Читать книгу Aufschieben, Verzögern, Vermeiden - Ruth Rustemeyer - Страница 7
Statt einer Einführung
ОглавлениеMit seinen drei Romanen, die in rascher Folge 1951, 1953 und 1954 erschienen, machte der 1906 in Greifswald geborene Schriftsteller Wolfgang Koeppen Furore. Denn sowohl „Tauben im Gras“ wie auch „Das Treibhaus“ und – last, but not least – „Der Tod in Rom“ brachten „einen neuen Ton in die deutsche Gegenwartsliteratur“ (Weidermann, 2006, S. 56). Voller Erwartungen sahen deshalb sein Verleger, seine Leser, aber auch Literaturkritiker, darunter Marcel Reich-Ranicki, seinem nächsten Roman entgegen, hatte der Schriftsteller doch einen solchen selbst angekündigt. Es sollte ein „großer“ autobiografischer Roman werden und sein Leben in der Zeit des Nationalsozialismus zum Inhalt haben.
Jahr für Jahr verging, aber es tat sich nichts! Der Roman erschien nicht, obwohl Koeppen für diesen von Siegfried Unseld einen beträchtlichen Vorschuss erhalten hatte und der geduldige Verleger ihn auch dann noch finanziell unterstützte, als nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte seit der Ankündigung dieses Romans vergangen waren.
Dem Schriftsteller Koeppen setzten zwar immer wieder schon der Blick auf seinen Schreibtisch und der Anblick des leeren weißen Papiers zu, wurde er doch dadurch ständig an sein Vorhaben, das er nicht aufgeben wollte, erinnert, aber er schaffte es einfach nicht, seine Biografie zu schreiben. Er schaffte es auch dann nicht, als Unseld, der wegen seiner schier endlosen Nachsicht schon belächelt wurde, Koeppen schließlich androhte, seine Zahlungen einzustellen.
Er hat es dann doch nicht getan, und Wolfgang Koeppen hat noch 1985 vor einer Schulklasse von seiner geplanten Autobiografie gesprochen, die sein „Leben im Krieg und wie ich über den Krieg kam“ (Döring, 2003, S. 1) beschreiben sollte. Aber auch danach wurde dieses Buch nicht geschrieben.
Nein, er war nicht, wie man meinen könnte, untätig in all diesen Jahren. Er schrieb schon. Er schrieb Erzählungen und Essays. Kündigte sogar andere Romane an und nannte deren Titel: „In den Staub mit allen Freunden Brandenburgs“, „Tasso“, „Ein Maskenball“ und „Das Schiff“ sollten sie heißen. Aber diese Romane wurden dann ebenso wenig von Koeppen geschrieben wie sein „großer Roman“. Er vertröstete alle, die auf diesen warteten, wieder und wieder und schob dieses Vorhaben so lange vor sich her, dass schließlich aus seinem „Schweigen“ der „Fall Wolfgang Koeppen“ (Reich-Ranicki) wurde.
Als der Schriftsteller 1996 kurz vor seinem 90. Geburtstag in einem Münchener Pflegeheim starb, fand man in seinem Nachlass zwar „einige tausend Blätter Manuskripte“ (Estermann, 1998), aber auch unter diesen nicht jenen „großen Roman“, den Koeppen vor nahezu vier Jahrzehnten angekündigt hatte, auf den manche immer noch gehofft hatten, weil sie meinten, Koeppen habe diesen autobiografischen Roman zwar geschrieben, wollte ihn aber erst nach seinem Tod veröffentlicht sehen.
„Ich will es mal schreiben, warum, verdammt noch mal, schreibe ich es nicht?“ (Döring, 2003, S. 9), hat Wolfgang Koeppen einmal geäußert. Und diese Frage bewegt die Literaturkritik bis heute. Die Antworten, die darauf gegeben wurden, sind sehr unterschiedlich, und vielleicht wird man nie den wahren Grund ermitteln können, obwohl doch Aufschieben als solches jeder von uns kennt und ein Sprichwort den Grund für ein solches Verhalten genau zu kennen glaubt, wenn es lakonisch feststellt: „Morgen, morgen, nur nicht heute! Sagen alle faulen Leute.“
Nein, es war nicht Faulheit, die Wolfgang Koeppen an seinem Vorhaben, einen „großen Roman“ zu schreiben, scheitern ließ. Und es ist auch bei uns – zumindest nicht immer – Faulheit, wenn wir uns schwertun, dieses oder jenes anzupacken.
