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1.) Die Aasgeier kommen

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Durch die Schalteröffnung unseres Kassenhäuschens blicke ich gelangweilt in den Saal. Obwohl heute eigentlich der beste Geschäftstag der Woche, Freitagabend ist, sind wir nur mäßig besucht. Die Spieltische sind recht mager besetzt. An zwei von drei Roulette- Tischen sitzen ein paar alte Tanten (Rentnerinnen) und ca. zehn Ausländer stehen um die Tableaus herum. Die großen Spieler fehlen.

„Alles nur Lutscher! Ein tödlicher Freitag. Hoffentlich geht das nicht den ganzen Abend so weiter. Ist ja elend!“ sagt Monika die Kassiererin, welche neben mir auf ihrem Hocker sitzt.

Mit dem Kopf nickend antworte ich: „Ja, es ist zu ruhig heute. Dünnes Spiel. Woran das nur liegt? Aber es ist ja erst acht Uhr, es kann ja noch besser werden. Ich denke in einer Stunde wird es schon voller sein. So ist der Betrieb nicht normal. Warten wir es also ab.“

Mit einem gelangweilten Seufzer verlasse ich den kleinen, für zwei Personen viel zu engen Kassenraum. Als ich die Kassentüre hinter mir zuziehen will, geht die Eingangstür unseres Casinos auf. Erstaunt sehe ich den eintretenden Gästen entgegen, dabei kommt mir der flüchtige Gedanke: die ersten Aasgeier kommen.

Es ist mein Freund ‚Reutlinger’ mit seinem Gefolge. Er wird begleitet von zwei Geschäftsführern seiner Unternehmungen, dem langen, blonden Holländer Manuel und dem kleinen, blassen Österreicher ‚Wiener Dieter’. In seinem eigenartig watschelnden Entengang kommt Freddi, genannt. Der Reutlinger’ auf mich zu. Einer Angewohnheit folgend rückt er seine Brille auf die Nasenspitze und sieht mich über deren Rand hinweg an. Mit einem flinken Blick in den Saal checkt er mit einem abfälligen Grinsen das bescheidene Spielgeschehen durch. Die Mundwinkel seines breiten Mundes, von dem boshafte Gegner behaupteten, er gleiche einem Fischmaul, zieht er resignierend nach unten. Dann sieht er mich mit seinen hellen, wachsamen Augen abschätzend an. Mir freundlich die Hand reichend sagt er: „Na, hast Du es noch immer nicht geschafft, Deine Bude ganz hinzurichten?

Wie ich sehe, hast Du ja noch ein paar Gäste. Ich hatte gedacht, nach diesem Vorfall wäre Deine scheußliche Bude nun endgültig leer. Nun ja, ein paar Zocker sind Dir also noch erhalten geblieben.“ Der ‚Wiener Dieter’ klopft mir im Vorübergehen kameradschaftlich auf die Schulter und sagt: „Servus Ruth! Gestresst schaust aus. Nu bist ja endlich diese Sorge los. Sei froh!“

Mit diesen Worten geht er weiter in den Saal. Er will seine Kumpels begrüßen. Manuel umarmt mich, küsst mich freundschaftlich auf beide Wangen und meint mitfühlend: „Daag-Kleentje! Hebb jeeh allet good overstanden?” Der Reutlinger sieht amüsiert zu, wie sich der lange, 1m 95 große Manuel zu mir etwas zu kurz geratenem weiblichen Zwerg runter beugt und mich umarmt. Grinsend sagt er: „Welch eine liebevolle Begrüßung! Ich wusste gar nicht, dass Ihr Euch so gut versteht. Nun lass es gut sein, Manuel. Ich muss mit der Ruth etwas besprechen. Sieh Dir inzwischen mal den Laden und das Spiel an. Aber nicht Zocken! Soviel Zeit habe ich nicht. Wir müssen nach einem Kaffee weiter. Nicht das ich auf Dich warten muss, weil Du im Brand bist. Komm Ruth, wir setzen uns mal dort hinüber, ich will mit Dir reden.“

Damit zieht er mich, meinen Arm festhaltend, zu der Polstergarnitur am Fenster. „Was ist das denn? Mit Plastikfolie bezogen? Ist die neu?“ fragt er auf die Garnitur deutend.

