Читать книгу Als Stichling unter Haien - Ruth Broucq - Страница 11

8.) Seltsame Versöhnung

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Nachdem ich nun festgestellt hatte, dass ich eine Mutter war, die jedes ihrer Kinder liebte, egal was mit dessen Vater war, schlief ich traumlos fest.

Am nächsten Morgen erwachte ich erleichtert, war fast heiter. Meine sowie des Neugeborenen Zukunft lag zwar für mich noch im Dunkeln, doch eines wusste ich, das Kind gehörte zu mir, komme was wolle. Ich hatte es mir nicht leicht machen wollen, oh nein! Bei dem Gedanken an eine Adoption hatte ich dem winzigen Menschenkind eine bessere Zukunft sichern wollen. Jetzt jedoch musste ich einsehen, dass es dafür auch durch mein Vorhaben keine Garantie geben konnte. Was wäre aus dem Kind geworden, wenn die Adoptiveltern sich hätten scheiden lassen? In diesem Fall hätte mein Baby entweder auch nur einen Elternteil für das weitere Leben gehabt, oder wäre gar von beiden verstoßen worden. Dafür, dass es in einer anderen Familie eine gesicherte Zukunft gehabt hätte, gäbe es niemals eine Garantie. Fröhlich rief ich den Herrn vom Jugendamt an und teilte diesem meinen Entschluss mit. Gegen meine Erwartungen machte er mir keine Vorhaltungen, er war nicht einmal erstaunt. Freundlich wünschte er uns für die Zukunft alles Gute, über die menschliche Anteilnahme und selbstlose Hilfsbereitschaft dieser Behörde war ich angenehm überrascht. Bedingt durch diese Erfahrung konnte ich gar nicht verstehen, warum die Allgemeinheit diesem Amt so feindselig gegenüber stand. Auch für mich hatte der Name Jugendamt immer einen misstönenden Klang gehabt. Jetzt war mir klar, dass ich ab sofort zu dieser Institution eine positive Einstellung vertreten würde. In meiner heiteren, gelösten Stimmung rief Franco an. Wie ein Überfall prasselten die Beschimpfungen über den freundlichen Sachbearbeiter auf mich herab. Franco wäre dort gewesen, habe diesen aufgefordert, sofort alles in die Wege zu leiten, damit er Franco, sein Kind zu sich nehmen könne. Das habe dieser dämliche Typ mit der Begründung abgelehnt, dass die Mutter des Kindes dazu ihre Zustimmung verweigern würde.

Ich unterbrach seinen hektischen Redefluss indem ich ihm erklärte, mein Kind bliebe bei mir. Zuerst schimpfte er in seiner dümmlichen Fassungslosigkeit über den netten Herrn weiter. Dieser hatte Franco, als er dessen Geschrei leid war, einfach hinausgeworfen. Dann schlug Francos Stimmung schlagartig um. Er überhäufte mich mit liebevollen Worten. Er wäre glücklich, dass ich mich endlich besonnen hätte. Jetzt würde alles gut werden. Wie lange die Kleine denn noch im Brutkasten bleiben müsse? Wann wir die Babyausstattung kaufen könnten? Ob ich mir schon einen Namen ausgedacht hätte? (All diese Dinge hatten ihn vor Wochen nicht interessiert.) Urplötzlich liebte er mich wieder heiß und innig. Er versprach, später vorbei zu kommen. Die falschen Töne hörte ich nicht. Meine Gedanken beschäftigten sich nur mit meiner Jüngsten. Den Namen zu finden fiel mir nicht schwer. Meine Marotte, dass die Vornamen meiner Kinder den gleichen Anfangsbuchstaben wie der Meine hatten, wollte ich auch jetzt fortsetzen. Also entschied ich mich für den Namen Rabea. Dabei fiel mir ein, dass ich Franco einmal zugesagt hatte, das Baby nach ihm zu benennen. Also wählte ich um des lieben Friedens willen die Namen Rabea-Francesca.

Als Franco am Nachmittag in Begleitung seines besten Freundes kam, hielt ich ihm anstatt einer Begrüßung, die ausgefüllte Anmeldung fürs Standesamt wortlos hin. Die Anwesenheit seines Freundes verhinderte Diskussionen über den Ärger der vergangenen Tage. Bis zu meiner Entlassung überhäufte Franco mich mit Anrufen, Besuchen mit Blumen und Süßigkeiten. Er wollte wohl etwas gutmachen, dabei vergaß er, dass ich Süßes nie sonderlich gemocht hatte. Diese Oberflächlichkeit übersah ich diskret. Ramona holte mich am Entlassungstag ab. Die nächsten vier Wochen verbrachte ich in einem glücklichen Taumel zwischen Einkäufen von Babysachen und täglichen Besuchen in der Kinderklinik. In dieser Zeit versuchte Franco meine Liebe zurückzugewinnen. Ich gab mir Mühe zu verzeihen. Er rief mehrmals täglich an, ging sogar öfter mit mir zu unserem Baby. Auch bei mir zu Hause war er plötzlich ein häufiger Gast. Bevor ich die Kleine nach Hause holen durfte, musste ich des Öfteren zum Wickeln und Füttern erscheinen. So hatte ich die Möglichkeit darin ein wenig Übung zu bekommen und das Baby an mich zu gewöhnen.

