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1. Die Vielfältigkeit und Bedeutsamkeit von Prokrastination 1.1. Aufschieben, Verzögern, Prokrastinieren: Eine erste Begriffsbestimmung

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Prokrastination1 (auch Aufschiebe- oder Verzögerungsverhalten) kann auf die lateinischen Wörter procrastinatio bzw. procrastino zurückgeführt werden. Procrastinatio bedeutet „die Vertagung, der Aufschub, der Verzug“, und procrastino (pro + crastinus) meint eigentlich „auf morgen verschieben“; im übertragenen Sinne „vertagen, aufschieben, verschieben“ (s. Georges, 2003, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch).

Obwohl der Begriff heute eindeutig negativ konnotiert ist und unter Prokrastination allgemein ein Aufschieben von (wichtigen) Aufgaben auf einen späteren Zeitpunkt verstanden wird, hatte dieser Begriff in seiner ursprünglichen Verwendung keine negative Bedeutung, sondern beschrieb eine durchaus positive Verhaltensweise (vgl. Ferrari, Johnson, McCown, 1995). Einige Forscher lokalisieren die Ursprünge des Aufschiebens in der frühen Menschheitsgeschichte, als nämlich Menschen eine unmittelbare Belohnung für ihr Verhalten anstrebten. Da ihr Leben ständig bedroht war, hatte im „Hier und Jetzt“ leben, ohne sich um künftige Ziele und Bedürfnisse zu kümmern, eine wichtige biologische Funktion in der Evolution. Auch wenn die Ursprünge der Prokrastination tatsächlich so weit zurückliegen sollten, gehen die meisten Forscher nicht von einer Vererbung des Verhaltens aus. Vielmehr wird angenommen, dass Aufschiebeverhalten gelernt wird, da sich keine genetischen Anlagen und kaum geschlechtsspezifische Unterschiede nachweisen lassen. Diese Auffassung wurde zumindest bis vor Kurzem in der wissenschaftlichen Diskussion vertreten. Neuerdings wird jedoch vor allem von Steel (2011) mit Verweis auf Ergebnisse der neurologischen Forschung und der Verhaltensforschung die biologische Erklärungsweise in die Diskussion gebracht.

Bei den Römern war mit Prokrastination vor allem ein Aufschub von Aktionen aus taktischen Gründen gemeint, also bedachtsames Handeln im Sinne eines besonnenen Abwägens, um v.a. in Kriegssituationen weise Entscheidungen treffen zu können. An diese ursprüngliche Bedeutung knüpft die sogenannte „Funktionale Prokrastination“ (Ferrari, 1994) an, bei der eine Handlung bewusst aufgeschoben wird, um etwa durch Warten auf weitere Informationen wichtige Hinweise für die Bewältigung einer Aufgabe zu erlangen.

In der Zeit der Industrialisierung, etwa ab dem späten 18. Jahrhundert, als bedingt durch die industrielle Revolution geregelte Zeitabläufe eine immer wichtigere Rolle spielten, bekam aufschiebendes Verhalten eine negative, abwertende Bedeutung (Steel, 2007, p. 66). Milgram (1992, zitiert nach Ferrari et al., 1995) nimmt an, dass dieser Bedeutungswandel darauf zurückzuführen ist, dass Zeit und Pünktlichkeit im Alltag und im Beruf immer wichtiger wurden. Personen, die Schwierigkeiten haben, zeitig mit einer Aufgabe zu beginnen und sie fristgerecht fertigzustellen, arbeiten nicht nach dem geforderten Arbeitsrhythmus und werden als faul, träge und unmotiviert angesehen. Wird eine Aufgabe, eine Tätigkeit oder eine Entscheidung entgegen der ursprünglichen Intention aufgeschoben, wird dieses Verhalten als dysfunktional bezeichnet (vgl. Schouwenburg, 2004).

Systematisch beschäftigte sich die Forschung erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufschiebeverhalten.

Die vorliegenden Definitionen von Prokrastination akzentuieren unterschiedliche Aspekte. So definiert Schouwenburg (1995, p. 72) in Anlehnung an Solomon und Rothblum (1984, p. 503) Prokrastination als:

„the act of needlessly delaying tasks to the point of experiencing subjective discomfort“.

