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Nach Mitternacht

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Wie versprochen kam Anna pünktlich. Sie hatte sich den restlichen Nachmittag nach ihrem ersten Besuch noch ausruhen wollen, aber sie war zu aufgeregt, um Ruhe zu finden, je näher der Abend rückte.

Frau Germens war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als sie Anna erneut die Tür öffnete und sie in ihr Haus ließ. Wahrscheinlich hatte sie befürchtet, Anna nie wieder zu sehen, weil sie ihr nicht geglaubt hatte.

Überrascht musterte die alte Dame Anna.

»Stimmt etwas nicht, Frau Germens?«

»Doch, doch. Ich wundere mich gerade nur, dass Sie gar nichts dabei haben. Ich meine, ich habe schon mal so eine Dokumentation über Geisterjäger gesehen. Die hatten allerlei mögliche Apparate dabei, mit denen sie die Geister aufgespürt haben.«

Anna konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ach so, das meinen Sie. Nein, so einen Kram brauche ich nicht. Ich spüre auch ohne diese Dinge die Anwesenheit einer Präsenz.«

»Ich verstehe«, sagte Frau Germens ein wenig schüchtern, da sie glaubte, eine dumme Frage gestellt zu haben. »Wie machen Sie das? Kann man das lernen?«

Sie erreichten das Wohnzimmer und setzten sich an den Esstisch.

»Nein, nicht das ich wüsste. Und wenn Sie mich danach fragen, wie ich es mache, dann kann ich Ihnen keine Erklärung bieten. Zumindest keine, die Sie zufrieden stellen würde. Ich konnte es schon immer. Ich konnte Dinge sehen, die dem normalen Auge verborgen bleiben; schon als Kind. Aber ich musste lernen, damit umzugehen. Ich musste lernen zu wissen, wohin man blicken muss, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich glaube schon. Dennoch würde mir eine solche Gabe Angst machen.«

Frau Germens bot Anna noch etwas zu Essen an, aber sie lehnte ab. Sie würde jetzt keinen Bissen mehr runter kriegen. Sie war ungewohnt aufgewühlt.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir den Fernseher anmachen? Ich kann diese Ruhe nur schwer ertragen. Es lenkt mich ein wenig ab.«

»Machen Sie nur. Tun Sie all das, was Sie in den vorigen Nächten auch getan haben. Alles soll so sein wie immer. Keine Sorge. Ich bin ja hier.«

Die alte Dame ging hinüber zu ihrem Sofa, setzte sich und starrte mit leerem Blick in den Fernseher. Anna blieb am Tisch sitzen und schaute zu den Vorhängen, hinter denen die Panoramascheibe und die Terrassentür verborgen waren. Alles war ruhig. Es war halb elf. Sie hatte sich ein kleines Buch übers Havelland mitgenommen, welches sie in den folgenden eineinhalb Stunden las. Aber sie konnte sich nicht gut auf die Worte konzentrieren. Sie ärgerte sich, dass sie so aufgeregt war. Sehr wahrscheinlich würde heute Nacht nichts geschehen. So jedenfalls hatte sie es in zwei von drei Fällen erlebt, wenn sie in Sachen Paranormales zur Hilfe gerufen wurde. Oft bildeten sich die Menschen nur etwas ein. Vielleicht war dies hier genauso. Die Voraussetzungen waren (leider) perfekt: Frau Germens lebte seit fünf Jahren allein, Tag für Tag, Abend für Abend. Die Fantasie konnte einem Streiche spielen, deren Bösartigkeit Anna noch heute überraschen konnte.

Fünf Minuten vor Mitternacht.

Anna wäre fast über ihrem Buch eingenickt, als sie plötzlich merkte, dass das leise Gemurmel aus dem Fernseher verstummt war. Die alte Dame hatte das Gerät ausgeschaltet und sah Anna mit großen Augen an.

»Gleich ist es soweit«, flüsterte sie. Sie drehte das Licht des Deckenstrahlers etwas herunter, so dass der Raum nur noch von einem schwachen, orangefarbenen Glimmen erfüllt war.

An der Wand über dem Esstisch hing eine Uhr aus Messing. Anna starrte gebannt darauf, obwohl sie es doch nicht nötig hatte, von der Situation gebannt zu sein.

Du bist ein Profi, reiß dich zusammen!

Dann war es soweit. Zwölf Uhr, Mitternacht. Beide Frauen saßen erstarrt und mucksmäuschenstill da und horchten.