Denn das Phänomen des Aufschiebens begegnet uns ja nicht nur bei dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen, sondern es ist weit verbreitet. Jeder kennt es – ob es sich um eine Tätigkeit handelt, der man sich endlich widmen sollte, um eine Aufgabe, die dringend erledigt werden müsste, oder um eine Entscheidung, die schon längst hätte getroffen werden müssen. Doch statt die Sache anzugehen, wird die Zeit vor einer wichtigen Prüfung, einem Vorstellungstermin, von dem viel abhängt, oder vor einem Behördengang, der keinen Aufschub duldet, mit nebensächlichen, meist angenehmeren Tätigkeiten verbracht, wird so getan, als habe man unendlich viel Zeit, obwohl man diese nicht hat!
Warum handelt man so? Warum schiebt man solche Dinge so oft auf und widmet sich ihnen erst, wenn einem das Wasser sozusagen schon bis zum Halse steht, nämlich unter hohem Zeitdruck in allerletzter Minute? Ist es vielleicht sogar sinnvoll, erst einmal innezuhalten und abzuwarten, damit man keine falsche Entscheidung trifft? Ist es vielleicht auch deshalb sinnvoll, weil durch dieses Aufschieben der innere Druck bei den Betreffenden so groß wird, dass sie dann können, was sie vorher nicht konnten? Dass man unter diesem Druck sogar effektiver arbeitet als ohne ihn? Ja, so sehen es manche dieser „Prokrastinierer“, wenn sie sagen, ihre Aufgabe habe sich fast von allein erledigt.
Aufschieben geht häufig mit einem schlechten Gefühl einher, nicht zuletzt deshalb, weil die Meinung weit verbreitet ist, dass Prokrastinierer keine Selbstdisziplin besitzen, faul, müßig und untätig sind. Prokrastination ist ein mehr oder weniger stark selbstschädigendes Verhalten, das im Alltag, aber auch in Lern- und Leistungskontexten auftreten kann. Insbesondere akademische Prokrastination wird oft mit Motivationsmangel, fehlender Arbeitsdisziplin, fehlendem Ehrgeiz oder fehlender Selbstkontrolle in ursächlichen Zusammenhang gebracht. Autoren berichten, dass sich zwischen 80 und 95 Prozent der College-Studenten mit diesem Problem beschäftigen (Ellis & Knaus, 1977), sich 75 Prozent als Zögerer einschätzen und fast 50 Prozent konstant und mit problematischen Folgen aufschieben (vgl. Onwuegbuzie, 2000; Steel, 2007). Chancen werden verpasst, Gefühle der Frustration und Unzufriedenheit stellen sich ein, und einige Personen arbeiten weit unterhalb ihrer tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten.
Etwas immer wieder aufzuschieben kann somit nicht gerade als erstrebenswerte Tugend bezeichnet werden, da dieses Verhalten eine eindeutig negative Komponente hat. Dennoch erzählen gelegentlich prokrastinierende Personen stolz, dass sie wieder einmal in vergleichsweise kurzer Zeit und mit relativ wenig Aufwand ihr Ziel erreicht haben. Dahinter steht die Überzeugung, erst unter hohem Druck effektiv arbeiten zu können. Für viele Betroffene hat das Aufschieben einen deutlich ambivalenten Charakter und wenigstens kurzfristig eine Belohnungsfunktion. Diese Gründe sind vermutlich mitverantwortlich dafür, dass praktische Übungen und kurze Trainingsmaßnahmen (etwa zum Zeitmanagement) nach anfänglicher Begeisterung rasch versanden und nicht konsequent in den Alltag übernommen und im alltäglichen Handeln umgesetzt werden.
Mehr Beachtung als hierzulande in der Forschung erhielt bereits seit den 1970er Jahren das Thema „Prokrastination“ im angloamerikanischen Sprachraum (Ellis & Knaus, 1977). Inzwischen gibt es aber auch im deutschsprachigen Raum eine Reihe empirischer Untersuchungen, die sich dem Phänomen „Prokrastination“ widmen.