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Allein-Sein ist nicht Einsamkeit

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Einsamkeit ist das Vermissen des Anderen. Allein-Sein ist das Finden von sich selbst.

OSHO

Fragst du vielleicht: »Glücklich mit mir selbst, nur ganz für mich allein – ist das nicht egoistisch?« Oder, anders herum: »So ganz für mich allein – bin ich dann nicht schrecklich einsam?«

Einsamkeit ist ein Gefühl von Mangel, das mit Leid verbunden ist. Wer sich einsam fühlt, dem fehlt etwas. Schon diese Feststellung rückt Einsamkeit in die Nähe von Krankheit. Ist doch »Was fehlt ihnen?« die klassische Eröffnungsfrage der Ärzte. Wenn ich einsam bin, fühle ich mich ganz auf mich allein zurückgeworfen. Das Gefühl der Überforderung begleitet mich sogar unausgesprochen, es steht im Raum wie der sprichwörtliche Elefant.

Einsamkeit ist kränkend und kann auch körperlich krank machen, zumal wenn sie mit Gefühlen des Ausgeliefertseins einhergeht und wie ein Gespenst im kleinsten Zeitraum lauert, der ohne Ablenkung ist. Umfragen haben ergeben, dass die Hälfte der Deutschen Angst davor hat, im Alter zu vereinsamen. Vor allem Frauen, und sie haben guten Grund dafür, bleiben sie doch weit häufiger allein übrig, quasi als gesellschaftlicher Restposten. Angst aber kann erst recht erkranken lassen, wie auch die Kollateralschäden der Angstverbreitung in Zeiten der Pandemie gezeigt haben. Hinter der Angst vor Einsamkeit steckt auch häufig die vor Ablehnung. Je mehr man sich abgelehnt fühlt, umso williger lehnt man sich auch selbst ab: ein Teufelskreis, der wiederum die Abhängigkeit von Lob und Anerkennung fördert. Selbstliebe und Selbstachtung, dann bereits geschwächt, bleiben schließlich ganz auf der Strecke. All das zeigt: Einsamkeit ist nicht etwa ein isoliertes Gefühl, sondern steht im Zusammenhang mit Angst, enttäuschten Hoffnungen und unerfüllter Sehnsucht.

Es ist durchaus gerechtfertigt, chronifizierte Einsamkeit als Krankheitsbild zu sehen, das falsche Vorstellungen von der Realität hervorruft. Die Einsamkeit nimmt dann gleichsam die Rolle einer ständigen Lebensbegleiterin an. Der Ausstieg ist infolgedessen schwieriger als aus einem akuten Geschehen, aber sehr wohl möglich, wie sich zeigen wird.

Allein-Sein will dagegen schon vom Wort her etwas ganz anderes sagen, nämlich Alles-in-einem zu sein. So verstanden, ist Allein-Sein ein existenzieller Zustand, das heißt natürlich gegeben und nicht künstlich hervorgebracht. Allein-Sein ist seinem innersten Wesen nach ein Glückszustand, ist deutlichst gefühlte Gewissheit meiner Allverbundenheit. Allein-Sein in diesem Sinne kann es, mit Krishnamurti gesprochen, »erst geben, wenn die Einsamkeit aufgehört hat«. Ein einziger, bewusst gewählter Moment kann reichen, um wieder zu sich zu kommen, seine Gedanken zu ordnen und sich zu sammeln, Abstand von einer problematischen Situation zu gewinnen. Um das eigene Leben zum Besseren zu wenden, geht es darum, sich Qualitätszeit zu nehmen für absichtsvolles Innehalten, um den inneren Halt wiederzufinden.

Warum verursacht Einsamkeit Angst? Weil sie aus dem Schmerz darüber erwächst, sich niemandem wirklich nahe zu fühlen, mit niemandem verbunden zu sein und gegenseitig Erfahrungen teilen zu können. Es gehört zu den typischen Begleiterscheinungen der heutigen Zeit, dass Einsamkeitsgefühle vermehrt auch in Beziehungen auftreten. Nicht immer liegt das am Partner. Die Seele kann sich auch einsam und vernachlässigt fühlen, weil wir nicht auf dem Weg zu ihr sind.

Wenn so viele Menschen Angst vor Vereinsamung haben, dann liegt ein tieferer Grund dafür wohl in der gefürchteten »inneren Leere«, die fühlbar wird, wenn wir keine Befriedigung erfahren, weil uns Ansprache und Zuspruch fehlen, oder einfach schon deshalb, weil wir aus der Gewohnheit fallen. Jedoch besitzt die »Leere« als innerliche Erfahrung auch eine erlöste Form. Ja, sie ist dann sogar das eigentliche Ziel des spirituellen Weges.

Als alles entscheidenden Unterschied zwischen Einsamkeit und Allein-Sein erkennen wir also: Es kommt darauf an, mit welcher Einstellung wir unsere Situation sehen und vor allem fühlen. Er fühlt sich schlecht, weil niemand für ihn da ist. Sie fühlt sich gut, im Idealfall glücklich schon allein mit sich selbst.

Mit einem Wort: Einsamkeit ist ein negatives Gefühl, geformt durch ein negatives Bewusstsein. Bewusstes Allein-Sein dagegen bewirkt, dank einer willentlichen Geisteshaltung, ein positives Gefühl. Einfach nur allein zu sein ist lediglich ein objektiv-neutraler Tatbestand. In welche Richtung das Pendel im Seelenraum ausschlägt, hängt von uns selbst ab.