Seinem Blick folgend verziehe ich angewidert das Gesicht. Dann erkläre ich ihm: „Die hatte ich für Franco gekauft. Heute habe ich die abholen lassen, ich weiß nicht wohin damit. Er braucht sie ja nun nicht mehr! Hier stehen bleiben kann die auf gar keinen Fall. Schon die Farbe passt hier nicht hinein. Blau zu Grün, scheußlich! Ich werde sehen, ob ich die verkaufen kann.“

Nachdem wir auf der mit Plastik bezogenen Couch Platz genommen haben, kommt Freddi sofort zur Sache: „Du machst ja Geschichten! Das hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Hast endlich Courage bewiesen. Ich verstehe nur nicht, warum Du mich nicht angerufen hast. Das tust Du doch sonst immer, wenn Du Hilfe brauchst. Wir sind doch langjährige Freunde. Du weißt doch, dass ich Dir wie immer, auch in diesem Fall, geholfen hätte.“

Sauer antworte ich: „Red nicht so einen Scheiß! Es stimmt zwar, dass Du mir immer aus der Patsche geholfen hast, aber in diesem Fall bin ich doch seit Jahren auf taube Ohren gestoßen! Ist doch wahr! Seit zwei Jahren habe ich Dir oft genug erzählt, dass ich es so nicht mehr aushalte. Dass etwas geschehen muss, weil er mich moralisch und mit Drohungen erpresst. Was hast Du mir immer zur Antwort gegeben? Ach, Du liebst doch Deinen Schnulli-Bulli, den willst Du gar nicht loswerden! Das war Dein Kommentar. Gib es ruhig zu. Jetzt habe ich mir selbst geholfen. Da ist es leicht für Dich, mir Deine Hilfe anzubieten. Zu spät, nicht mehr nötig! Also lassen wir das Thema am besten.“

Nachdenklich sagt Freddi: „Du hast recht. Aber Du musst verstehen, dass man in solchen Dingen in einer Außenposition steht. Man kann sich schlecht in anderer Leute Beziehungen rein denken. Geschäftlich ist das anders. Aber bei Ehen oder ähnlichen Partnerschaften blickt man als Außenstehender nicht durch! Bei Dir wusste ich wirklich nicht, was Du nun eigentlich wolltest. Du warst zu wankelmütig! Noch vor vier Wochen habe ich gedacht: die Alte weiß selbst nicht was sie will. Die wird wohl nie wach werden. Als ich dann von der Geschichte hörte, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht, um Dir meine Hilfe anzubieten. Mal im Ernst, Ruth. Ich muss Dir sagen, dass das ganze Theater kein Vorteil für Dein Geschäft ist. Dass der Laden so dünn besucht ist, ist der Beweis dafür. Den ganzen Ärger, den Dein Schnulli-Bulli hier wochenlang veranstaltet hat, haben sicher auch die Spieler mitbekommen. Deine Leibwächter tragen auch dazu bei, dass die Leute Angst haben. Ich weiß, dass die Bodyguards im Moment eine Beruhigung für Dich ist. Nur für das Geschäft ist die Leibgarde nicht gut. Das sollte Dir zu denken geben. Wenn Du meinen Rat hören willst, mach den Laden vierzehn Tage zu. Häng ein Schild an die Tür: wegen Renovierung geschlossen! Renoviere die vergammelte Bude, hat die sowieso nötig. Fahr in der Zeit in Urlaub und Du wirst sehen, danach brummt der Laden wieder. Wenn Du so weiter machst, bewacht wie die Queen, dauert es lange, bis die Spieler ihre Angst verloren haben und wieder hierhin kommen. Glaube meiner Casino-Erfahrung, das ist der schnellste und beste Weg um Vergessen zu erzeugen. Bisher hab ich Dich doch nicht schlecht beraten, oder?“

Schweigend hatte ich mir seinen Vortrag angehört, dann antworte ich leicht aufbrausend: „Du hast gut reden! Bin ich Onassis Tochter? Leider nicht! Renovierungs-Urlaub, Geschäft abschließen, von was? Was glaubst du, was es mich gekostet hat Franco loszuwerden? Ich habe für Deine guten Ratschläge kein Geld. Bin froh, dass ich noch die Kassen-Lage habe. Es darf schon kein Größerer Verlust-Tag kommen, dann kann ich schon nicht mehr nachfassen. Ich wäre dann gezwungen, einen Partner zu nehmen, aber das will ich im Moment nicht. (So, nun weißt Du es. Mach Dir also keine unnötigen Hoffnungen) Ich weiß, Du meinst es gut, Freddi. Ich danke dir für Deine Anteilnahme, aber leider kann ich mir das alles nicht erlau­ben.“

