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Jenseits der Schwelle
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Es war jetzt kurz nach ein Uhr am Nachmittag. Anna hoffte, dass sie nicht störte, als sie die Klingel am Haus von Frau Germens betätigte, war sie doch von ihrer Vermieterin vorgewarnt worden, dass den älteren Einwohnern von Nimtow ihr Mittagsschlaf heilig war. Doch ihre Sorgen waren vollkommen unbegründet. Kaum hatte sie den Klingelknopf gedrückt, ging auch schon die Tür auf.
Anna blickte in das Gesicht einer alten Frau, deren sorgenvoller Blick kaum zu übersehen war. Die alte Dame war über achtzig Jahre alt, was man ihr aber nicht ansah. Sie trug eine blaue Kittelschürze, wie es hier auf dem Land üblich war, wenn man im Garten oder Haus arbeitete.
»Guten Tag, mein Name ist Anna Teinsen. Ich freue mich...«, wollte sich Anna vorstellen, wurde aber sofort von Frau Germens unterbrochen.
»Sie sind die Geisterjägerin, von der mir Elisabeth erzählt hat, nicht wahr? Elisabeth versprach mir, dass Sie kommen würden. Und jetzt stehen Sie tatsächlich vor meiner Tür! Ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind! Kommen Sie rein, kommen Sie rein!«
Ehe sich Anna versah, befand sie sich auch schon im Inneren. Frau Germens dirigierte sie schnurstracks ins Wohnzimmer und verschwand dann kurzerhand in der Küche, um Kaffee zu servieren. Anna mochte keinen Kaffee, aber jetzt abzulehnen, dafür war es zu spät.
»Sagen Sie, arbeiten Sie schon lange als Geisterjägerin?«, rief es aus der Küche, während Anna sich die Einrichtung ansah.
»Ich bezeichne mich selbst eigentlich nicht als Geisterjägerin. Ich jage keine Geister. Ich versuche vielmehr, ihnen zu helfen.«
Frau Germens kam mit einem Tablett aus der Küche zurück. Offenbar hatte sie sich auf Annas Besuch vorbereitet. Das erstaunte und befremdete Anna zugleich, weil ihre Auftraggeberin über sie in einer Weise verfügt hatte, die ihr überhaupt erneut nicht gefiel. Die alte Kronenberg hatte für Anna schon alles vorbereitet, das Apartment gebucht, Termine vereinbart - und das alles zu einer Zeit, als Anna noch nichts von diesem Job wusste. Nein, das gefiel ihr überhaupt nicht. Die Selbstsicherheit, mit der ihre Auftraggeberin agierte, kam ihr mehr und mehr schrecklich arrogant vor. Und das nur, weil sie Geld hatte und damit um sich werfen konnte, als sei es nichts.
Frau Germens riss sie wieder aus ihren Gedanken, als sie ihr eine volle Tasse überreichte.
»Sie helfen den Geistern? Ich dachte, Sie würden den Lebenden helfen? Denjenigen, die unter dem Spuk zu leiden haben?«
»Ich helfe beiden. Zumindest versuche ich es. Denn oft ist es so, dass nicht nur die von einer Geisterheimsuchung oder den Exzessen eines Poltergeistes Betroffenen zu leiden haben. Für die Geister ist es meist auch kein Vergnügen. Sie leiden nicht minder als die Lebenden. Allein die Energie aufzubringen, vom Jenseits ins Diesseits vorzudringen und durch Geräusche, Temperaturveränderungen oder gar durch das Bewegen von Gegenständen auf sich aufmerksam zu machen, kostet sie unvorstellbar viel Energie.«
»Oh«, seufzte die alte Dame niedergeschlagen, schloss die Augen und senkte den Kopf.
Sie weinte kaum hörbar in sich hinein. Was Anna gesagt hatte, hatte Frau Germens auf das, was sie selbst erlebt hatte, bezogen, das war Anna sofort klar.
»Ich hörte, Sie haben auch etwas Seltsames erlebt?«, fragte sie behutsam.
Frau Germens richtete sich wieder auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und ging zu einer Kommode, auf der ein Bilderrahmen stand. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete das eingerahmte Foto.
»Etwas Seltsames? Das wäre noch eine Untertreibung«, sagte sie.