Der Einsame sucht in einem fort nach dem anderen. Ihm fehlt etwas Entscheidendes. Statt bei sich selbst, ist er gedanklich stets beim anderen und ohne ihn unglücklich. Er ist im Wortsinn außer sich und sucht seine Erfüllung außerhalb von sich. Der andere soll ihm das Glück bringen!

»Alleinstehende« mitleidsvoll über die Schulter anzuschauen ist somit absolut fehl am Platz. Ja, sie stehen allein. Na und? Das heißt doch zunächst nur, dass sie für sich selbst allein einstehen müssen. Ist ein solcher Mensch dann nicht vielleicht sogar glücklicher, als wenn er sich bindet und sein eigenes Glück von einem anderen Menschen abhängig macht?

Warum wird Singles immer noch bereitwilligst unterstellt, sie müssten sich einsam fühlen? Frei nach dem Motto: »So ganz allein, das ist doch bemitleidenswert. Da muss man auf Dauer doch schrullig werden!« Dahinter steht ein Missverständnis, das tief in die unbewussten, kollektiven Glaubensstrukturen der modernen Massengesellschaft blicken lässt.

Wir sind so rasch so viele auf Mutter Erde geworden, dass wir schlicht und ergreifend nur noch selten allein sein können. Und wenn, dann sind wir noch seltener wirklich allein. Die virtuelle Gegenwart anderer Menschen hielt nicht erst seit gestern Einzug in unser ureigenes Rückzugsgebiet. Es begann vor gut einhundert Jahren mit wenigen Stunden Radio am Tag, setzte sich fort mit Fernsehen rund um die Uhr und ist mit dem Internet in die letzten Nischen des Privaten vorgedrungen. Wie selfish sind eigentlich all die Selfies? Das nicht mehr wirklich erlebte Leben wird als Ersatzhandlung ins Smartphone gebannt.

So schön der Gedanke des Teilens auch ist, es bleibt doch die Frage: Ist das reine Erleben als solches denn sonst gar nichts mehr wert? Bist selbst du nur noch wert, was du teilst, wo du bist, wie du bist, mit wem du bist, wofür du bist? Wen interessiert das eigentlich wirklich? Wer interessiert sich noch für sich selbst? Ist nicht das Wichtigste individuell (das heißt wörtlich: un-teilbar)?

Der Flug einer Möwe über der Brandung, ein wogendes Getreidefeld im Wind, ein Sonnenaufgang am Berg, ihr Untergang im Meer: Sie stehen doch so unmittelbar und überzeugend für sich selbst, dass sie nicht immer auch geteilt und kommentiert werden müssten. Sind sie nicht immer noch am intensivsten zu erleben und zu genießen, wenn wir dabei selbst ungeteilt und ganz bei uns sein dürfen?

Dass dies nicht mehr erstrebenswert oder sogar unmöglich sei, ist ein epochal zu nennendes Missverständnis. Der ohnehin schon rasant fortschreitende Verlust der Fähigkeit, sich allein wohl, sicher und glücklich zu fühlen, wird dadurch noch weiter beschleunigt.

Natürlich sind wir alle verschieden, die einen mehr von Emotionen, andere mehr von Gefühlen eingenommen. Denn auch Emotion und Gefühl sind nicht ein und dasselbe. »Emotion« kommt vom Lateinischen ex = aus und motio = Bewegung und bezeichnet somit ganz wörtlich eine Bewegung, die nach außen gerichtet ist, die hinauswill und -muss. Zu fühlen heißt, direkt wahrzunehmen, was in uns geschieht – nicht mehr und nicht weniger. Es will von sich aus gar nicht vermittelt, also geteilt werden. Begeisterung möchtest du vielleicht hinausschreien, deine Mutterliebe braucht das nicht. Die natürlich gegebenen Unterschiede unter uns Menschen erklären aber nicht, warum immer mehr Menschen sich einer künstlichen, Total-Sozialisierung ihrer höchst persönlichen Erlebniswelt unterwerfen. Nun spricht uns schon nicht mehr nur die Stimme aus dem GPS an – oder die des Autos selbst, das eine Inspektion wünscht –, sondern sogar auch aus Haushaltsgeräten. Um heute mit sich selbst allein zuhause zu sein, würde selbst ein Stromausfall nicht ausreichen. Das heißt, mit und für uns selbst allein existieren wir – ohne bewusste Absicht und nachhaltiges Bemühen – schon gar nicht mehr. Die »Schöne Neue Welt«, von Aldous Huxley bereits vor fast einhundert Jahre mit ironischer Hellsichtigkeit in ihren fatalen Auswirkungen beschrieben, ist dank der neuen Technologien bereits Realität!

All das ist längst bekannt. Was weniger auffällt, aber umso schwerer wiegt: Das allgemeine Verständnis von Allein-Sein hat sich grundlegend gewandelt. Es wurde und wird weiter ins Negative gezogen. Im Drang, alles »teilen« zu wollen, im Sinne von Vermittlung persönlicher Botschaften, spiegelt sich jedoch, kritisch betrachtet, eine bedenkliche Verarmung der persönlichen Erlebniswelt.

Für sich allein zu stehen und nicht im Mahlstrom des Mainstream mitzuschwimmen, ist heute allerdings schon verdächtig, zumal in Krisenzeiten. Das Überwachungsbedürfnis, bisher vor allem aus Diktaturen wie China und Russland bekannt, greift immer weiter um sich. Deshalb geht es in diesem Buch darum, den Wert bewussten Allein-Seins herauszustellen. Darum, die Chancen zu entdecken, die es uns bietet – und Wege aufzuzeigen, sie im Alltag zu nutzen.

Glücklich mit mir selbst

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