Abwehrend hebt er die Hand und sagt ärgerlich: „Was glaubst Du eigentlich, warum ich hier bin? Um Dir kluge Vorträge zu halten bestimmt nicht. Hältst Du mich für so dumm, dass mir Deine Probleme nicht klar sind? Pass auf, was wird die Renovierung kosten? Ich schätze zehn- bis fünfzehn Mille. Die leihe ich Dir. Nein warte, lass mich ausreden. Die scheußliche alte Theke muss auch auf den Müll. Das ist kein Problem. Ich habe noch eine schöne Mahagoni-Theke in Holland auf Lager stehen. Mit Überbau, mit eingebauten Messinglampen. Die passt gut in den hohen Raum hier, macht etwas gemütlicher. Die kannst Du Dir abholen. Schenk ich Dir, ich brauch sie sowieso nicht mehr. Das Geld kannst Du mir zurückgeben, wie Du es hast. Damit kannst Du Dir Zeit lassen. Also ist das ein Angebot? Hör auf mich, Ruth. Du machst einen so gestressten Eindruck, Du brauchst dringend Erholung. Musst abschalten, das kann man am besten im Urlaub. Nun sieh mich nicht so an, ich leihe Dir auch noch das Geld dafür, wenn Du es nicht hast. Was aber noch wichtiger ist, das Casino braucht neuen Aufschwung. Es ist doch eine Schande um diesen Laden, Du bist hier konkurrenzlos, da muss doch mehr rauszuholen sein. Guck Dir doch dieses dünne Gelutschte an. (‚Daran bist Du doch mit Schuld. Noch vor fünf Monaten, als ich hier alleine Regie führte, sah es anders aus. Da war der Laden proppenvoll. Mit Deinem ‚Wiener’ hat der Rücklauf angefangen.’) Davon kannst Du doch kaum die Kosten bezahlen, geschweige denn verdienen. Ich helfe Dir aufgrund unserer langjährigen Freundschaft. Dabei habe ich keinerlei geschäftliche Interessen. („Dass ich nicht lache. Ich kenne Dich.’) Andere schon gar nicht, das weißt Du. („Jetzt nicht mehr. Nachdem Du Dir mehrere Körbchen eingefangen hast. Früher schon.’) So, ruf mich an, wenn Du es Dir überlegt hast. Jetzt muss ich wieder weiter. Ich bin mit Ede im ‚Hotel Luisa’ verabredet. Bis dann.“

Mir freundlich die Hand reichend steht er auf. „Du hast wahrscheinlich recht.“ sage ich, während ich ebenfalls aufstehe. „Ich rufe Dich an. Erst mal danke ich Dir für Deine Hilfsbereitschaft. Und grüß Ede von mir.“ Während er in den Spiel-Saal geht, bleibe ich im Durchgang stehen. Obwohl während unseres Gespräches mehrere Gäste gekommen sind, können diese den geräumigen Saal nicht füllen. Gähnend leer sieht es mit den wenigen Anwesenden aus. Es gibt nichts langweiligeres, als ein leeres Casino. Freddi hat sich zu Manuel gesellt, der vor dem Kessel steht und den Lauf der Kugel sowie die Spiel-Gewohnheiten der Gäste aufmerksam zu beobachten. Die beiden sprechen leise miteinander. (‚Beratschlagt ihr schon, wie ihr die Lage hier ändern könnt? Diese Überlegung könnt ihr Euch sparen’.) Auf der linken Seite des Raumes sitzt der „Wiener Dieter’ mit zwei Jun­gens meiner Bodyguard auf der grün-braun gestreiften Polster-Garnitur. Lachend diskutieren die Männer. Wahrscheinlich mal wieder über die neuesten Disco-Eroberungen. Die Teenies! Außer Sport, Weiber und Geld haben die eh kein Thema.