Einen Tag vor Heilig-Abend war es endlich soweit, ich konnte mein Kind mitnehmen. Die Baby-Ausstattung war komplett. Franco hatte sich selbst übertroffen. Ohne zu maulen hatte er alles bezahlt, was gebraucht wurde. Er ließ es sich nun nicht nehmen, die Kleine selbst in der Tragetasche zu transportieren. Am Heiligen Abend kaufte er sogar die Lebensmittel für uns ein. Vor meinen entsetzten Augen packte er stolz Fressalien für eine sechsköpfige Familie aus. Er gab mir ungebeten das Versprechen, das Weihnachtsfest bei uns zu verbringen. Ich sah ihn an keinem der Tage. Nur meine Kinder, Annette und meine Nachbarin besuchten mich kurz. Am zweiten Weihnachten erschien überraschend mein Vater. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. Doch nach meiner Mutter hielt ich vergeblich Ausschau. In seiner unbeholfenen Art saß er fast drei Stunden wortkarg mir gegenüber und hielt sich an der Kaffeetasse fest. Wir fanden kein Gesprächsthema, der Fernseher überspielte die Hilflosigkeit meines Besuchers, sowie meine Gleichgültigkeit. Plötzlich erhob er sich, er müsse mal wieder nach Hause. Schon die Türklinke in der Hand, trug er mir endlich den Grund seines Erscheinens vor. Er wollte gerne die Kleine sehen. Stundenlang hatte er geduldig auf ihr Erwachen gewartet, doch die junge Dame hatte ihn vergeblich warten lassen. Als wir an ihr Bettchen traten, schlief sie noch immer fest. Andächtig, verlegen und hilflos blickte mein Vater nun auf sein süßes, jüngstes Enkelchen herab. Er wollte jedoch nicht, dass ich sie aus dem Schlaf holte. Lieber würde er noch mal wiederkommen, er habe ja noch bis zum Jahresanfang Urlaub. Von meiner Mutter sprachen wir nicht. Denn wir wussten beide, dass sie etwas länger brauchen würde, ihren Eigensinn und ihre Sturheit zu überwinden. Beim Abschied sagte ich ihm, dass ich mich über sein Interesse ehrlich gefreut hätte. Neunundzwanzig Jahre hatte ich zu ihm, meinem Stiefvater, nie eine Vater-Tochter-Beziehung aufbauen können. Das lag hauptsächlich daran, dass er ein kontaktarmer, mehr als zurückhaltender Sonderling war. Wie meine, früher so lebenslustige, Mutter es mit diesem Einzelgänger ausgehalten hatte, war mir ein Rätsel. Trotzdem war diese Ehe von Anfang bis jetzt sehr glücklich gewesen. Zwar hatte meine Mutter immer die Hosen angehabt, doch offensichtlich gefiel es den Beiden so. Seine Kontaktschwierigkeiten hatten sich auch auf meine Schwester und mich ausgedehnt. Während meine damals 12 jährige Schwester ihm Feindseligkeit entgegenbrachte, freute ich mich, mit 8 Jahren, endlich einen Vater zu bekommen. Obwohl er es mit mir wesentlich leichter hatte, wurden wir nie richtig warm miteinander. Meine Schwester hatte zwar nach einiger Zeit ihre feindliche Haltung soweit aufgegeben, nannte ihn Onkel, blieb aber auf starker Distanz. Von meinen beiden großen Kindern liebte er meine Älteste wie sein Eigenes. Die Kinder meiner Schwester mochte er einfach nicht. Er machte nie einen Hehl daraus. Umso erstaunter war ich nun über das Interesse an meinem Baby.

Die nächsten Wochen war ich ans Haus gefesselt und kam kaum zum schlafen. Rund um die Uhr musste ich alle drei Stunden das Kleine füttern und wickeln. Der einzige Vorteil bei diesem stressigen Tagesablauf war, dass ich die restlichen, überflüssigen Schwangerschaftspfunde rapide abnahm. Durch diesen Rhythmus fiel es mir kaum auf, dass Francos Anrufe selten, seine Besuche eine Rarität wurden.

Als die Kleine dann nach endlosen Wochen soweit war, dass sie nachts durchschlief, begann ich darüber nachzudenken. Ich rief des Öfteren in Francos neuem Roulette-Casino, 5 Minuten von meiner Wohnung entfernt an. Anfangs erklärte er mir, er habe momentan wenig Zeit. Dann ließ er sich verleugnen. Ab und zu brachte sein Bruder mir Geld für den Lebensunterhalt. Es reichte eben für das Nötigste. Als am nächsten Ersten Miete und Stromrechnung fällig waren, weder er noch Rino erschienen, wurde ich ungeduldig. Weil ich am Telefon immer wieder vertröstet wurde, kam Zorn in mir auf. Schließlich betrieb er, teilweise auch mit meinem Geld zwei Geschäfte. Also hatte ich ein Recht auf Unterhaltsleistungen. Wütend erklärte ich am Telefon seinem Bruder, dass ich noch am gleichen Tag mein Geld haben wolle. Ich bekam zur Antwort, ich solle später noch mal anrufen, denn Franco wäre noch nicht im Laden. Bei drei weiteren Anrufen bekam ich die gleichbleibende, gleichgültige Auskunft. Als bei meinem fünften Telefonat der Hörer abgenommen wurde, ohne dass sich jemand meldete, schrie ich, in der Annahme Franco wäre selbst am anderen Ende der Leitung, wütend in den Apparat. Wenn er mir nicht noch heute das nötige Geld brächte, käme ich mitsamt dem Baby vorbei. Dieses würde ich dann auf den Spieltisch legen, um allen Anwesenden zu erklären, dass er dieses winzige Wesen verhungern lassen wolle. Dann legte ich auf.

