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Das Böse
ОглавлениеAnna ging zurück zur Straße. Frau Germens wartete dort schon auf sie. Sie war ihr nach langem Zögern hinterhergelaufen, hatte sich jedoch nicht getraut, den Weg hinunter zum Fluss zu gehen.
»Haben Sie dieses Licht gesehen? Haben Sie es gesehen?«, rief sie Anna aufgeregt zu.
»Ja.«
»Du meine Güte, Sie sind ja ganz dreckig. Sind Sie gestürzt?«
»Nein, es geht mir gut. Ich weiß nicht genau, was passiert ist.«
»Gehen wir in mein Haus, ich mache Ihnen ein Tee, wenn Sie wollen.«
Anna wollte eigentlich lieber in ihr Apartment und unter die Dusche, aber nach dem, was geschehen war, konnte sie die alte Dame unmöglich alleine lassen.
Eine Tasse Tee stellte sich als eine hervorragende Idee heraus, als Anna den ersten Schluck genommen hatte. Diese ständige Kälte, die ihr entgegen geströmt war, ließ sie immer noch im Nachhinein frieren. Frau Germens hatte ganz genau wissen wollen, was Anna unten am Fluss erlebt hatte, also erzählte sie ihr alles, obwohl sie selber gerade erst im Begriff war, zu verstehen, was wirklich passiert war.
»Das ist so schrecklich. Ich habe den Geist meines Mannes schon so oft gesehen, aber diese furchtbaren roten Augen in der Dunkelheit. Das hat mir fast den Verstand geraubt.«
»Das war nicht der Geist Ihres Mannes, Frau Germens.«
»Was sagen Sie? Aber er hat doch genauso ausgesehen wie er.«
Anna machte ein nachdenkliches Gesicht, während sie antwortete: »Das meinte ich nicht. Es waren unterschiedliche Erscheinungen. Drei um genau zu sein.«
»Drei?«
»Ja, die erste Erscheinung war der Geist Ihres Mannes. Er hat Sie vor etwas warnen wollen. 'Flieh' habe ich ihn rufen hören.«
»Ja, aber wovor sollte er mich denn warnen?«
»Das weiß ich noch nicht. Womöglich vor dem zweiten Wesen. Das mit den roten Augen. Als die Gestalt des Geistes Ihres Mannes in der Dunkelheit verschwand, tauchte kurz darauf das Ding mit den roten Augen auf. Ich möchte schwören, dass der Geist vor dem Ding geflohen ist.«
»Dann war dieses Wesen mit den roten Augen auch ein Geist?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich muss zugeben, dass ich so etwas noch nie zuvor gesehen habe. Zumindest nicht in dieser Form einer klaren Erscheinung.
Als ich unten am Fluss war, wollte das Wesen mich vertreiben. Ich solle verschwinden. Offensichtlich sieht es in mir eine Bedrohung.«
»Weil Sie eine Geisterjägerin sind«, schlussfolgerte Frau Germens.
»Ja, vielleicht.« Anna erinnerte sich an die Abläufe der vorigen sechs Heimsuchungen. Bei jedem dieser Ereignisse starb mindestens ein Mensch. Einer war schon gestorben, das hatte ihr Kronenberg erzählt. Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz mulmig. Hatte es das Wesen mit den teuflischen Augen auf Frau Germens abgesehen? War sie die letzte Auserwählte, die sterben sollte? Hatte der Geist ihres Mannes sie deshalb immer wieder warnen wollen und mit stummer Stimme zugerufen, sie solle fliehen? Fliehen vor den bösen Augen? Wenn es so war, dann war Frau Germens in großer Gefahr. Nicht mehr heute Nacht; heute war es vorbei. Aber was war morgen?
Die alte Dame riss sie wieder aus den Gedanken. »Sie sprachen aber von drei Wesen. Welches war das dritte?«
»Das merkwürdige weiße Licht, das auch Sie gesehen haben.«
»Und was soll das für ein Gespenst gewesen sein?«
»Wenn ich das wüsste. Ich weiß nur Eines: Es hat das Wesen mit den Augen vertrieben. Hier geht in der Tat etwas Großes vor sich. Es scheint hier in diesem Ort eine offene Verbindung zum Reich der Toten zu geben. Gleich drei verschiedene Entitäten in einer Nacht! Das habe ich noch nie erlebt.«
Es könnte wirklich die siebte Heimsuchung sein.
Dieser Gedanke löste bei Anna abwechselnd Faszination und Unbehagen aus.
»Und noch Eines weiß ich.« Sie sah die alte Dame ernst an. »Dieses Geschöpf mit den roten Augen ist absolut böse. Vielleicht ist es sogar die Ursache des Ganzen.«
»Warum glauben Sie das?«
»Weil zwei andere Geister, der Ihres Mannes und jener, der als Irrlicht erschien, das Wesen aufhalten wollten. Damit es zu so etwas kommt, muss die Trennlinie zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schon äußerst dünn sein.
Was immer hier vor sich geht, es hat gerade erst begonnen.«
»Sie machen einem ja Mut. Glauben Sie, das Ding kommt heute Nacht noch einmal zurück?«
»Nein, machen Sie sich keine Sorgen. Ich kann nichts dergleichen spüren.« Anna leerte ihre Tasse und stellte sie ab. Ich sollte jetzt wieder in mein Apartment gehen. Ich gebe Ihnen aber noch meine Telefonnummer, dann können Sie mich jederzeit anrufen. In Ordnung?«
»Der Gedanke, heute Nacht alleine zu sein, gefällt mir nicht. Aber ich weiß ja, dass Sie ganz in meiner Nähe sind.«
»Das bin ich. Ich bin sofort hier, falls Sie wieder etwas bemerken, oder wenn ich etwas spüre.«
Anna verabschiedete sich und ging zurück zu ihrer Ferienwohnung. Es gab noch etwas, dass sie Frau Germens nicht gesagt hatte, weil sie ihr keine Angst machen wollte. Denn, je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, wenn die alte Dame diesen Ort verließ, zumindest für ein paar Tage. Hier war es für sie zu gefährlich. Das Wesen mit den Feueraugen hatte es sehr wahrscheinlich auf sie abgesehen. Und zu diesem Zeitpunkt hatte Anna noch keinen Plan, wie sie es aufhalten konnte.
Gleich morgen früh würde sie ihr den Vorschlag machen, Urlaub zu machen oder zu Verwandten zu fahren. Irgendetwas würde sich diesbezüglich schon ergeben.
Ja, Anna war überzeugt davon, dass hier in Nimtow mitten im Nirgendwo des Havelländischen Luchs etwas sehr Altes und Gefährliches an Kraft gewann. Etwas, dem sich Anna noch nie zuvor hatte stellen müssen. Ein Wesen alter Tage, das diesen Ort aus einem bestimmten Grund ausgewählt hatte, um sich zu manifestieren.
Erst jetzt wurde Anna klar, dass die siebte Heimsuchung vielleicht der Beginn von etwas sehr Gefährlichem sein könnte. Von etwas absolut Bösem.