Nichts geschah. Nicht das leiseste Geräusch.

Anna sah zur Uhr. Eine Minute nach Mitternacht. Sie sah die alte Dame auf ihrem Sofa fragend an. Die zuckte nur mit den Schultern.

Sie warteten weiter. Und immer noch war nichts zu hören. Allmählich spürte Anna jedoch ein Frösteln. Und es begann in ihren Fingerspitzen zu kribbeln - ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich hier etwas anbahnte.

»Vielleicht kommt er heute nicht, weil Sie hier sind«, flüsterte Frau Germens. »Vielleicht muss ich...«

Ein furchtbares Geräusch ertönte und ließ Anna zusammenzucken. Es war furchtbar laut und schien von weit, weit her zu kommen. Es war das Klopfen an der Scheibe, aber es hätte auch genauso gut der Glockenschlag einer Turmuhr sein können, so dröhnend laut war es.

Nur einmal. Dann folgte Stille. Ein paar Sekunden später klopfte es erneut, und Anna wunderte sich mit wachsender Besorgnis über die fast ohrenbetäubende Lautstärke. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie Frau Germens, sie solle zur Terrassentür gehen und den Vorhang aufziehen. Anna selbst wollte sich im Hintergrund halten. Wer auch immer da draußen auf der Terrasse war, sollte sie nicht sehen.

Die alte Dame schlich zum Vorhang, atmete einmal tief durch und vergewisserte sich, dass Anna einverstanden war. Die nickte nur stumm und bezog schräg hinter der Hauseigentümerin Stellung.

Vorsichtig zog Frau Germens den Vorhang zur Seite. Sie schaute durch die Glastür. Anna konnte aus ihrer Position entgegen ihrer Planung nichts sehen, weil aus ihrem Blickwinkel das Licht des Deckenfluters für eine Spiegelung sorgte, so dass sie nur Schemen des Wohnzimmers sah. Sie musste sich hinter die alte Dame stellen, und zwar schnell, sonst könnte der Spuk wieder vorbei sein.

»Was willst du bloß von mir?«, wimmerte Frau Germens. Eine Bestätigung für Anna, dass es tatsächlich jemanden oder etwas da draußen gab. Doch sie musste es mit eigenen Augen sehen. Sie bemerkte, dass es merklich kühler geworden war. Wenn das dort draußen kein Geist war, dann würde sie einen Besen fressen.

Langsam, ganz langsam bewegte sie ihren Oberkörper zur Seite, um durch die Scheibe sehen zu können. Und dann sah Anna, was sie insgeheim gehofft hatte, nicht zu sehen. Sie blickte in das schemenhafte Gesicht einer Gestalt. Es war grau, und die Dunkelheit der Nacht durchbrach das Äußere der Erscheinung, wie Risse in einem Bild. Was sie sah, war keine Form aus Fleisch und Blut. Sie wusste sofort, dass sie es mit der Manifestation eines Geistes zu tun hatte. Die Gestalt schaute Anna nicht an, sie schien auch Frau Germens nicht anzusehen, sondern durch sie hindurch. Und wie sie es berichtet bekommen hatte, machte das Ding jenseits der Türschwelle den Mund langsam auf und zu, als würde es in Zeitlupe versuchen, eine Botschaft zu überbringen.

»Ist das nicht furchtbar? Ich ertrage seinen Anblick nicht länger«, flüsterte die alte Dame und wendete sich mit Grauen ab.

Anna überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie musste sich konzentrieren. Sie wusste, dass es zwecklos sein würde, versuchen zu wollen, etwas zu hören, das der Geist sagen wollte. Das, was sich hinter der Terrassentür manifestiert hatte, konnte nicht in dieser Welt sprechen. Hätte der Geist es gekonnt, würde er nicht wieder und wieder kommen und es ständig vergeblich aufs Neue versuchen zu sprechen. Dieser Geist, mit dem sie es zu tun hatten, war in seiner Handlung gefangen. Er konnte nicht anders, doch er fand keinen Weg zu kommunizieren. Aus diesem Grund musste Anna versuchen, ihren sechsten Sinn einzusetzen. Sie musste versuchen, zu hören, was andere nicht hören konnten.

»Was machen wir jetzt?«, wollte Frau Germens wissen. Sie war mit den Nerven völlig fertig.