Die Gemeinsamkeit das Zocken hatte sich durch des Reutlingers Eingreifen ja vor Kurzem erledigt. Recht hat der Reutlinger ja, denke ich. Für die ‚Soliden’ unter den Zockern, die hier verkehren, sind meine Leibwächter sicher ein beängstigender Anblick. Kerle wie Bäume, können vor Kraft kaum gehen. Deshalb sind auch nur die ‚Unverwüstlichen’ übrig geblieben. Leider sind das die Leute, deren Geldbeutel durch die jahrelange Zockerei sowieso nur noch dünn gefüllt sind. Freddi hatte absolut recht. Ich musste mir etwas einfallen lassen, um die miese Lage zu ändern. Aber was? Möglichkeiten gäbe es mehrere. Nicht nur die Vorschläge des Reutlingers. Ich könnte Anteile verkaufen. Aber an wen? Freddi würde sich bestimmt gerne wieder beteiligen. Deshalb hatte er sicher den Holländer mitgebracht. Scheinheiliger Hund, als ob ich Dich nicht durchschauen würde. Logisch bist Du aus geschäftlichem Interesse gekommen! Die Freundschaft kommt bei Dir immer an zweiter Stelle. Und ob Du wusstest, dass Manuel und ich uns mögen. Das weißt Du noch aus der Zeit in Amsterdam. Denke ich. Vielleicht wäre er ja wirklich mit seiner liebenswürdigen, freundlichen Art der richtige Geschäftsführer für mein Publikum. Auch seinen holländischen Dialekt mochten die Rheinländer sicher. Mit mir sprach er zwar immer nur ‚Neederlands’, wenn wir uns begegneten, aber er konnte recht gut Deutsch. Sein Charme würde bei unseren ‚Omis’ bestimmt gut ankommen. Die ‚Rostigen’ stehen auf Charme. Aber der Versuch einer geschäftlichen Partnerschaft mit dem Reutlinger war vor vier Wochen durch Franco Eingreifen, nach drei Monaten ‚saure Gurkenzeit’ beendet worden. Der geringe Erfolg unserer Zusammenarbeit lag eindeutig an der falschen Besetzung des Geschäftsführer-Postens. Mehr als einmal, in diesen drei Monaten, hatte ich dem Reutlinger gesagt, dass der ‚Wiener’ zwar ein Kumpel aber kein ‚Bänker’ und hier deplatziert sei. Für das hiesige Spieler-Potenzial, hauptsächlich aus Rentnerinnen, kleinen Geschäftsleuten und ruhigen Ausländern bestehend, also einem zivilisierten Publikum, war er einfach der falsche Mann. Mit diesen Leuten konnte er nicht umgehen. Er wäre für einen ‚Räuberzock’ der Richtige! Da Freddi jedoch, trotz mehrfachen Bitten meinerseits, keinen anderen Mann geschickt hatte, ging das Geschäft mehr und mehr bergab. Aus dieser Erfahrung heraus wollte ich vorerst von einer neuen Partnerschaft nichts wissen. Sollte allerdings bei dieser dünnen Geschäftslage und meinem finanziellen Engpass bleiben, würde ich dazu gezwungen sein. Dadurch, dass die Freddis Angebot annahm, wollte ich mich ihm gegenüber nicht verpflichten. Nein - das würde ich sicher nicht annehmen! Bei aller Freundschaft, das war nicht der richtige Weg für mich und meinen Laden.

„Also mach’s gut, Ruth! Ruf mich an.“ reißt Freddis Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich ergreife die zum Abschied dargebotene Hand, dabei nicke ich wortlos auf seinen mahnenden Blick hin. Dieter klopft mir wieder auf die Schulter und anschließend muss ich mich Manuels Abschiedszeremonie ergeben. Nachdenklich vor mich hin starrend stehe ich an der Theke, nachdem die drei gegangen sind. Rein mechanisch begrüße ich ankommende und verabschiede den Laden verlassende Gäste.

Wie war das? Ich sehe also gestresst aus! Kein Wunder! Erst zwei Tage sind seit der gewaltsamen Auseinandersetzung vergangen. Die letzten sieben Wochen waren der chaotische Höhepunkt einer konfusen, verfehlten Beziehung, von der nur meine süße, kleine vierjährige Tochter übrig geblieben ist. Und ein bitterer Nachgeschmack von Hass und Verachtung für deren Vater.

„Chefina , Telefon!“ ruft mir Monika aus der offenen Kassentüre zu. Mit gestraffter Haltung gehe ich die paar Schritte in die Kasse. „Ja, bitte?“ frage ich in den Hörer.

„Hallo Ruth! Wie geht’s?“ höre ich Holgers Stimme. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute keinen Nachtdienst machen kann. Mir ist etwas dazwischen gekommen. Und eine interessante Neuigkeit habe ich für Dich. Ich habe erfahren, dass der Reutlinger heute mit Ede verabredet ist. Ich hab das so was läuten hören, dass er sich für das ‚Luisa’ und Recklinghausen interessiert. Wenn ich richtig informiert bin, laufen heute die Verkaufs-Verhandlungen. Vielleicht möchtest Du ja mit ihm sprechen, dann kannst Du ihn heute im ‚Luisa’ erreichen. Das die Information vertraulich ist, brauche ich Dir wohl nicht extra zu sagen? Ist nur ein kleiner, freundschaftlicher Tipp für Dich.“

‚Was willst Du mir da unterjubeln? Welchen Zweck verfolgst Du mit diesem Hinweis? Ach so, Du hättest es wohl gerne, dass Dein Freund ‚Wiener’ wieder hierhin kommt? Ja, das glaub ich Dir! Aber ich möchte das aus mehreren Gründen nicht so gerne. Die Story hab ich einmal hinter mir, auf ein zweites Mal kann ich verzichten’. Denke ich. Obwohl mir der Hinweis auf den Besuchs-Grund zu denken gibt, sage ich betont gleichgültig: „Das weiß ich alles schon. Freddi war vorhin hier. Vor ein paar Minuten ist er zu Ede gefahren. Trotzdem vielen Dank für Deinen Tipp.“