Der Begriff „unnötiges Aufschieben“ deutet an, dass nicht alle verzögerten oder verspäteten Aufgabenbearbeitungen zwangsläufig als Aufschiebeverhalten bezeichnet werden müssen. Und weiter gehen die meisten Autoren davon aus, dass ein unangenehmes Gefühl bzw. ein subjektives Unwohlsein (subjective discomfort) mit dem Aufschiebeverhalten einhergeht. Prokrastination kann sich auf verschiedene Art und Weise äußern. Ferrari et al. (1995) charakterisieren aufschiebendes Verhalten folgendermaßen: Die Person beginnt zu spät mit der Tätigkeit, ist mit sich selbst unzufrieden, erlebt die Tätigkeit als aversiv und angsterzeugend und beschäftigt sich deshalb lieber mit alternativen Tätigkeiten. Schouwenburg (1995) stellt ähnliche Verhaltensweisen heraus, die typisch für Prokrastinierer sind: Aufschiebeverhalten zeigt sich in der Verzögerung der Intentionsbildung bzw. des Handlungsbeginns (Intentions-Verhaltens-Diskrepanz) und in der Verzögerung des Handlungsabschlusses durch die Beschäftigung mit alternativen Tätigkeiten. Schouwenburg (1995) betont auch, dass prokrastinierende Personen sich leicht von anderen konkurrierenden Aktivitäten ablenken lassen. Steel (2007, p. 66) definiert Prokrastination unter Zusammenfassung verschiedener in der Literatur vorliegender Definitionen:

„Combining these elements suggests that to procrastinate is to voluntarily delay an intended course of action despite expecting to be worse off for the delay.“

Damit betont er das freiwillige Aufschieben einer Handlung trotz des Wissens darüber, dass das Aufschieben negative Konsequenzen hat und man nachher noch schlechter dran ist als vorher. Es ergeben sich somit folgende Bestimmungsmerkmale, die aber nicht zwangsläufig immer zusammen auftreten müssen:

– Der Moment des tatsächlichen Lern- oder Aufgabenbeginns oder einer Entscheidung wird hinauszögert.

– Es ist eine Diskrepanz zwischen der eigenen (Lern-)Absicht und dem tatsächlichen Verhalten feststellbar (intention-action gap).

– Die aufgeschobene Tätigkeit wird als aversiv empfunden.

– Die Person geht lieber anderen, schneller zu beendenden und weniger angstbesetzten Tätigkeiten nach (vgl. Ferrari et al., 1995).

Tuckman (1991, p. 474) betont noch einen anderen Aspekt von Prokrastination, nämlich den der fehlenden Kontrolle im Sinne fehlender Selbstregulationsfähigkeit und definiert Prokrastination als „tendency to put off or completely avoid an activity under one’s control“.

Eine Aktivität, die eigentlich von der Person kontrolliert und somit prinzipiell bewältigt werden könnte, wird hinausgeschoben bzw. vollständig vermieden. Da Aufschieben nicht bedeutet, dass die Person untätig ist, sondern sich ersatzweise mit anderen Dingen beschäftigt als ursprünglich geplant, wird als Erklärungsansatz für Prokrastination auch von anderen Autoren auf unzureichende Selbstkontrolle verwiesen (Schouwenburg, 2004). Auch Helmke und Schrader (2000, S. 223) verstehen Prokrastination als eine Störung der „Selbstregulation im Verhalten – sowohl im motivationalen als auch im volitionalen Bereich“. Solch ein volitionales Defizit liegt beispielsweise vor, wenn eine Person trotz eines festen Prüfungstermins und der Absicht, die Prüfung erfolgreich zu bestehen, nicht mit dem Lernen beginnt oder sich im Lernprozess ablenken lässt. Ebenso heben Rist, Engberding, Patzelt und Beißner (2006, S. 64) hervor, dass Prokrastination eine Störung der Selbststeuerung ist, an der affektive, kognitive und motivationale Faktoren beteiligt sind.

Fasst man die verschiedenen Aspekte von Prokrastination zusammen, wird deutlich, dass Prokrastination, wie es bereits Solomon und Rothblum (1984, p. 503) beschreiben, ein vielschichtiges, oftmals chronisches Verhalten mit behavioralen, affektiven und kognitiven Facetten ist.

Während die akademische Prokrastination recht gut erforscht ist, trifft dies auf die alltägliche Prokrastination weniger zu. Alltägliche Prokrastination wird definiert als:

„the extent to which people perform routine tasks of living promptly or late“

(Milgram, Sroloff & Rosenbaum, 1988, p. 198),

„experienced difficulty in scheduling when to do many recurring life routines and in doing them on schedule“

(vgl. Milgram, Mey-Tal & Levison, 1998, p. 297f.).

Die Definition von alltäglicher Prokrastination ist beispielsweise eng angelehnt an die dazu teilweise ad hoc entwickelten Fragebögen: „Both the GP und the AIP scales were developed to assess the frequency with which people postpone everyday activities“ (Ferrari, 1992, p. 100).

Besonders bei der alltäglichen Prokrastination, aber nicht nur bei dieser, zeigt sich, dass das Konstrukt „Prokrastination“ sehr stark über die vorliegenden Messinstrumente und/oder über die Messverfahren definiert wird, weshalb es sinnvoll ist, sich diese bei der Bestimmung des Konstrukts näher anzuschauen (siehe dazu weitere Erläuterungen unter Kapitel 2 und die Fragebögen in der Anlage des Buches).

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