Anna erhob sich von ihrem Stuhl und stellte sich neben die alte Dame. Sie sah sich das Bild an. Darauf waren Frau Germens und ihr Mann zu sehen. Sie standen an der Reling eines Kreuzfahrtschiffes. Im Hintergrund ragte ein schneebedeckter Bergkamm auf.
»Dieses Bild wurde vor knapp sechs Jahren aufgenommen. Das war unsere letzte gemeinsame Reise. Unsere erste Kreuzfahrt, die wir schon immer mal machen wollten, nach Norwegen«, sagte Frau Germens, ohne den Blick vom Foto abzuwenden.
Anna wartete eine Weile. Dann entschloss sie sich, zur Sache zu kommen: »Der Geist Ihres Mannes ist es, der Sie heimsucht, richtig?«
Die alte Dame nickte, ohne etwas zu sagen, da sie fürchtete, sonst zu schluchzen.
»Ist dies mehrmals geschehen?«
Frau Germens nickte erneut.
»Und wann das letzte Mal?«
»Gestern. Gestern Nacht.«
»Wollen Sie mir erzählen, was genau geschehen ist?«
Sie gingen wieder zum Wohnzimmertisch zurück und setzten sich. Frau Germens nahm einen großen Schluck Kaffee, ehe sie antwortete. »Es ist immer dasselbe. Beim ersten Mal war es so kurz, dass ich noch geglaubt habe, ich hätte eine Halluzination. Das war vor fünf Wochen. Dann geschah eine Weile lang nichts. Doch dann kam er wieder.
Es war bereits Mitternacht. Ich sitze lange abends vorm Fernseher, müssen Sie wissen. Ich kann schlecht schlafen und sehe oft noch bis nach ein Uhr fern. Plötzlich klopfte es. Ich dachte zunächst, es sei an der Tür, aber dann merkte ich, dass es an einer der Fensterscheiben hier im Wohnzimmer sein musste. Alle Vorhänge waren zugezogen. Ich traute mich nicht nachzusehen, aber das Klopfen wurde immer lauter. Und es klang immer merkwürdiger.«
»Was meinen Sie mit merkwürdig?«
»Es hatte einen merkwürdigen Nachhall. Als säße ich in einer Kathedrale, in der die Orgelklänge an den Wänden laut widerhallten. Es klang, als käme dieses Klopfen nicht von einem Menschen. Als käme es von weit her. Von Etwas, das uralt zu sein schien.
Ich weiß, das hört sich lächerlich an.«
»Aber nein. Ich weiß ganz genau, wie Sie das meinen.« Anna hatte in ihrem Leben schon oft genug bizarre Geräusche gehört, die aus dem Jenseits kamen. Selbst sie, die sich als Expertin für das Übernatürliche verstand, bekam da manchmal das Frösteln.
»Schließlich habe ich mich dann doch überwunden und den Vorhang von der Terrassentür ein Stück weit aufgezogen. Und da sah ich ihn!«
»Ihren Mann?«
»Ja.«
»Sind Sie sich da absolut sicher? Ich meine, es war ja sicherlich dunkel.«
»Ich bin mir sicher. Ja, es war dunkel, und ich habe auf der Terrasse kein Außenlicht, so dass ich nicht viel erkennen konnte. Aber ich konnte genug sehen, um sagen zu können, dass er es war.«
Anna wollte zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen, dass sich jemand mit Frau Germens einen äußerst üblen Scherz erlaubt hatte. Auch das hatte sie schon erlebt. Genauso hatte sie aber auch von glaubwürdigen Quellen ähnliche Vorkommnisse gehört. Sie neigte jedoch nicht dazu, an einen Betrug zu glauben, denn wer sollte Frau Germens so etwas antun wollen, fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes?
»Was ist dann passiert?«
»Ich war so geschockt, dass ich zurücktaumelte und minutenlang in der Ecke kauerte. Ich wollte schon die Polizei rufen, doch ich traute mich nicht. Als es still blieb, und als ich den Mut dazu aufbrachte, schaute ich noch einmal hinter den Vorhang. Doch da war er schon wieder verschwunden.