Ärgerlich, dass er mir nichts Neues erzählen konnte, antwortet er: „Gut, wenn Du schon alles weißt, dann hol mir mal den Micki an den Apparat. Ich muss ihm sagen, dass ich ihn nicht ablösen kann. Du musst heute mit Micki vorlieb nehmen. Ich komme in den nächsten Tagen um Dich zu beschützen. Dir ist das doch egal, oder?“ fragt er in lauerndem Ton. Was soll die dumme Frage? Denke ich. Schon als wir über die nächtliche Bewachung gesprochen haben, hab ich auf diese Frage klar und deutlich gesagt, dass ich keinen Mann für die Nacht, sondern nur Schutz brauche. Welche Antwort Du gerne hättest, kann ich mir denken. Darauf kannst Du lange warten. Aber vergeblich!

Betont gleichgültig erwidere ich: „Ist mir gleich wie Ihr Euch das einteilt. Das ist Eure Sache. Dann bis demnächst!“

Ich lege den Hörer neben den Apparat, gehe ein paar Schritte in den Spiel-Saal. Als Micki mir entgegensieht, winke ich ihm zu: „Micki, Telefon!“ Auf seinen fragenden Blick sage ich „Holger!“

Dann wende ich mich zur Theke und bestelle bei der Bedienung einen Kaffee. Die Wochenend-Aushilfskraft stellt mir ein Glas auf die Theke. Die wird das auch nie lernen, denke ich. Wieder hat sie mir ein ‚Milchsüppchen’ anstatt Kaffee gemacht. Bestimmt zehn Mal habe ich ihr das schon gesagt, aber ich will mich heute nicht ärgern. Es geht eben nichts über unsere Mary. Aber die hat leider heute frei. Mit dem Glas in der Hand setze ich mich vor einen der Spiel-Automaten gegenüber der Theke.

Micki kommt mit missgestimmtem Gesichtsausdruck aus der Kasse. Spontan frage ich: „Was für eine Laus ist Dir denn über die Leber gelaufen? Hast Du keinen Bock heute Nacht mein Kindermädchen zu spielen? Hattest Du was Besseres vor? Hat Holger Dir das kaputtgemacht?“ Ich scheine den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.

Er brummt: „Eigentlich schon. Sei nicht böse, aber ich hatte heute wirklich noch was vor. Schöne Scheiße! Ich kann die Kleine nicht einmal anrufen und absagen. Immer das gleiche, ich bin der Dumme. Aber ich werde mal Ingo fragen, vielleicht hat er heute Zeit. Dann kann er meinen Dienst übernehmen. Du hast doch nichts dagegen? Es ist ja nicht persönlich.“ Erstaunt frage ich: „Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Mir ist wurscht, wer von Euch bei mir Wach hält. Hauptsache ich kann in Ruhe schlafen. Die letzten sieben Wochen habe ich wenig genug geschlafen. Ehrlich gesagt, hätte ich ohne Schutz im Moment noch nicht den Nerv einzuschlafen. Tut mir leid, wenn ich Dich in Turbulenzen bringe.“ Er hebt abwehrend die Hände: „Nein, nein! Es ist doch nicht Deine Schuld. Wir haben den Job übernommen und sorgen schon für Deine Sicherheit. Holger bringt mal wieder alles durcheinander. Irgendwie wird es schon gehen. Mach Dir keine Gedanken. Wenn Ingo auch nicht kann, verzichte ich eben auf die Verabredung. Die Kleine läuft mir nicht weg!“ Damit dreht er sich um und geht zurück zu seinem Kumpel. Wir hatten die Vereinbarung getroffen, dass hier im Geschäft immer zwei und nachts bei mir zu Hause einer von ihnen Wache hält. Mir war nicht ganz klar, ob die Jungens mich damit nur beruhigen wollten oder ob sie einen Gegenschlag befürchteten. Wie dem auch sei, ich fühlte mich dabei sicherer. Es beruhigt meine strapazierten Nerven, dass ich fast besser als die Kronjuwelen bewacht werde. Rund um die Uhr!

Ich will mir eine Zigarette anzünden, doch das Päckchen ist mal wieder leer. Mein Gott, war das nicht schon das zweite heute? Im Moment bin ich ein ‚dampfendes Nervenbündel’!

