheide. Noch fünf, sechs Yards. Rasend schnell schmolz die Entfernung zusammen.

Wie ein gigantisches, lebendes Geschoß raste das Tier auf ihn zu.

Dan berechnete den Moment seiner Gegenwehr mit eiskalter Todesverachtung. Er zählte die Sekunden.

Mit einem jähen Schwimmstoß, in den er alle Kraft legte, glitt er abwärts und drehte sich dabei gleichzeitig um die eigene Achse.

Der mächtige Körper glitt über ihn weg. Dan spürte die rauhe Haut des Tiers auf seinen Unterschenkeln.

Blitzschnell stieß er das Entermesser hoch.

Knapp vor der Schwanzflosse fuhr die breite Klinge in den Leib des Hais. Der Körper zuckte. Dunkelrotes Blut faserte wie eine düstere Wolke in das leuchtende Wasser. Die Schwanzflosse bewegte sich peitschend, und das Tier schoß davon.

Dan empfand noch keine Erleichterung. Der Druck, den die knapp werdende Atemluft in seinem Kopf verursachte, zwang ihn zum Auftauchen. Krampfhaft rang er nach Atem, als er über die Wasseroberfläche hinausschoß. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Er war bereit, wieder hinunterzutauchen und sich dem mörderischen Kampf zu stellen.

Da sah er die Dreiecksflosse, die sich entfernte – zur Öffnung im Riff hin.

Und schlagartig begriff Dan. Der Mörderhai ergriff die Flucht. Die Flucht vor seinen eigenen Artgenossen.

Dort, wo bis eben das Rudel der Haie gelauert hatte, entstand ein Brodeln. Mächtige Flossen peitschten das Wasser, Fontänen stiegen auf. Sie hatten das Blut gewittert, das ihren Tötungsinstinkt weckte. Daß es kein Menschenblut war, bedeutete für die Bestien keinen Unterschied. Und der verwundete Hai hatte die Gefahr mit eben jenem Instinkt gespürt. Aber die Flucht gelang ihm nicht mehr.

Weit vor dem natürlichen Tor des Riffs begann die Lagune zu kochen. Die kristallklaren Fluten färbten sich dunkel, und der Schaum, den die peitschenden Schwanzflossen auf der Wasseroberfläche verursachten, war hellrot.

Mehr war nicht zu sehen. Und dennoch genügte es. Allein die Vorstellung, wie die Haie ihren eigenen Artgenossen in unermeßlicher Freßgier zerfleischten, erregte in Dan O’Flynn ein Gefühl des Grauens. Er wandte sich ab und schwamm zu den Auslegerbooten hinüber.

Die Mädchen hatten sich bereits alle in die Boote gerettet. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen blickten sie zu dem Schauplatz des grausigen Geschehens.

Es schien kein Ende zu nehmen. Immer noch brodelte das Wasser, und zeitweise waren Schwanz- oder Rückenflossen der Haie zu sehen.

Dan zog sich in das Boot, in dem Moana mit zwei Gefährtinnen kauerte. Vergessen waren die Fragen, die ihn bewegt hatten. Vergessen all das, über das er sich mit Moana hatte verständigen wollen. Jetzt zählte nur die Tatsache, daß ihr Leben gerettet war.

Moana umarmte den jungen Mann mit einem leisen Aufschrei. Zitternd barg sie ihren Kopf an seiner Schulter, und er strich ihr sanft über das. Haar. Die beiden anderen Mädchen wandten den Blick zur Seite. Sie waren blaß, ihre Gesichter noch immer vom Entsetzen gezeichnet.

„Es ist alles vorbei“, sagte Dan leise, obwohl er wußte, daß Moana ihn nicht verstand. Doch er wußte, daß sie spürte, was er ausdrücken wollte.

Irgendwann, nach endlosen Minuten, war die blutige Freßorgie der Haie vorüber. Die Dreiecksflossen zogen davon, durch das Tor im Riff, und ließen ein blutiges Feld im ruhiger werdenden Wasser der Lagune zurück.

Die Mädchen hatten sich halbwegs von ihrem Schreck erholt. Dan holte das Kanu und kehrte im Pulk der Auslegerboote an den Strand von Kahoolawe zurück.

Dort hatten sich Menschen und Gibbons in heller Aufregung versammelt. Doch als sie alle Mädchen unversehrt sahen, brach ein Sturm der Begeisterung los. Die Polynesier umringten Dan O’Flynn, der Moana im Arm hielt und sich insgeheim wunderte, warum kein eifersüchtiger Bräutigam auftauchte. Doch für solche Gedanken blieb keine Zeit. Frauen behängten Dan mit Blumenkränzen, und die Männer tanzten mit beifälligen Gesten um ihn herum.

In einem wahren Triumphzug geleiteten sie den Retter der Mädchen zurück ins Dorf. Die Männer von der „Isabella“ folgten der Meute mit einigem Abstand. Sie gönnten Dan den Ruhm, den er jetzt auf der Insel genoß. Denn immerhin hatte er nicht mehr und nicht weniger als sein Leben eingesetzt.

Hasard und Siri-Tong, die sich etwas abseits gehalten hatten, waren im Begriff, der Menschenmenge zu folgen.