Am nächsten Tag geschah nichts, obwohl ich wie gebannt kurz vor Mitternacht hier im Wohnzimmer saß und wartete. Erst am übernächsten Tag kam er wieder.«
»Hat er wieder hinter der Terrassentür gestanden?«
»Ja. Und beim zweiten Mal hatte ich nicht mehr so große Angst. Ich traute mich zwar immer noch nicht, den Vorhang ganz aufzuziehen. Ich sah aber, wie er den Mund auf und zu machte. Er wollte mir etwas sagen.«
»Konnten Sie ihn verstehen?«
»Nein. Die Furcht in mir nahm dann doch überhand. Die Art, wie er dastand, und wie er aussah in der Dunkelheit! Das schwache Licht aus dem Wohnzimmer, das auf ihn fiel, ließ ihn grauenhaft aussehen. Grau und zornig. Er sah nicht aus, wie ich ihn in Erinnerung habe, und dennoch war er es. Das war zu viel für mich. Ich zog den Vorhang wieder zu, und wie zuvor blieb es danach still.
Ich ärgerte mich später darüber, dass ich nicht versucht hatte, ihm zuzuhören. Also schwor ich mir, mich beim nächsten Mal zusammenzureißen, um zu hören, was er mir sagen wollte.
Drei Nächte später klopfte es wieder. Diesmal leiser als zuvor. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Angst ich hatte. Ich zog den Vorhang ganz auf. Da war er wieder. In der gleichen leicht gebeugten Haltung, aschgrau im Gesicht und irgendwie nicht real. Alles wirkte ein wenig verschwommen. Wieder machte er den Mund auf und zu, aber ich konnte absolut nichts verstehen. Ich fragte ihn:
'Was willst du von mir?'
Er reagierte jedoch nicht, sondern machte weiter. Ich ließ aber nicht locker und fragte ihn:
'Wolfgang, bist du das? Bist du es wirklich?'
Aber er schien mich zu ignorieren. Als ich den Vorhang wieder zuzog, passierte nichts mehr, und er verschwand.«
»Das war aber nicht das letzte Mal, dass Sie ihn gesehen haben, richtig?«
»Nein. Zwei Nächte später erst kam er wieder, klopfte und bewegte seinen verdammten Mund auf eine Weise, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Merkwürdigerweise war ich nicht mehr ängstlich, sondern wütend. Ich war einfach nur wütend. Ich riss den Vorhang weg und schrie ihn an, was er von mir wolle. Für einen Moment glaubte ich zu sehen, wie er innehielt. Doch dann machte er nur wieder weiter mit dem, was er immer tut, seit er nachts auf meiner Terrasse auftauchte.
Innerhalb der nächsten zwei Wochen war Ruhe. Und ich hoffte schon, dass es zu Ende sein würde. Aber als die zwei Wochen vorbei waren, ging es wieder los. Dieses Mal ging ich noch einen Schritt weiter. Als Wolfgang, oder sollte ich besser sagen, sein Geist, wieder hinter der Glasscheibe stand, fasste ich allen Mut zusammen und öffnete die Tür.«
Anna wollte gerade einen Schluck aus der Tasse trinken, fror dann aber in ihrer Bewegung ein, als sie hörte, was die alte Dame ihr da erzählte.
»Ich sagte ihm, wenn er mir etwas zu sagen hätte, solle er reinkommen. Er müsse sich doch erinnern, dass er mit mir hier in diesem Haus über dreißig Jahre gewohnt hatte.
'Komm rein!', rief ich ihm zu. Aber er tat es nicht. Stattdessen wich er etwas zurück. Er wagte es nicht, über die Schwelle zu treten. Ich verstehe nicht, warum.«
»Du meine Güte, Frau Germens, ich kann kaum glauben, was Sie mir da erzählen!«, sagte Anna ziemlich schockiert.
