Читать книгу Phänomena - S. G. Felix - Страница 9

Irrlicht

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Der Zaun war nur einen Meter hoch, so dass Anna mühelos darüber klettern konnte. Das Grundstück von Frau Germens war das letzte in der Seitengasse, dahinter erstreckte sich in der Dunkelheit das Rapsfeld. Annas Kopf flog von einer Seite zur anderen. Das Ding musste noch in der Nähe sein. Das war es auch. Sie sah die beiden finster leuchtenden Punkte in der Gasse, wie sie rasch davon stoben, Richtung Hauptstraße. Anna rannte hinterher. In der Seitengasse gab es kein Straßenlicht, und der Weg bestand aus zwei Spuren von schiefen Betonplatten, bei denen man leicht ins Stolpern geraten konnte. Deshalb schaltete sie hastig die Taschenlampe ein und verfolgte das Ding.

An der dürftig beleuchteten Straße angekommen, huschten die Augen auf der gegenüberliegenden Seite über den Gehweg und verschwanden zwischen zwei Häusern. Anna richtete den Lichtkegel ihrer Taschenlampe dorthin und erkannte, dass es sich um einen Fußweg handelte, der hinunter zum Fluss führte. Für eine Sekunde zögerte sie. Floh das Wesen, oder wollte es sie zum Fluss locken?

Und wenn schon. Ich lasse mich nicht täuschen. Hinterher!, trieb sie sich an.

Anna musste etwas langsamer werden, weil der abschüssige Weg zum Fluss zwischen den Grundstücken unbefestigt war und herabfließendes Regenwasser Wurzeln der umgebenden Bäume freigelegt hatte. Auf halber Strecke machte sie Halt und leuchtete zur Havel. Die glühenden Punkte in der Ferne waren noch da. Eine dazugehörende dunkle Gestalt verschwand aber wieder blitzartig aus dem Lichtkegel zur Seite. Das Ding musste schon das Ufer erreicht haben. Eine kleine Badestelle befand sich dort. Beleuchtung gab es außer Annas Taschenlampe keine.

Menschen waren zu dieser Uhrzeit keine mehr hier in der Nähe. Selbst tagsüber, trotz des warmen und sonnigen Wetters, wurde die Badestelle in der Frühsommerzeit nur selten benutzt, weil das Wasser der Havel noch zu kalt war. Doch obwohl Anna hier am Fluss alleine war (das Wesen, das sie verfolgte, nicht einbezogen) gab es an diesem Ort reichlich Leben. Das wilde Quaken der Frösche im Schilf konnte man schon auf der Hauptstraße hören. Nachtaktive Füchse und einige Hauskatzen streiften durch das teils hohe Gras. Je näher Anna dem Wasser kam, desto aufgeweichter war der Boden. Sie hatte die Grundstücke hinter sich gelassen und ging einen immer schmaler werdenden Weg zur kleinen Liegewiese mit Strand. Links und rechts von ihr war ein sumpfartiges Gelände, das in Hochwasserzeiten auch als Überschwemmungsgebiet fungierte. Im Rahmen der groß angelegten Renaturierung der Havel und deren angrenzenden Auen war alles sehr naturbelassen. Hier gab es fast alles Amphibische, von Kröten, Wasserschlangen, Fröschen, Lurchen und unzähligem anderen Getier, mit dem Anna als Stadtmensch noch nie so nah auf Tuchfühlung gegangen war wie in diesem Augenblick.

Sie näherte sich dem Strand langsam und mit geschärften Sinnen. Die unnatürliche Kälte, die das Wesen ausstrahlte, konnte sie immer noch spüren. Schließlich hatte sie das Ufer erreicht. Sie leuchtete auf das fließende dunkle Wasser. Irgendwo in der Ferne hörte sie ein Platschen, das aber nicht unnatürlichen Ursprungs war. Wahrscheinlich war ein Frosch ins Wasser gehüpft.

Anna drehte sich einige Male um sich selbst und leuchtete die Gegend ab. Von dem Dauergequake der Frösche, das einem schnell den letzten Nerv rauben konnte, nahm sie kaum etwas war. Was immer sie verfolgt hatte, es war wohl fort.

Sie wollte sich schon umdrehen und wieder zurück nach oben zum Ort gehen, als ihr plötzlich auffiel, dass das Quaken der Frösche schlagartig verstummt war. Es war plötzlich still wie in einem Grab. Und es wurde wieder kälter. Eine regelrechte Kältewoge erfasste Anna und ließ sie erzittern. Hastig sah sie um sich, drehte sich auf dem Absatz in alle Richtungen, konnte aber die glühenden Augen nicht aufspüren.

Aber es ist hier. Ganz in der Nähe. Ich kann es fühlen. Bleib wachsam.

Kaum hatte sie den letzten Satz in Gedanken ausgesprochen, begann ihre Taschenlampe zu flackern. Zuerst nur kurz, dann immer länger und in immer kürzer werdenden Intervallen.

»Geh jetzt bloß nicht aus! Schön weiter leuchten, du verdammtes Mistding.«

Doch die Lampe hielt sich nicht daran, sie flackerte nochmal heftig und versagte dann komplett ihren Dienst.