Zehn Minuten später trat er meine Wohnungstüre ein. Er prügelte wie von Sinnen auf mich ein. Auf dem Fussboden liegend, weinte ich fassungslos. Als ich mich nach einiger Zeit mühsam erhob, lag das Geld neben mir auf dem Boden. Er war schon wieder weg. Zuerst beruhigte ich das weinende Baby, wahrscheinlich hatte der Krach das Kind erschreckt. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Mein Körper war voll blauer Flecke und Schwellungen. Da ich den Kopf mit den Armen instinktiv geschützt hatte, war mein Gesicht verschont geblieben. Zitternd vor Aufregung rief ich meine Freundin an und erzählte ihr alles. Sie kam kurze Zeit später und beschwor mich, ich solle mich endlich von dem Schwein trennen. Bei meinen Fähigkeiten und Verbindungen wäre es doch kein Problem eine Arbeit zu finden. Wie lange ich mich noch von diesem Verbrecher demütigen lassen wolle? Aber wohin mit meinem Säugling? Sie hatte gut reden. Das Baby war ein Hindernis für meine Berufstätigkeit. Spontan bot Annette mir an, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. In ihrer Wohnung habe sie Platz genug, und ihre Kinder würden mit Freuden bei der Beaufsichtigung helfen. Wenn ich wolle, könne sie gleich ab Morgen die Kleine für ein paar Tage probeweise zu sich nehmen. Dann käme ich endlich mal wieder aus dem Haus. Dankbar nahm ich ihr Angebot an. Ein paar freie Tage könnte ich zum Ausschlafen nutzen. Annettes Hilfsbereitschaft gab mir wieder Hoffnung. Schlaflos im Bett liegend überlegte ich mir anschließend, dass es so nicht weitergehen könne. Durch Annettes Angebot wäre es mir möglich, eine Arbeit zu suchen. Sicher wäre es besser für die Kleine in einer netten Familie in Pflege zu sein, als bei einer ständig deprimierten Mutter. Bis zum Morgengrauen hatte ich das Für und Wider mehrere Male gegeneinander abgewogen. Dann stand mein Entschluss fest. Ich musste mich endlich von diesem Mann lösen, meine Abhängigkeit aufgeben, um wieder auf eigenen Füssen zu stehen. Schließlich hatte ich die Sorge für das Baby übernommen. Diese würde ich auch erfüllen, indem ich es selbst ernährte. Obwohl ich in dieser Nacht keine Minute geschlafen hatte, war ich munter und voller Hoffnung, als mein Kind wach wurde. Liebevoll versorgte ich die Kleine, dann duschte ich entschlossen. Nachdem ich mich angezogen und zu Recht gemacht hatte, begann ich eine Reisetasche zu packen. Sorgfältig packte ich alles ein, was das Baby für mehrere Tage brauchte. Fast fröhlich vertrieb ich mir die Zeit mit Aufräumen und Kaffee trinken.

Um acht Uhr morgens rief ich meine Freundin an und fragte, ob ich nun mit der Kleinen kommen könne. Nacheinander verstaute ich alles im Auto, als letztes die Tragetasche mit dem Baby. Dann fuhr ich vorsichtig mit meiner kostbaren Fracht los. Während der Fahrt hatte ich das Gefühl einer neu gewonnenen Freiheit. Annette und ich überlegten dann gemeinsam, was ich nun beginnen sollte. Übereinstimmend war uns klar, dass die nähere Umgebung für eine Arbeitssuche nicht in Frage käme. Franco würde dies schnell wieder zerstören. Also blieb nur die Möglichkeit weiter weg zu gehen. Aber wohin?

Adalbert, das war die Lösung! Er hatte auch in Amsterdam ein Casino, war ein guter Bekannter meines Ex-Freundes Udo und ein bekannter Casineri. Seit Beginn unserer Bekanntschaft hatten wir uns gut verstanden. Laut sprach ich meine sich hastig überschlagenden Gedanken aus. Seine Amsterdamer Adresse konnte ich über sein Geschäft an der Schweizer Grenze in Erfahrung bringen. Noch am gleichen Abend wollte ich dort anrufen. Erfreut über meinen Tatendrang bestätigte meine Freundin, dies sei ein guter Gedanke und unterstützte damit meinen neu erwachten Elan. Stundenlang diskutierten wir meine Zukunftspläne bis Rabea ihr Recht anmeldete. Sie hatte Hunger. Während Annette den Brei zubereitete, legte ich die Kleine liebevoll trocken. Dabei erzählte ich ihr in liebevollen Worten, was ihre Mama sich vorgenommen hatte. Sie krähte lachend wie zur Bestätigung.

Am Nachmittag fuhren wird dann mit Annettes Wagen zu meiner Wohnung, um den Kinderwagen zu holen. Mein Zweisitzer war für diesen Transport zu klein. Da ich inzwischen total übermüdet war, bat ich meine Freundin, alleine zurückzufahren. Ich wollte ein paar Stunden schlafen. Am frühen Abend begann ich zu telefonieren. Nach einigen Nachfragen kam Adalberts Mutter an den Apparat. Diese gab mir die Rufnummer des Amsterdamer Hotels, in dem ihr Sohn wohnte.

Nachdem ich Herrn Schwalbert gewünscht hatte, wurde ich sofort verbunden Ich hatte sogar Glück ihn noch in seinem Zimmer zu erreichen. Nach der erfreut-freundlichen Begrüßung fragte er mich nach dem Grund meines Anrufes. Oder ob ich Udo suchen würde? Diese Frage überhörte ich und erklärte ihm, dass ich ihn in Amsterdam besuchen wolle, um mit ihm etwas zu besprechen. Wieder einmal seinen guten Manieren bewundernd, hörte ich an genehm berührt, dass er sich freuen würde, mich als Gast begrüßen zu können. An welchen Zeitpunkt ich dabei gedacht hätte? Spontan erwiderte ich: Morgen. Da ich mit der Bahn fahren wolle, erst über die Fahrtzeiten Auskünfte einholen müsse, würde ich ihm die Ankunftszeit noch telefonisch mitteilen. Er gab mir die Rufnummer seines Casinos, sollte er jedoch nicht erreichbar sein, könnte ich dort eine Nachricht hinterlassen. Er würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass ich vom Bahnhof abgeholt werde. Erfreut bedankte ich mich. Er stellte keine überflüssigen Fragen. Glücklich rief ich Annette an und berichtete ihr die Neuigkeit. Sie freute sich mit mir und bot mir an, mich gleich abzuholen, da mein Fahrzeug ja vor ihrer Haustür stand. Gemeinsam fuhren wir zum Bahnhof, da die telefonische Auskunft am Abend nicht mehr besetzt war. Von den verschiedenen Reisemöglichkeiten entschied ich mich für den nächsten Abend. Anschließend genoss ich mit Annettes Familie einen fröhlichen Abend. Als die Kinder alle schliefen, saßen wir Frauen noch lange zusammen und diskutierten. Später bot sie mir dann an, bei ihr zu schlafen, da sie vermutete, dass ich alleine in meiner Wohnung Angst hätte. Dankend lehnte ich ab, bat sie jedoch, mich nach Hause zu fahren. Meinen Wagen wollte ich nicht mitnehmen, um den Eindruck zu erwecken, nicht zu Hause zu sein. Erst am nächsten Mittag wurde ich wach. Lange hatte ich mich nicht so erholt und ausgeschlafen gefühlt. Mit einer Tasse Kaffee genoss ich ausgiebig ein Vollbad. Fast eine Stunde blieb ich darin liegen. Meine Freundin rief an, um zu erfahren, ob alles in Ordnung wäre. Gut gelaunt erklärte ich ihr, dass ich mit Anziehen und Packen in zwei Stunden fertig wäre. Dann könne sie mich abholen.