»Bleiben Sie bitte neben mir, und bewegen Sie sich nicht, sonst verschwindet er vielleicht.«

Anna durchlief so etwas Ähnliches wie eine Meditation. Sie verlangsamte ihre Atmung, blinzelte nicht mehr und starrte auf das Wesen. Sie tat das, was sie schon viele Male zuvor getan hatte, wenn sie versuchte, die Worte der Toten zu verstehen. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber je tiefer Anna in sich ging, desto mehr kam es ihr wie Stunden vor.

Dann glaubte sie, bereit zu sein. »Öffnen Sie jetzt die Tür.«

»Was? Ich dachte, ich soll ihn nicht hineinlassen.«

»Vertrauen Sie mir. Tun Sie es! Und halten Sie sich an der Seite. Ich bleibe vor der Tür stehen.«

Anna konnte aus den Augenwinkeln die Verzweiflung in Frau Germens Gesicht sehen. Doch wenn sie den Geist verstehen wollte, musste die Barriere in Form der Glasscheibe der Terrassentür weg - so einfach war das. Es gefiel Anna ebenfalls nicht, sie hatte aber keine Wahl. Das, worauf sie nun achten musste, war, den Geist nicht ins Haus zu lassen. Deshalb blieb sie vor der Tür stehen.

Widerwillig drückte die alte Frau den Hebel herunter und zog die Tür langsam nach innen auf. Die Erscheinung reagierte darauf nicht und machte weiter stoisch den Mund auf und zu, als würde sie gar nicht wissen, wo sie war, und zu wem sie stumm sprach.

Was willst du?, redete Anna in Gedanken zum Geist. Sprich zu mir, ich will hören, was du zu sagen hast. Ich werde dich verstehen. Du musst dich nur auf mich konzentrieren.

Aber Anna verstand immer noch kein Wort.

Kannst du mich hören? Sprich zu mir. Ich werde dir zuhören.

Mehrere Male versuchte Anna, in Kontakt mit der persistenten Erscheinung vor ihr zu treten, ohne Erfolg.

»Sprich zu mir!«, rief sie dann unvermittelt so laut, dass die alte Dame erschreckt zusammenzuckte.

Laut zu sprechen, war die letzte Möglichkeit, eine Verbindung herzustellen. Nicht ganz. Es gab noch eine weitere, vor der Anna aber jetzt noch zurückschreckte.

Für einen kurzen Moment glaubte sie, ein Wort gehört zu haben. Als hätte es jemand in einen Sturm gerufen, nahezu unhörbar.

»Sag es nochmal!«, forderte Anna den Geist auf. Aber da war der seelische Kontakt schon wieder abgebrochen, sollte er überhaupt kurzzeitig hergestellt worden sein.

»Es hat keinen Sinn. Es ist so wie jedes Mal«, beschwerte sich Frau Germens.

Das machte Anna wütend. Nicht, weil das, was sie gerade tat, in Zweifel gezogen wurde, sondern, weil Anna sich ärgerte, dass sie anscheinend dabei war, zu versagen. Und das machte sie wirklich wütend. Also entschied sie sich, von ihrer letzten Option Gebrauch zu machen. Etwas, das sie in der Vergangenheit nur äußerst selten und ungern getan hatte.

Um dem Geist doch noch eine Information zu entlocken, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu provozieren. Eigentlich keine gute Idee, denn die Gefahr, dass die Entität vor ihr ebenfalls wütend wurde und ins Haus stürmte, war recht hoch.

»Sprich zu mir! Sag es mir so, dass ich es verstehen kann, sonst werde ich dafür sorgen, dass du hier nie wieder auftauchst.«

Keine Reaktion. Zeit, den Ton zu verschärfen.

»Du hast hier nichts mehr zu suchen! Sag, was du sagen willst. Streng dich mehr an, denn du bist hier nicht willkommen. Das ist nicht mehr dein Zuhause.«

»Aber...«, wollte ihr Frau Germens ins Wort fallen. Das war immerhin ihr Mann, mit dem sie fast fünfzig Jahre verheiratet gewesen war. Auch wenn er nun nicht mehr am Leben war.

»Ruhe!«, herrschte Anna sie an. Sie hatte nämlich schon eine Wirkung ihrer Worte bemerkt. Die Gestalt im Dunkeln auf der Terrasse hatte sich kaum merklich bewegt, und ihre Erscheinung hatte leicht zu fluktuieren begonnen, als würde sie sich schon bald wieder in Luft auflösen.