Sechs Kilo habe ich in den letzten Wochen abgenommen. Da ich von Haus aus ein kleines, schmales Hemd bin, zeigt mir momentan jeder Blick in den Spiegel nur noch ein Knochengerüst! So kann es mit mir wirklich nicht weitergehen. Nur rauchen wie ein Fabrik-Schornstein und wenig essen. Dabei fällt mir auf, dass ich heute noch gar nichts gegessen habe. „Ilse, können Sie mir bitte ein Brot machen?“ frage ich die Bedienung. „Gerne, was möchten Sie denn haben? Wurst oder Käse?“ antwortet die Angesprochene.

„Beides!“ sage ich hungrig. „Und noch einen Kaffee dazu. Aber bitte nicht so viel Milch, das mag ich nicht so gerne!“

Sie nickt schuldbewusst. Also hatte sie es vorhin selbst bemerkt. Es war also keine Boshaftigkeit sondern Nachlässigkeit von ihr. Aus dem Saal kommt meine Freundin Nina, welche als Croupier bei mir arbeitet auf mich zu. Lässt sich in den Sessel neben mir fallen und plappert gleich los: „Was wollte den der Reutlinger von Dir? Will er wieder hier einsteigen? Das wirst Du doch hoffentlich nicht machen? Wenn der ‚Wiener’ wieder als Geschäftsführer hierhin kommt, dann hau ich ab. Auf den habe ich absolut keinen Bock mehr. Ich dachte, Du wärest froh, dass der nicht mehr hier ist? Der hat doch mehr kaputt als gut gemacht! Ist doch wahr! Das haben alle Kollegen gesagt. Diesen Fehler wirst Du doch nicht noch einmal machen?“ Ilse bringt das gewünschte Butterbrot: „Ist es recht so, Chefin? Wie ist der Kaffee? Gut? Oder noch immer zu viel Milch?“ Freundlich antworte ich: „Danke, alles bestens.“

Ich verzichte darauf, ihr zu sagen, dass der große Teller mit belegten Broten viel zu viel für mich ist. Sie hatte es gut gemeint. Dafür war aber der Kaffee in Ordnung. Erst schlürfe ich etwas von dem heißen Getränk, dann wende ich mich an Nina: „Du musst nicht denken, sondern nachdenken! Ich weiß sicher selbst, was ich tue. Das jedoch bestimmt nicht. Darüber brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Außerdem war Freddi nur auf der Durchfahrt. Er hatte einen Termin mit Ede im Hotel Luisa. Aus geschäftlichen Gründen war er nicht hier.“

Dann beiße ich kräftig in ein Brot. Igitt, die Butter ist viel zu dick aufgetragen. So viel Fett kann ich überhaupt nicht leiden. Angewidert lege ich das Brot aus der Hand und nehme den Schnitt-Käse runter, um diesen alleine zu essen.

Nina nimmt den Teller und sagt energisch: „Gib mal her, ich mach Dir mal was zu essen. Ich sehe schon, was los ist, so magst Du das doch nicht. Warte einen Moment.“

Dann geht sie hinter die Theke und sagt von oben herab zu Ilse: „Kannst oder willst Du es Dir nicht merken, wie die Chefin ihr Brot haben möchte? Einen solchen Berg Brote auf dem Teller und die Butter so dick, mag sie schon mal überhaupt nicht. Merke Dir das mal endlich! Sonst fällt die uns noch ganz vom Fleisch. So, siehst Du? Außerdem kannst Du das auch appetitlicher gestalten, indem Du ein paar Gurken und Tomaten dazulegst. Garnieren hast Du wohl noch nicht gelernt? Na ja, es kann eben nicht jeder auf der Hotelfachschule gewesen sein.“

Als sie mir dann den Teller reicht, sieht dieser tatsächlich appetitlicher aus. „Danke Nina. Aber musst Du das Mädel so anpfeifen? Sie hat es doch nur gut gemeint.“ sage ich leise und vorwurfsvoll. Beleidigt erwidert sie: „Ist doch wahr! Genauso unappetitlich wie sie selbst sahen auch die Brote aus. Was bist Du so rücksichtsvoll? Sag ihr Deine Meinung! Schließlich bezahlst Du sie doch für die Arbeit. Du bist doch sonst nicht so zartfühlend. Mein Gott, hast Du schlechte Nerven!“ Auf meinen strafenden Blick hin wird sie kleinlaut und sagt mitfühlend: „Entschuldige! Ich war wohl wieder zu vorlaut. War nicht so gemeint. Sei bitte nicht sauer. Ist ja klar, dass Du im Moment genervt bist. Hatte ich nicht mehr dran gedacht. Du müsstest mal Urlaub machen, damit Du abschalten und Dich schneller erholen kannst. Schade, dass wir uns das nicht leisten können. Ich würde gerne mit Dir fahren. Das wäre toll!“