Vorsorglich gab ich meiner Freundin meinen Wohnungsschlüssel, verabschiedete mich schweren Herzens von der kleinen Rabea, dann fuhr ich gegen neunzehn Uhr zum Bahnhof. Den Wagen versteckte ich in der hintersten Ecke des Parkplatzes.

Als ich kurz vor Mitternacht auf dem Amsterdamer Bahnhof eintraf, erwartete mich eine Überraschung. Udo holte mich ab. Damit hatte ich nicht gerechnet, es war mir auch nicht angenehm. Trotzdem begrüßte ich ihn freundlich, denn ich war froh, mitten in der Nacht in der fremden Stadt nicht alleine den Weg suchen zu müssen. Noch dazu war diese Stadt dafür bekannt, dass hier bedingt durch die Drogen-Kriminalität sehr viele Raubüberfälle auch auf offener Straße passierten. Kein angenehmer Gedanke für eine Frau ohne Begleitung.

Freundlich nahm er mir den Koffer ab und führte mich zu seinem Wagen. Außer: ob meine große Liebe schon geplatzt sei, verzichtete er auf weitere dumme Bemerkungen.

In der Fußgängerzone, gleich neben C&A befand sich Berts Casino. Staunend betrachtete ich die hell erleuchtete Fassade mit der riesigen Reklame. In den von innen beleuchteten blau gestrichenen Schaufenstern hatte man einige große Rechtecke frei gelassen, in denen große *Fotografien zu sehen waren. Auf diesen Bildern war ein Black-Jack-Tisch sichtbar, an dem ein freundlich lächelnder Croupier Karten an die Spieler verteilte. Offensichtlich war Udo hier sehr gut bekannt. Der Portier öffnete uns mit einem netten: ‚Willkommen’, die Tür.

Die Innenausstattung war noch imponierender als die Fassade. Die Einrichtung war super-elegant in blau-weiß-Gold gehalten. Dicke dunkelblaue Velours-Auslegware auf dem Boden, weiß-blaue Samttapeten an den Wänden, Messinglampen, sowie ein vergoldetes Treppengeländer ließen auf einen teuren und guten Geschmack schließen. Auch die Spieltische waren aus weißem Holz mit blauen Tüchern bezogen. Im Parterre standen eine kleine Theke, zwei Black-Jack-Tische und die Treppe nach oben. Diese führte weiter zur ersten Etage. Auf der Galerie hatte man in einer Raumvertiefung die Kasse eingerichtet. Die Rückwand war mit Spiegeln versehen, davor stand eine kleine, weiße Theke mit vergoldetem Stuckaufsatz. Auf der polierten Ablage stand ein großes Messingschild mit der Aufschrift: ’Kasse’. An der Kasse sah ich ein bekanntes Gesicht, Berts Schwägerin. Als ich diese freundlich begrüßen wollte, bekam ich nur eine mürrische Antwort. Schnell ging ich an ihr vorbei, denn ich wollte mir die Laune nicht verderben lassen.

Die nächste Spieletage war etwas kleiner. Wieder mit einer kleinen Theke und zwei Black-Jack-Tischen ausgestattet .Es erstaunte mich, dass es noch einen Aufgang zur zweiten Etage gab. Von außen konnte man die Geräumigkeit des Hauses nicht vermuten. Auf der am größten erscheinenden Etage war die Einrichtung bis auf die zusätzliche weiße Ledergarnitur, die Gleiche. Das Ganze musste ein Vermögen gekostet haben.

Adalbert saß, mit zwei mir unbekannten Herren, im Gespräch vertieft auf der großen Ledercouch. Als er mich sah, stand er höflich auf, um mich freudenstrahlend zu begrüßen. Bei der etwas überschwänglichen Begrüßung kam ich mir wie eine lang vermisste, verloren gegangene Schwester vor. Er nahm mich mit zu der Sitzgruppe und stellte mir die Herren vor. Dann bat er mich, Platz zu nehmen und nehmen und ein paar Minuten zu gedulden. Mit seiner Besprechung sei er gleich fertig.