»Rede endlich, Geist! Rede, sonst verstoße ich dich von diesem Ort. Ich verstoße dich und verdamme dich für alle Zeiten ins Jenseits, wo du hingehörst. Du wirst in der Welt der Toten stumm wandeln, ohne Aussicht, dein Anliegen je wieder vortragen zu können, für immer und für alle Zeiten!«

Abrupt erstarrte die halb transzendente Gestalt des Verstorbenen und verharrte mit geöffnetem Mund vor Anna. Sie merkte, wie ihr Puls raste, blieb aber still stehen und ließ die Erscheinung nicht eine Sekunde aus den Augen.

»Was passiert jetzt?«, entfuhr es der angsterfüllten alten Dame.

»Still«, flüsterte Anna ihr zu.

»Ich habe Angst!«

»Seien Sie still«, zischte Anna, ohne ihren Blick abzuwenden.

Aber die Nerven gingen mit der Hausherrin durch. Den Anblick der traurigen und zugleich beklemmenden Erscheinung ihres toten Mannes so erstarrt noch länger ertragen zu müssen, erschien ihr unmöglich.

»Um Himmels Willen!«, begann sie völlig aufgelöst zu schreien. »Sag mir doch, was du von mir willst, sag es mir!« Dann machte sie Anstalten, nach dem Geist die Hand auszustrecken.

»Frau Germens, tun Sie das nicht!«

Aber da war es schon zu spät. Ihre Hand tauchte in die Gestalt, die mehr als zuvor eine eisige Kälte ausstrahlte, ein. Daraufhin zuckte das Ding augenblicklich zurück und fing an, sich in Nebelfetzen aufzulösen. Zuerst die Silhouette des Körpers, das Gesicht blieb in der Dunkelheit erhalten, fing aber an, auf seltsam gespenstische Weise zu leuchten, wie es sogar Anna noch nie zuvor erlebt hatte. Das bis eben noch ausdruckslose Gesicht des Geistes veränderte sich. Es verformte sich auf bizarre Weise. Die Augen gingen auseinander, der immer noch geöffnete Mund wurde größer und größer und entblößte eine abscheuliche Schwärze, die einem das Gefühl gab, direkt in den Abgrund der Hölle zu blicken. Und dann, völlig aus dem Nichts, stieß die bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Kreatur einen markerschütternden Schrei aus. Die beiden Frauen wichen zurück und hielten sich die Ohren zu. Zeitgleich stob das nebelartige Wesen auseinander und verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht.

Es verschwand vollständig. Dann wurde es wieder still.

Anna hatte trotz dieses Schreckens das Wesen genau verstanden.

»Flieh!«, war das einzige Wort, das es ihnen entgegen geschleudert hatte.

Frau Germens sah Anna schockiert an. Ihr fragender Blick wollte wissen, ob es vorbei war. »Ist es weg?«, fragte sie.

Anna ging hinaus auf die Terrasse. Ein Laie wäre mit Sicherheit zu dem Schluss gekommen, der Geist wäre verschwunden, aber Anna spürte immer noch diese Eiseskälte, die einem buchstäblich bis in die Knochen fuhr.

»Es ist immer noch in der Nähe«, sagte sie.

Frau Germens biss sich auf die Unterlippe. »Das darf doch nicht wahr sein. Hört das denn nie auf?«

Anna konnte nichts sehen. »Haben Sie eine Taschenlampe?«

»Ja, ich hole sie.«

Anna blieb auf der Terrasse und sah sich im Garten um. Als die alte Dame ihr die Taschenlampe in die Hand drückte, bemerkte sie ein Knistern in der Nähe des Maschendrahtzauns. Es hörte sich wie das Knistern von Elektrizität an. Gerade in dem Moment, in dem sie die Taschenlampe auf jene Stelle gerichtet hatte und sie einschalten wollte, flammten zwei blutrote Augen jenseits des Zaunes auf und starrten sie hasserfüllt an, ehe diese blitzartig zur Seite aus ihrem Sichtfeld glitten.

Was zur Hölle bist du?

So etwas hatte auch Anna noch nicht gesehen. Ohne weiter nachzudenken, nahm sie die Verfolgung auf.

»Warten Sie, lassen Sie mich nicht allein!«, hörte sie noch Frau Germens rufen, als sie schon den Zaun erreicht hatte.

Phänomena

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