Nun erzähle ich ihr von Freddis Vorschlag. Sie ist begeistert. Warum ich den Vorschlag denn nicht annähme? Nachdem ich ihr meine Gründe erklärt habe, sieht sie es schmollend ein. Spontan frage ich plötzlich: „Hast Du heute noch was vor? Oder hättest Du Lust mit mir ins Luisa zu fahren? Frag mich jetzt bitte nicht, was ich da will. Das weiß ich selbst noch nicht genau. Ich habe so einige Ideen, noch nichts konkretes. Ich muss erst noch darüber nachdenken. Eines weiß ich auf jeden Fall, ich muss noch mal aus dem Haus, bevor mir die Decke auf den Kopf fällt. Wenn ich anschließend bei Dir schlafen darf, kann ich Micki frei geben. Der hat ‚ne Verabredung und findet keinen Ersatzmann für seinen Nachtdienst bei mir. Was ist, hast Du Lust?“

Begeistert stimmt sie zu, was sollte sie schon vorhaben?

„Nina, bitte zum Tisch. Dein Typ wird verlangt.“ ruft Monika aus der

Kasse.

Ärgerlich über die Unterbrechung erhebt sie sich langsam und schlendert in Richtung Saal. Schon im Durchgang stehend dreht sie sich noch einmal um und winkt mir zu: „Ruth, Du sollst mal zum Franz kommen.“ Während ich vorübergehe, beauftrage ich die Kassiererin: „Moni, sei so lieb, zieh mir bitte ein Päckchen Zigaretten.“

Als ich hinter dem ersten Tableau vorbeigehen will, auf unseren Kessel-Croupier zu, hält mich die kleine, buckelige Herta am Arm fest. Klagend sagt sie: „Da bist Du ja Ruth. Nicht so eilig. Gibst Du uns ein Körkchen? Wir haben alle verloren und wir wollen noch etwas bleiben und weiterspielen. Sei bitte so lieb.“

Erwartungsvoll sehen mich auch die anderen alten Tanten an.

Nina, welche an diesem Tableau arbeitet, wirft mir einen warnenden Blick

zu, ich geflissentlich übersehe.

Ich nicke ihr zu, dann sage ich freundlich lächelnd zu der alten Dame: „Aber sicher, Herta. Nina, gib doch bitte den Damen eine Körkchen-Runde.“ Während ich Ninas missbilligenden Gesichtsausdruck betrachte, denke ich: diese ständige Bettelei der alten Weiber geht mir genauso auf den Keks wie Dir. Aber es ist mir ein Rätsel, warum Du so wie fast alle Croupiers nicht verstehst, dass ich das nicht aus Großzügigkeit mache, sondern um das Spiel aufrecht zu erhalten. So wie die Alten spielen, verlieren sie doch sowieso. Also las die doch ein Weilchen tippeln.

Widerwillig führt Nina meine Anweisung aus, indem sie jeder Frau einen Stapel Jetons zuschiebt.

Dann wende ich mich an den ‚Kölner Franz’: „Was gibt es denn, Franz? Hast Du Probleme?“ frage ich den Kessel-Croupier. In seiner Art, im Zeitlupentempo zu sprechen, erwidert er: „Nee, dat nit. Aber ich komme nit so rescht vorwärts. Donn mir ‚nen Jefalle, loss de Perücke was schmiesse.“

Leicht erstaunt frage ich: „Warum sagst Du ihm das nicht selbst? Wieso muss ich das machen?“

Schulterzuckend entgegnet er: „Ich will misch von demm keene Korb innfange. De is doch schon enns jett komisch. Letztens hätt heh für mich gesacht, heh würd mir nit mie die Kastanien uut dem Feuer holle. De Prozente würd ich joh och alleene innstecke.“

Typisch Perücke, denke ich. Er ist zwar ein zuverlässiger, fleißiger Mitarbeiter, aber manchmal sehr unkollegial. In diesem Falle, der übliche Konkurrenz-Neid. Obwohl ich den „Kölner“ schon länger kenne, da ich früher schon einmal mit ihm zusammen gearbeitet hatte, ist er jetzt erst seit vier Wochen bei uns. Bevor er hier angefangen hatte, war sein Namens-Vetter Franz, genannt ‚Perücke’ der Kessel-Croupier. Aus alter Freundschaft und weil Perücke zu diesem Zeitpunkt eine sehr schlechte Phase hatte, hatte Franco den Kölner eingestellt. Mit der von Franco vereinbarten Bezahlung war ich erst nicht so recht einverstanden gewesen. Der Kölner hatte zu seiner normalen Gage noch Prozente vereinbart und das war eigentlich nicht in meinem Sinne. Inzwischen bin ich froh, dass ich den Kölner hier habe. Mit seiner ruhigen, immer gleichbleibenden freundlichen Art, hatte er sich bei den Gästen gleich beliebt gemacht. Perücke dagegen ist wie fast alle Zwillings-Menschen sehr launisch. Deshalb gibt es auch einige Gäste, die ihn nicht besonders mögen. Die kleinen Eifersüchteleien unter manchen Mitarbeitern stören mich eigentlich wenig. Wenn dieses jedoch zum Nachteil des Geschäfts auswachsen, kann ich ganz ungehalten werden. Mich im Saal umblickend frage ich den Kölner: „Wo ist er denn?“