Sofort kam eine junge Dame vom Service und fragte nach meinen Wünschen. Durstig bestellte ich Kaffee und Wasser. Wie selbstverständlich hatte Udo neben mir Platz genommen. Ich beachtete ihn kaum. Nur um ins Gespräch zu kommen erzählte er mir, dass er hier beschäftigt sei. Es gefiele ihm in dem schönen Amsterdam sehr gut. Später, nach dem Essen, könne ich sehen, dass in dieser Stadt der Bär los wäre. Ich verkniff mir eine abweisende Bemerkung. Desinteressiert hörte ich am Rande einige Gesprächsbrocken der drei Männer. Dabei ging es um Pferdewetten, bei denen die Städte Duisburg und Köln eine Rolle spielten. Einzelheiten verstand ich nicht. Während ich den Kaffee trank, sah ich mich gelangweilt im Raum um. Dabei entdeckte ich am Rande eines Spieltisches, seitlich hinter dem Croupier stehend, einen Bekannten. Ich war überrascht, dass Arthur der Belgier für Bert arbeitete. Lange Zeit war er mir als treuer Mitarbeiter des Reutlingers bekannt. Er war schon deshalb ein Anhängsel des Reutlingers, weil der mit Arthurs Tochter liiert war. Spontan ging ich auf den Belgier zu, dabei musste ich im Stillen über ihn lachen. Er war ein gepflegter, älterer-graumelierter Herr mit einem riesigen Schnäuzer. Er pflegte von sich scherzhaft zu behaupten: er sei ein Sitz-Riese, da er seine etwas zu kurz geratene Figur bedauerte. Da er jedoch im Moment eine sorgenvolle Miene zeigte, glich er eher einem Seehund.

Wir hatten uns lange nicht gesehen, deshalb fiel die Begrüßung sehr erfreut aus. Obwohl ich von Kartenspielen wenig Ahnung hatte, sah ich den Grund seiner Sorgenfalten sofort. Ein Spieler hatte einige Stapel Jetons vor sich stehen. Er war im Gewinn-Lauf. Arthur bat mich leise, ich möge schnell Adalbert verständigen. Eilig ging ich zu Bert und machte ihn auf die gespannte Situation aufmerksam. Mit ungehaltenem Gesichtsausdruck wendete er sich sofort dem Spielgeschehen zu. Neugierig folgte auch Udo. Da ich von Krisen im Moment genug hatte, ließ ich mich, den Kampf am Spieltisch ignorierend, wieder auf der Couch nieder.

Während Bert und Udo gespannt das Spiel verfolgten, hatte ich Gelegenheit die beiden unterschiedlichen Männer-Typen miteinander zu vergleichen. Adalbert, groß mit naturgewelltem, blondem Haar, kämpfte ständig mit Gewichtsproblemen. Zurzeit war er schlank. Seine konservative Art, sich nur mit dezenten, maßgeschneiderten Anzügen zu kleiden, ließ ihn wesentlich älter erscheinen als er war. Aus einem guten Elternhaus stammend, und wegen seines Besuches einer Hotelfachschule, verfügte er über ein gewandtes, selbstsicheres Auftreten, und hatte eine feine, vornehme Art sich auszudrücken. Ich wusste jedoch, dass diese feine englische Art reine Täuschung war. Er war für seine 32 Jahre ein cleverer, harter Geschäftsmann, der sich in der Casino-Branche lange einen Namen gemacht hatte. Seine ausschweifende Lebensweise, die sogar Bisexualität beinhaltete, traute man seiner äußerlich soliden, eleganten Erscheinung nicht zu. Udo, neben ihm, gleichaltrig, wirkte dagegen wie ein Koloss. Noch um einen halben Kopf Größer, mit dem inzwischen gewaltig gewordenen Bauch, (mir war nicht klar ob der vom Fressen oder Saufen kam) war fast schwarzhaarig, trug einen kleinen-dünnen Schnäuzer. Obwohl Anzug und Krawatte sicher teuer waren, wirkte er unordentlich, nahezu schlampig darin. Das lag wohl daran, dass er Kragenknopf und Schlips immer locker, die Jacke ständig offen und die Hose unter dem Bauch hängend trug. Bei meiner Betrachtung war mir nicht mehr klar, wieso ich fünf Jahre meines Lebens mit ihm hatte verbringen können. Zwar war er zu meiner Zeit wesentlich schlanker und auch gepflegter, doch konnte er mit noch so viel Mühe, seine asoziale Herkunft nicht verleugnen. Sicher würde er nicht allen Ernstes annehmen, dass ich seinetwegen nach Amsterdam gekommen war. Nach circa einer halben Stunde war die kritische Phase beendet. Der Spieler hatte den größten Teil wieder verloren. Dann verließen wir das Casino. Zu dritt. fuhren wir zu Adalberts Domizil. Er hatte im gleichen Hotel ein Zimmer für mich reserviert. Während ich mich umzog warteten die Herren in der Hotelbar. Als ich diese betrat, war auch Berts Freundin an wesend. Diesmal war es die kleine, langhaarige Spanierin Magdalena. Da Bert immer mehrere feste Freundinnen gleichzeitig hatte, musste man sich überraschen lassen, welche ihn gerade begleitete. Seine ‚Harems-Damen’ verstand er geschickt voreinander zu verbergen, indem er sie in seinen weit auseinander liegenden Geschäften als Aufsicht einsetzte. Grundsätzlich reiste er deshalb auf seinen Kontrollfahrten alleine. Am Ort wartete ja immer eine Gefährtin auf ihn. In Berts schwere Limousine stieg Udo, Gott sei Dank, vorne ein. Meine Bemühung mit Magdalena eine Unterhaltung zustande zu bringen scheiterte, da sie nur spanisch und französisch sprach. Sie hatte unsere Sprache also noch immer nicht gelernt. Wie Bert wohl mit ihr zu Recht kam? Schließlich sprach er nur deutsch.

Beim Rembrants-Plein fanden wir mit Mühe einen Parkplatz. Als wir das Nachtlokal ‚Nachtwache’ betraten, glaubte ich, schon einmal dort gewesen zu sein. Die Herren bestätigten es. Obwohl das schon drei Jahre zurück lag, erinnerte ich mich gut daran. Damals war Bert, vom nahegelegenen Belgien, mit Udo und mir hierhin gefahren, um uns ein Karten-Casino anzubieten. Auch damals hatten wir hier gegessen und uns über das zu erwartende Geschäft unterhalten. Udo war von Amsterdam sofort begeistert gewesen, er wäre gerne geblieben. Mir jedoch hatte dieses hektische, nächtliche Treiben gar nicht zugesagt. Nun musste ich mir von Udo anhören, dass mein damaliges Ablehnen dieses Geschäftes ein großer Fehler war. Inzwischen liefe dieser kleine Laden unter der Leitung des Reutlingers auf Hochtouren. Berts damalige Idee, Black-Jack in dem Lädchen zu veranstalten, hatte sich inzwischen bezahlt gemacht. Dieses Spiel stand derzeit hoch im Kurs.