»Scheiße!«

Anna stand nun komplett im Dunkeln. Doch dunkel war die falsche Bezeichnung. Es war stockfinster. In der Stadt gab es immer Lichter, zu jeder Nachtzeit, meistens mehr als für Mensch und Natur gut waren. Aber hier draußen auf dem Land war es stockfinster. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Kein Wunder: Anna hatte in Vorbereitung auf ihre Reise ins Havelland gelesen, dass es hier in der Nähe einen Ort gab, der als einer der dunkelsten auf der ganzen Welt gilt und daher auch für Sternenbeobachter regelmäßig ein beliebter Treffpunkt ist. Es hieß, man könnte hier die Milchstraße mühelos erkennen. Etwas, das man in der Großstadt vergessen konnte.

Anna hämmerte noch ein paar Mal gegen ihre geliehene Lampe, jedoch ohne Erfolg.

Die Kälte nahm zu. Das Wesen kam immer näher. Was sollte sie jetzt tun? Wegrennen? Nein, sie wusste, das war zwecklos. Sie hatte Angst, entgegen ihrer Erfahrung, obwohl das unnötig war, denn bisher hatte ihr noch nie ein Wesen ernsthaft Schaden zufügen können. Aber dasjenige, dem sie hier in der Nacht gefolgt war, war anders.

Es ist böse, fuhr es Anna unweigerlich durch den Kopf, und sie erschauerte.

»Spiel keine Spielchen mit mir«, sprach sie in die Dunkelheit, wissend, dass es unklug wäre, Angst zu zeigen. »Zeig dich mir, und sag mir endlich, was du willst!«

Statt einer Antwort aus der Finsternis ging plötzlich die Taschenlampe wieder an. Überrascht richtete sie ihren Blick darauf. Im selben Moment blies ihr ein eisiger Wind ins Gesicht. Sie hielt daraufhin die Taschenlampe vor sich und blickte in das hassverzerrte Gesicht einer dunklen Gestalt, die genauso schwarz war wie die Nacht. Rote, unnatürlich große Augen starrten sie an. Alles geschah so schnell, dass sie nicht reagieren konnte. Das Ding schrie ihr etwas entgegen, aber nicht mit gesprochenen Worten. Vielmehr hörte Anna eine tiefe Stimme in ihrem Kopf.

Verschwinde, und komm nie wieder!, waren seine Worte.

Bevor Anna beschloss, zu antworten, stieß sie das Etwas mit Wucht zurück. Es fühlte sich an, als wäre sie von einem starken Windstoß ruckartig von den Füßen gerissen worden. Die Taschenlampe glitt ihr aus der Hand und fiel ins feuchte Gras. Ehe sie begriffen hatte, was geschehen war, sah sie, wie im Lichtkegel der Lampe sich das Gras an bestimmten Stellen zusammenrollte und binnen Sekunden verwelkte. Jede weitere Stelle faulen Grases, die sich bildete, rückte näher an sie heran. Es waren genau die Stellen, welche von den unsichtbaren Füßen des Wesens betreten worden waren. Die faulen Stellen im Gras waren nichts anderes als Fußspuren, die auf sie zukamen. Sie versuchte sich aufzurappeln, konnte sich aber nicht bewegen. Sie war desorientiert, und Arme und Beine fühlten sich bleischwer an.

»Bleib weg von mir!«, schrie sie das Ding an. Die lodernde Glut in seinen Augen wurde, je näher es kam, größer und größer.

Anna schaffe es gerade einmal, sich mit den Ellenbogen am Boden abzustützen. Das Ding war nun schon über ihr, wurde länger und länger und beugte sich weit über sie.

»Nein!«, schrie sie panisch.

Lass sie in Ruhe!, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Es war nicht das abscheuliche Wesen.

Plötzlich flammte ein heller weißer Lichtpunkt auf der gegenüberliegenden Flussseite auf und schoss einen grellen Lichtstrahl über das Wasser auf das über sie gebeugte Ding. Als es von dem weißen Licht getroffen wurde, stieß es einen gellenden Schrei aus, der nicht von dieser Welt war. Er war nur sehr kurz, aber so fürchterlich, dass sich Anna die Ohren zuhalten musste. Im selben Moment wich das Wesen mit den roten Augen zurück und verschwand in der Dunkelheit. Es floh, das konnte Anna mit Sicherheit annehmen, da auch die Kälte schlagartig verschwand.

Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Als sie sich aufgerichtet hatte, war das merkwürdige Licht auf der anderen Flussseite immer noch da. Es bewegte sich aufgeregt hin und her mit einer unnatürlichen Schnelligkeit. Es blieb aber auf der anderen Seite, als wolle es das Wasser meiden. Die zickzackförmigen Bahnen, die es knapp über dem Erdboden vollführte, erinnerten Anna an die Berichte über UFO-Sichtungen von Piloten aus der zivilen und militärischen Luftfahrt. Aber sie glaubte nicht an etwas Extraterrestrisches, welches das Wesen mit den roten Augen vertrieben hatte.

»Was bist du?«, flüsterte sie. Mit dem letzten Wort ihrer Frage hielt das Licht in seiner Bewegung inne, so als würde es sie ansehen. Dann, mit einem Mal, schoss es in den Himmel hinauf und verschwand. Anna war wieder allein. Sie stand auf, nahm die Taschenlampe an sich und verharrte für eine Weile in der absoluten Stille.

Wenige Sekunden später traute sich ein erster mutiger Frosch wieder, einen Laut von sich zu geben. Dann ein zweiter. Schließlich dauerte es nicht mehr lange, bis die Frösche wieder im Chor ihr nächtliches Lied sangen. Die Nacht im Havelland war wieder so, wie sie sein sollte. Der Spuk war vorbei - vorerst.

Phänomena

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