»Was meinen Sie? Kind, Sie sehen ja kreidebleich aus! Hätte ich das nicht tun sollen? Sind Sie deshalb so erschreckt?«
»Allerdings! Frau Germens, hören Sie mir bitte genau zu: Auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall dürfen Sie den Geist bitten, ins Haus zu kommen!«
»Aber warum denn nicht?«
»Weil es einen guten Grund dafür gibt, dass er nicht ins Haus gehen will. Wenn Sie ihn noch dazu ermutigen, dann wird er Sie nicht nur für ein paar Minuten zu Mitternacht erschrecken. Nein, würde er hineinkommen, dann wäre er endgültig an dieses Haus gebunden und würde Ihnen 24 Stunden am Tag das Leben zur Hölle machen. Und durch seine ständige Präsenz vielleicht noch andere aus dem Jenseits anlocken. Andere Wesen, die nicht so harmlos sind wie der Geist Ihres Mannes. Im schlimmsten Fall würden Sie Ihr Haus zu einem Magneten für Poltergeister machen. Ihr Mann weiß das. Deshalb blieb er dem Inneren fern. Er will Ihnen also nicht schaden. Würde er es doch wollen, wäre er schon längst hier drinnen.«
»Grundgütiger! Ich hatte ja keine Ahnung. Es ist ja jetzt schon für mich kaum noch zum Aushalten.«
»Versprechen Sie mir bitte, dass Sie das nie wieder tun werden.«
»Ja, natürlich. Ich will doch nur Eines, nämlich dass es endlich aufhört! Ich ertrage dieses furchtbare Klopfen nicht mehr. Ich träume schon davon. Ich habe langsam das Gefühl, ich verliere den Verstand.
Ich kann nicht mehr. Bitte, Sie müssen mir helfen!«
»Ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Sie sagten am Anfang, der Geist Ihres Mannes sei gestern das letzte Mal erschienen. Wann glauben Sie, kommt er wieder?«
»Heute Nacht. Er erscheint jetzt in jeder Nacht. Es ist die letzten beiden Wochen immer schlimmer geworden.«
Anna hatte nicht damit gerechnet, dass sie noch am selben Tag ihrer Ankunft in Nimtow ihre erste Bewährungsprobe zu bestehen hatte. Das konnte sie sich natürlich nicht entgehen lassen. Sie musste heute Nacht wiederkommen und der Sache auf den Grund gehen. Sie sah es von ihrem professionellen Standpunkt aus positiv. Besser hätte sie es nämlich nicht treffen können. Sie könnte noch heute Nacht den ersten Kontakt zu einem Geist, der mit den angeblichen paranormalen Vorgängen hier in Verbindung stand, aufnehmen. Und wie es schien, hatte dieser Geist etwas zu sagen. Etwas, das ein wenig Licht ins Dunkel bringen könnte.
Doch vorher wollte sie sich noch etwas ausruhen und mental vorbereiten. Schließlich hatte sie das letzte Mal vor über sieben Jahren Kontakt mit dem Übersinnlichen gehabt. Bevor sie sich für zehn Uhr abends mit Frau Germens verabredete, bat Anna noch, vorher die Terrasse und den Garten inspizieren zu dürfen. Sie wollte sicherstellen, dass es nicht doch verräterische Spuren gab, die auf einen Betrug hindeuten konnten.
Zuerst nahm sie sich die Terrasse vor. Sie war aufgeräumt und sauber. Spuren? Fehlanzeige. Danach untersuchte sie den Garten, vor allem in der Nähe des Zauns, wo es viele Blumen- und Gemüsebeete gab. Fände sie einen einzigen Fußabdruck, würde sie wohl nicht mehr lange in Nimtow bleiben, denn für üble Späße oder einen gezielten Betrug war ihr ihre Zeit zu schade. Aber Anna fand nichts dergleichen. Sie suchte gründlich, vielleicht auch deshalb, weil sie insgeheim hoffte, dass hier nichts Übernatürliches vor sich ging, damit sie wieder nach Hause konnte. Denn, ein wenig mulmig war ihr schon bei dem Gedanken, wieder einen realen Kontakt zum Jenseits herzustellen. Sie fürchtete, aus der Übung zu sein. Sie fürchtete, etwas falsch zu machen, das alles noch viel schlimmer machen könnte. Das konnte leicht passieren.
Du hast es nicht verlernt. Mach dir keine Sorgen. Du weißt, was du tust, sagte sie sich in Gedanken.
Sie verabschiedete sich vorläufig von Frau Germens und versprach, pünktlich zwei Stunden vor der vermuteten Rückkehr ihres toten Mannes wiederzukommen.
Anna hatte natürlich nichts verlernt. Sie wusste ganz genau, was im Falle einer geisterhaften Spukerscheinung zu tun war, und was man besser nicht tun sollte. Was sie aber nicht ahnen konnte, war, dass die in Nimtow aufgebrochene Barriere zu den Geschöpfen des Jenseits etwas hervorbringen sollte, das selbst ihre Erfahrung übertreffen würde.