Nach dem Essen beratschlagten die beiden Männer, wohin man gehen solle. Da ich nicht unhöflich sein wollte, ließ ich mir meine Unlust nicht anmerken. Eigentlich war ich ja nur hierhergekommen, um Bert nach einem Job für mich zu fragen. Doch war ich mittlerweile etwas unsicher geworden. Was sollte ich in Berts Casino machen? Von dieser Art Spielen hatte ich wenig Ahnung.

Die Frage gedanklich verschiebend, ging ich lustlos mit. Dann sah ich desinteressiert dem Kabarett-Programm und Udos reichhaltigen Alkoholgenuss zu. Die ganze Zeit hatte Bert versucht festzustellen, ob ich noch Interesse am Zusammensein mit Udo hätte. Ich überhörte seine Anspielungen diskret. Da ich den anderen nicht die Stimmung verderben wollte, zeigte ich auch meine Müdigkeit nicht. Endlich brachen wir auf. Im Hotel angekommen gingen wir Frauen sofort auf unsere Zimmer. Die Männer fuhren noch mal ins Casino. Dies war ja rund um die Uhr geöffnet. Zuvor hatte Bert mir vorgeschlagen, mich bei ihm zu melden wenn ich ausgeschlafen hätte. Traumlos und fest schlief ich bis in den Nachmittag. Während das Badewasser lief rief ich Bert an. Wir verabredeten uns in einer Stunde in der Halle. Dort traf ich ihn dann endlich alleine.

Anfänglich etwas unsicher, erklärte ich ihm meine Situation. Nachdem er mir schweigend zugehört hatte, bot er mir an, bei ihm als Kassiererin anzufangen. Über sein spontanes Entgegenkommen war ich sehr erfreut. Wir vereinbarten, dass ich eine Woche später zurückkommen und den Dienst antreten solle. Am Ende des Gespräches fragte ich etwas beschämt, ob er eines meiner Schmuckstücke kaufen wolle. Ich zeigte ihm das mitgebrachte Weißgold-Armband. Das schöne Schmuckstück in Spangenform hatte eine Schiene, auf der zwei kleine Brillanten die Enden markierten, und ein Größerer Stein in der Mitte bei jeder Bewegung hin und her lief. Trotzdem hatte ich dieses Geschenk von Udo nie sonderlich gemocht. Da ich nun dringend Geld brauchte wollte ich es verkaufen. Sicher war mir anzumerken, dass mir dieses Anliegen peinlich war. Höflich bestätigte er die ausgefallene Schönheit dieses Stückes und fragte nach meiner Preisvorstellung. Nachdem ich den Preis zögernd gesagt hatte, griff er wortlos in die Tasche und gab mir mehr als ich verlangt hatte. Der Mehrbetrag wäre für die Reisekosten. War mir das unangenehm! Die beschämende Situation überspielte er geschickt indem er mir die Aufgabe an der Casino-Kasse erklärte. Mir war sofort klar, dass er mich nicht für dumm hielt, sondern lediglich die Peinlichkeit des Momentes verdecken wollte. Die folgenden Stunden verbrachte ich in hoffnungsvoller, fröhlicher Stimmung. Glücklich endlich wieder eigens Geld in der Tasche und einen Verdienst in Aussicht zu haben, sah die Zukunft für mich wieder rosiger aus. Als wir dann später in seinem Geschäft waren, bat ich, telefonieren zu dürfen. Meiner Freundin berichtete ich freudig die guten Neuigkeiten. Doch sie versetzte mir einen Tiefschlag. Franco hatte auf der Suche nach mir das Kind bei ihr entdeckt. Es hatte riesigen Protest gegeben. Zwar hatte Annette ihm nicht verraten wohin ich gefahren war, jedoch das es bei meiner Rückkehr Probleme geben würde, war mir klar. Sie bat mich bei Ramona anzurufen, da Franco von dieser meinen Wohnungsschlüssel verlangt hatte. Als ich wusste, dass es meinem Baby gut ging, rief ich meine Aufregung. Sie wollte unbedingt wissen wo ich mich aufhielt, doch diese Auskunft lehnte ich konsequent ab. Franco hatte ihr erklärt, seine Frau habe ihn meinetwegen hinausgeworfen, nun stünde er auf der Straße. Sie solle ihm den Schlüssel zu meiner Wohnung geben, oder er werde die Türe aufbrechen. Da ich mir Arger mit Nachbarn und Vermieter ersparen wollte, erlaubte ich meiner Tochter, den Schlüssel an Franco auszuhändigen. Ich werde am nächsten Tag zurückkommen und die Sache selbst klären. Meine ängstlichen Gedanken an die bevorstehende Auseinandersetzung schob ich vorerst beiseite. Dieses erfolgreiche Wochenende wollte ich mir nicht verderben lassen.

Als ich den Spielraum betrat, konnte ich vor lauter Menschen kein bekanntes Gesicht entdecken. Auch auf den beiden oberen Etagen war ein solcher Hochbetrieb, dass ich mich regelrecht durchzwängen musste. Ganz anders als ich es von derartigen Amüsierbetrieben in Deutschland kannte, schien hier samstags jeder auszugehen.

Bert und Udo saßen in der Polsterecke. Nachdem ich mich dazu gesetzt hatte, entschuldigte sich Bert, er müsse Magdalena abholen. Dann ging er. Nun saß ich mit Udo alleine auf der Couch. Er spielte den Alleinunterhalter. Er würde sich freuen demnächst mit mir zusammen zu arbeiten, doch es wäre problematisch hier eine Wohnung zu finden. (Was wollte er damit andeuten?) Ich könne bei ihm wohnen, bis ich etwas passendes gefunden hätte. (Aha!) Ich bedankte mich für sein freundliches Angebot, lehnte aber energisch ab.