Unvermittelt erblickten sie den Inder. Er hatte sich an den jubelnden Polynesiern vorbeigedrängt und näherte sich mit gravitätischen Schritten dem Strand. Der seidene Umhang, den er wieder trug, unterstrich sein Gehabe.

Die Rote Korsarin wechselte einen raschen Blick mit dem Seewolf. Sie blieben stehen. Siri-Tong hatte auf Anhieb ein schlechtes Gefühl gehabt, wie sie es nannte. Dieses schlechte Gefühl beschlich sie immer dann, wenn sie Menschen begegnete, die ihr unsympathisch waren, ohne daß sie eine Erklärung dafür hatte. Frauen, so pflegte sie zu erklären, hätten eben ein besonders ausgeprägtes Gefühl dafür, die Wesenszüge von Menschen auf Anhieb einzustufen.

Und Hasard hatte sich schon manches Mal gewundert, wie sehr diese besagten Gefühle Siri-Tongs zutrafen. In bezug auf Charangu war er mit ihr allerdings sofort voll und ganz einig gewesen.

„Einen tapferen jungen Burschen haben Sie da in Ihrer Mannschaft“, sagte der Inder und faltete die Hände vor dem Bauch.

Hasard nickte.

„Er hat getan, wozu er sich verpflichtet fühlte. Und er tat es so schnell, daß ich keine Gelegenheit mehr hatte, ihm zu Hilfe zu eilen.“

Charangu bewegte den Kopf auf und ab, obwohl seine geistesabwesende Miene zeigte, daß er kaum zugehört hatte.

„Es ist seltsam“, murmelte er, „wir haben sonst so gut wie nie Haie hier. Ob die Bestien durch das fremde Schiff angelockt wurden?“

„Sie meinen, durch mein Schiff?“

Charangu schien aus seiner Abwesenheit zu erwachen.

„Oh, Verzeihung, Mister Killigrew. So habe ich das nicht gemeint. Sie verstehen, ich suche eine Erklärung für diesen Zwischenfall. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Möglicherweise könnte die Stimmung der Polynesier gegen Sie aufgewiegelt werden, wenn sie sich erst einmal von der Freude erholt haben. Vielleicht glauben diese einfältigen Menschen, daß die Götter zornig seien. Und dann werden sie es womöglich mit einem bösen Omen in Zusammenhang bringen. Ein böses Omen, das sich mit dem Erscheinen des fremden Schiffes in Verbindung bringen ließe.“

„So einen Unsinn würde ich nicht vermuten“, sagte Siri-Tong scharf. Sie ließ den Inder deutlich spüren, daß sie ihn nicht mochte. „Oder wollen Sie damit andeuten, daß es besser wäre, wenn wir die Insel vorzeitig verlassen würden?“

Charangu zuckte zusammen.

„Um Himmels willen, nein! Wie können Sie so etwas vermuten! Ich bitte um Verzeihung, wenn Sie einen solchen Eindruck aus meinen Worten gewinnen mußten.“

„Schon gut.“ Siri-Tong lächelte scheinbar freundlich. Sie kannte alle Überlegungen, die Hasard über Charangu und die merkwürdigen Verhältnisse auf Kahoolawe angestellt hatte. Und geradezu genüßlich fuhr sie fort: „Wir haben uns nämlich gerade überlegt, daß wir noch bis morgen oder übermorgen bleiben werden. Wir werden dann Zeit haben, frisches Wasser an Bord mannen zu lassen und vielleicht auch einige Proviantvorräte. Natürlich werden wir dafür einen Gegenwert an nützlichen Dingen zahlen, die die Leute hier gebrauchen können.“

Charangu wurde grau im Gesicht. Er hatte sichtliche Mühe, seine Fassung zu wahren. Die Willenskraft, mit der er sich zur Höflichkeit zwang, mußte enorm sein.

„Selbstverständlich sind Sie unsere Gäste, solange Sie wollen. Und ich würde es niemals zulassen, daß Sie für etwaige Vorräte bezahlen. Ich müßte das geradezu als Beleidigung auffassen.“

„Wie Sie meinen“, sagte Siri-Tong mit unverändertem Lächeln. „Wir sind Ihnen sehr dankbar, Majestät. Schon im voraus.“

„Oh, ich betrachte das als eine Selbstverständlichkeit.“ Charangu überhörte den unverhohlenen Spott im Unterton von Siri-Tongs Stimme und schaffte es sogar, wieder eine strahlende Miene aufzusetzen.

„Wir könnten ihnen auch eine gewisse Menge an Perlen abkaufen“, sagte Hasard, ohne zu wissen, daß er damit den gleichen Gedanken hatte, der auch Dan O’Flynn bereits bewegt hatte. „Denn in Europa werden Perlen zu Schmuck verarbeitet.“

Charangus Strahlen vereiste.

„Ja, ich habe davon gehört. Aber die Polynesier werden ihre Perlen nicht hergeben. Sie brauchen sie für kultische Zwecke. Es sind Schätze, die den Göttern geopfert werden, weil sie von den Göttern auf den Muschelbänken gesät wurden.“

Abrupt wandte sich der Inder ab und schritt mit wallendem Umhang zurück ins Dorf, wo die Musik und die ausgelassene Stimmung der Menschen lauter geworden waren.

Seewölfe Paket 10

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