Franz deutet mit der Hand Richtung Toilettentür. In diesem Moment kommt der Gesuchte von der Toilette zurück und sieht in unsere Richtung. Ich winke ihm. Mit missmutigem Gesichtsausdruck, vor sich hin brummend, kommt er meiner Aufforderung nach.

Mit einem zwar freundlichen, jedoch keinen Widerspruch duldenden Ton weise ich ihn an: „Franz, übernimm bitte den Kessel. Der Kölner hat eine schlechte Hand. Er kommt nicht von der Stelle.“

Leise füge ich hinzu, nachdem er näher heran ist: „Mach nicht so ein Gesicht. Wir können uns doch nicht bei diesem dünnen Spiel auch noch ablutschen lassen. Also sieh mal zu, ob Du eine glücklichere Hand hast.“ Dass er sauer ist, sehe ich daran, dass er die Kugel einfach abwirft, ohne vorher den Kessel auszuputzen. Das ist normalerweise nicht seine Art, wenn er diese Aufgabe übernimmt. Da ich absolut keine Lust auf 12 Diskussionen habe, drehe ich mich einfach um und gehe Richtung Theke. In der Kassentüre stehend, hält mir Monika meine Zigaretten entgegen. Ich nehme sie in Empfang und frage: „Wie sehen wir denn aus?“ Schlagfertig kommt die Antwort: „Dünn! Ein paar Wasserflöhe sind in der Kasse, Chefin. Wenn das heute so weitergeht, können wir nicht einmal die Kosten bezahlen. Dann sind wir heute Abend im Brand!“

Missmutig verziehe ich das Gesicht, gehe zur Theke und bestelle einen Kaffee. Dann setze ich mich wieder auf einen der Automaten-Sessel. Noch vier Stunden bis Feierabend, denke ich, dann ist ja noch nicht alle Hoffnung verloren. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gebracht, als der Tankwart zur Türe hereinkommt. Im Vorübergehen begrüßt er mich mit seinem üblichen zynischen Grinsen. Ich beantworte das mit einem freundlichem:“Guten Abend“, dabei denke ich: ein ekelhafter, arroganter Pinsel. Aber immerhin haben wir durch ihn die Möglichkeit, aus dem Brand zu kommen und anzuschaffen. 1

Aus dem Saal kommt Micki in seinem federnden Gang auf mich zu. Vor mir stehend sagt er mit deprimiertem Tonfall: „Ich hoffe, Du hast wenigstens was eingekauft. Damit ich bei Dir Morgen was zum Frühstück bekomme. Leider hat Ingo heute auch keine Zeit. Also muss ich diese Nacht bei Dir bleiben. Was hast Du denn Leckeres im Kühlschrank?“ Kopfschüttelnd wehre ich ab: „Nein, Micki. In meinem Diätschuppen laufen sich die Mäuse Blasen, im Kühlschrank. Der ist meist leergefegt. Ist eh nicht nötig, der Wachdienst. Nina und ich gehen haben heute Abend noch etwas vor. Dann brauche ich Dich nicht. Mach Dir keine Sorgen, ich schlafe anschließend bei Nina. Du kannst in Ruhe zu Deiner Kleinen gehen. Wir passen schon auf. Wenn wir zurückkommen wird es sowieso schon hell sein. Also was soll passieren? Du brauchst uns nicht zu begleiten, amüsiere Dich ruhig.“

Er kann seine Freude und Erleichterung kaum verbergen. Trotzdem fragt er: „Glaubst Du wirklich, dass Du mich nicht brauchst? Hast Du keine Angst? Du kannst ruhig ehrlich sein. Ich fahre auch mit Euch, wenn Du willst.“ Abwehrend schüttle ich den Kopf: „Nein, lass ruhig. Ich brauche heute niemanden von Euch. Wo ich hinfahre, brauche ich keinen Aufpasser, da kann mir nichts passieren. Es ist schon in Ordnung so“.

Während er davon trottet, denke ich: traurig, dass es so weit kommen musste. Dabei hatte doch alles so vielversprechend angefangen.

Als Stichling unter Haien

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