Verständnisvoll grinsend versprach er dann, sich in den nächsten Tagen mal für mich zu bemühen. Ich möge sein Angebot nur als kollegiale Geste, nicht als Annäherungsversuch sehen. Er könne verstehen, dass ich nicht zu ihm ziehen wolle. (War es möglich? Hatte ich ihn bisher verkannt? Man spielte den Samariter?)

Zu viert verbrachten wir dann ein paar wirklich schöne Stunden. Bert lud uns in ein elegantes japanisches Nobel-Restaurant ein. Dort hatten wir das Vergnügen zuzusehen, wie der Koch an unserem Tisch stehend, ein köstliches Mahl in elf Gängen zubereitete. Es war ein Erlebnis für Augen und Gaumen. Die ganze Zeremonie dauerte fast 4 Stunden.

Auf meinen Wunsch machten wir anschließend einen Abstecher zu dem Casino des Reutlingers. Ich hoffte ihn dort zu sehen. Der Laden war sehr gut besucht. Einige der Croupiers kannte ich. Der Reutlinger war nicht anwesend. Die Nacht wurde lang. Wir zogen von einer Lokalität zur anderen. Je weiter die Uhr auf Morgen rückte, umso mehr tranken die beiden Männer. Magdalena und ich wurden immer schweigsamer. Ihr passte der übertriebene Alkohol-Konsum der Beiden offensichtlich auch nicht.

Offenbar hatte Adalbert sich vorgenommen, Udo und mich wieder zusammenzubringen. Seine dementsprechenden Andeutungen wurden immer klarer. Für mich war es fast nicht mehr zu überhören. Da ich mit meinem zukünftigen Chef jedoch kein Streitgespräch anfangen wollte, schwieg ich einfach. Obwohl ich eigentlich noch bis zum nächsten Abend bleiben wollte, zog es mich von Stunde zu Stunde mehr nach Hause. Die Feier wurde mir immer unerträglicher. Konsequent erklärte ich nun meinen Begleitern, ich müsse nun weg. Da beide zu viel getrunken hatten um zu fahren, entschloss ich mich, ein Taxi zu nehmen. Vom Hotel bis zum Bahnhof wären es ja nur ein paar Schritte, die würde ich dann zu Fuß gehen. Bevor mir jemand widersprechen konnte, verabschiedete ich mich schnell.

Neun Uhr zweiunddreißig lief der Zug im Bahnhof unserer Stadt ein. Müde stieg ich in meinen Wagen und fuhr als erstes zu meiner Freundin. Zuerst wollte ich die Kleine sehen, ich hatte das Baby sehr vermisst. Da Rabea noch schlief musste ich mit der Begrüßung noch etwas warten. Liebevoll blickte ich, vor dem Kinderwagen stehend, auf das niedliche Ding. Sie war alle Mühen wert.

Bei einer Tasse Kaffee sitzend, fragte Annette, wie ich Franco erklären wolle, das ich ab nächste Woche eine Arbeit übernehmen wolle. Ich antwortete: am besten gar nicht. Ich müsse erst einmal abwarten, was das Gespräch mit ihm ergäbe. Schon jetzt fürchte ich mich davor. Nur konnte ich der Sache nicht ausweichen. Sollte es tatsächlich stimmen, dass er sich bei mir häuslich niedergelassen hatte, würde er mir nie erlauben, dass ich wegging. Auch nicht um zu arbeiten, das war mir klar. Obwohl es ihm eigentlich recht sein musste, dass ich seine angeblich so schlechte finanzielle Lage nicht noch belastete. Aber da er ja für seine Bequemlichkeit eine Frau brauchte, seine, aus welchem Grunde auch immer, im Moment nicht mit ihm zusammen sein wollte, würde er mich sicher als Ersatz benutzen wollen. Wie ich es bewerkstelligen konnte, meine Arbeitsstelle trotzdem anzutreten, war mir noch nicht klar. Also musste ich mich überraschen lassen, was nun passierte. Als Annette fragte, ob ich keine Angst vor ihm hätte, gab ich zu: große. Doch was nützte das? Ich musste da durch! Beladen wie ein Packesel mit Baby-Tragetasche und Gepäck stand ich dann klopfenden Herzens vor meiner Wohnungstür. Diese ließ sich jedoch nicht öffnen. Von innen steckte der Schlüssel. Auch das noch, dachte ich. Wenn ich ihn jetzt wachklingeln müsste, würde seine Laune nur noch schlechter werden. Was blieb mir übrig, anders kam ich nicht in meine eigene Wohnung. Als hätte er auf das Klingelzeichen gewartet, stand er Sekunden später mit verschlafenem, dennoch drohendem Gesichtsausdruck im Türrahmen. Kommentarlos ging er zurück ins Bett und sah zu, wie ich mich mit dem Kind und dem Gepäck abmühte. Das schlafende Baby stellte ich samt Tragetasche auf der Couch ab.

Auf sein Rufen ging ich ins Schlafzimmer. Im Bett sitzend, mit vor der Brust verschränkten Armen, fragte er in bösem Ton, wo ich gewesen sei. Als ich wahrheitsgemäß antwortete ich wäre in Amsterdam auf Arbeitssuche gewesen, tobte er los. Er beschimpfte mich in der übelsten Weise. Ich solle ihn nicht belügen. Ich hätte herumgehurt, während ich mein Kind bei fremden Leuten abgegeben hätte. In großer Sorge um sein Kind hätte er mich nächtelang gesucht. In der winterlichen Kälte hätte er ohne Wohnmöglichkeit auf der Straße gestanden. Das wäre nun mein Dank dafür, dass er die Nächte damit verbringen würde, für uns zu arbeiten. Durch meine Schuld läge er jetzt mit hohem Fieber seit einem Tag im Bett. Zitternd vor Angst rechnete ich damit, dass er jeden Moment auf mich losgehen würde. Stattdessen spielte er jedoch den Kranken und fing plötzlich an zu jammern. Nachdem ich die Temperatur gemessen, dabei festgestellt hatte, dass er tatsächlich neununddreißig Grad hatte, versorgte ich ihm mit Wadenwickeln. Dann fuhr ich in die Apotheke um Medikamente zu holen. Fünf Tage lang pflegte ich einen jammernden, eingebildeten Kranken. Das Fieber war nach einem Tag schon wieder weg, doch offensichtlich gefiel er sich in der Rolle des bemitleidenswerten Kranken so gut, dass er seine Jammerei nicht aufgab. In dieser Zeit wusste ich manches Mal nicht, auf welches Geschrei ich zuerst reagieren sollte. Auf das des Babys oder auf seines. Ich war total im Stress.

Am fünften Tag verlangte er gegen Abend plötzlich, ich solle endlich einen Arzt holen. Auf meinen Hinweis, er habe nichts, was noch zu behandeln wäre, warf er mir vor, ich wolle ihn nur sterben lassen. Nach endlosem Hin und Her rief ich, fertig mit den Nerven, den Notarzt an. Dieser war sehr ärgerlich, dass wir ihn gerufen hatten. Er erklärte Franco, dass man nicht noch mehr tun könne, als ich schon für ihn getan hätte. Schließlich wäre er schon wieder gesund. Er solle sich nicht so verstellen, er habe nichts mehr. Dann ging er kopfschüttelnd. Auch ich hatte das Gefühl, dass Franco sich nur wichtigmachen wollte.

Gegen dreiundzwanzig Uhr passierte es dann. Während ich der Kleinen das Fläschchen zubereitete, hatte ich sie zu Franco ins Bett gelegt. Als ich das Schlafzimmer betrat, fing das Baby fürchterlich an zu schreien. Ich hatte gerade noch gesehen, dass Franco das Kind in die Wange gekniffen hatte, deshalb schrie die Kleine vor Schmerzen. Zornig schimpfte ich ihn aus, was er für ein Grobian, ein Rabenvater sei? Einem so kleinen Baby so weh zu tun. Ich war Außer mir. Er behauptete, das könne dem Baby nicht weh tun, er habe nicht fest gekniffen. Wie zur Demonstration kniff er mich in die Wange, dass ich vor Schmerz aufschrie. Aus einer spontanen Reaktion heraus schlug ich zu. Ich gab ihm eine kräftige Ohrfeige. Das war ein Fehler. Wütend sprang er aus dem Bett, dann trat und schlug er mich. Das Baby schrie, er lauter!

Was ich mir einbildete, wer ich denn sei? Er werde mir zeigen, wie weit ich gehen dürfe! Ich hätte das zu tun, was er wolle und nichts anderes. Wenn ich es noch einmal wagte, ohne seine Erlaubnis irgendwohin zu gehen, werde er mich umbringen. Brutal hatte er mich am Boden zusammengeschlagen. Dann ging er gelassen ins Badezimmer.

Schnell nutzte ich die Gelegenheit ins Wohnzimmer zum Telefon zu laufen. Zitternd und weinend rief ich hastig die Polizei an und bat um Hilfe. Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, als er hinter mir stand. Wütend schrie er mich an, mit wem ich telefoniert hätte. Weil ich nicht antwortete wurde er immer rasender. Während er mir gegen die Rippen trat, befahl er mir zornig schreiend, den Gesprächspartner zu nennen. Ich konnte nur noch vor Schmerzen wimmern. Nach endlosen Minuten ließ er von mir ab und ging ins Schlafzimmer. Wie durch Watte hörte ich seinen Befehl, jetzt endlich die Kleine zu füttern. Mühselig schleppte ich mich ins Bad um mein Gesicht zu waschen. Als er in dem Türrahmen erschien konnte ich meine Todesangst kaum verbergen. Doch er sah mir nur zynisch grinsend zu und wiegte dabei das Baby im Arm. Als er dann mit dem Kind wieder ins Bett verschwunden war, klingelte es.

So schnell ich konnte sprang ich an die Tür und öffnete. Als die beiden großen Uniformierten die Wohnung betraten, sah er diese erstaunt-dumm an. Damit hatte er nicht gerechnet. Die eindeutige Situation erkennend, forderten die Beamten den Übeltäter auf, sofort die Wohnung zu verlassen. Da sie Franco mit Namen ansprachen, war er ihnen offensichtlich kein Fremder. Mir noch einen bösen Blick zuwerfend verließ er kommentarlos die Wohnung.

Kurze Zeit später erschienen Ramona und Annette. Meine Freundin überzeugte mich, dass ich zur Untersuchung ins Krankenhaus müsse, schließlich wäre ein Rippenbruch nicht auszuschließen. Dort stellte man jedoch nur Prellungen, Quetschungen und Blutergüsse fest, wobei mein Gesicht noch am übelsten zugerichtet war.

Schon am nächsten Morgen war es derartig geschwollen, dass ich bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Durch die Rippenquetschung und den in Mitleidenschaft gezogenen linken Arm war ich nur unter starken Schmerzen in der Lage das Kind zu heben.

Plötzlich erschien meine Mutter. Sie war wohl von Ramona verständigt worden. Schweigend versorgte sie, mit zorniger Miene, das Baby und erledigte die anfallenden Hausarbeiten. Obwohl ich genau wusste, dass ich ihr nichts verbergen konnte, log ich trotzdem, als ich ihren besorgten Blick auffing: „Mir geht es gut, Mutti. Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich schaff es schon.“ Zwei Tage später gab ich meinem zukünftigen Chef telefonisch Bescheid, dass ich meinen Arbeitsantritt um eine Woche verschieben müsse.

Als Stichling unter Haien

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