Читать книгу Zeit, mich zu finden - Sabeth Ackermann - Страница 11

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Die Zeitblase

Bei der Erinnerung daran überwältigen mich meine Gefühle erneut und sogar noch intensiver als zuvor, und Tränen laufen mir jetzt ungehemmt das Gesicht hinunter.

Mein Herz klopft wie wild, und mir wird etwas schwindlig; die Konturen des Türrahmes und die Türklinke selbst scheinen sich zu bewegen, flackern, verschwimmen und kehren dann doch wieder dahin zurück, wo sie sich zuvor schon befunden hatten.

Ich lehne mich an die Zwischenwand, damit ich am Ende nicht noch umkippe, und versuche, meine Tränen wegzublinzeln, um wieder klar sehen zu können.

Da meine ich, aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung zu vernehmen.

Ich blicke in Richtung des Notausgangs, der zur Treppe führt, und nehme auf der geöffneten Tür einen zarten Schatten wahr, der sich mit unendlicher Langsamkeit nach oben schiebt.

Da zu diesem Bild aber keine Laute zu hören sind, ist mir das Ganze ziemlich unheimlich; gleichzeitig hat das merkwürdige Phänomen aber auch meine Neugierde geweckt.

Ich versuche, mich mit dem Wissen zu beruhigen, dass sich meine ehemaligen Klassenkameradinnen nur wenige Meter von mir entfernt aufhalten und mir eigentlich nichts passieren kann. Und mit dieser Absicherung hätte ich schon gerne nachgeguckt, was es mit meiner Beobachtung auf sich hat; aber ich schäme mich wegen meines verheulten Gesichts. Und so ziehe ich ein Papiertuch aus meiner Handtasche und tupfe mir damit gerade unter meinen Augen herum, als ich jetzt doch direkt neben mir etwas höre.

Maßlos erschrocken zucke ich zusammen und drehe reflexartig meinen Kopf in Richtung des Geräuschs.

Jan ist in seinem altbekannten steingrauen Anzug mit dem weißen Hemd durch den Durchgang auf dem Treppenabsatz angekommen.

Zielsicher wie eh und je streckt er seine rechte Hand mit dem Schlüssel schon einen halben Meter vor der Tür aus, trifft das Schloss, dreht den Schlüssel um, öffnet die quietschende Tür, betritt den Raum und zieht sie sofort wieder krachend hinter sich zu; und das alles in kaum fünf Sekunden!

Ich bin wie erstarrt.

Noch einmal blinzle ich heftig und rühre mit beiden Zeigefingern in meinen Ohren, als wolle ich Wasser daraus entfernen; dabei ist in meine Gehörgänge seit 56 Jahren kein Wasser mehr gelangt. Die alte, ehrwürdige Tür des Physiksaals sieht so unschuldig aus wie eh und je; und jetzt ist kein Geräusch mehr zu vernehmen.

Es ist überhaupt kein Geräusch mehr zu vernehmen!

Ich spitze meine Ohren, aber keine einzige schlaffe Schallwelle trifft auf meine Trommelfelle. Keine Stimmen, kein Gelächter, kein Tellerklappern, Gläserklirren, keine verzerrten Ansagen übers Mikrofon – ja nicht einmal meine übermütigen Klassenkameradinnen sind zu hören; jetzt ist mir richtig unheimlich zumute!

Verwirrt und mit deutlich erhöhtem Puls spähe ich nach rechts durch den Durchgang der Glastüren zu meinem alten Klassenzimmer und bemerke, dass dessen Tür noch immer geöffnet ist; doch von Gabriele und Sabine ist nichts zu sehen.

Kurz überlege ich, ob ich vielleicht in meinem Bett liege und das alles hier nur träume; verwerfe den Gedanken dann aber sofort wieder.

Seit ich ein Kind bin, verfüge ich über die Fähigkeit des luziden Träumens; und ich weiß immer, wann ich träume und wann nicht. Und diese Situation fühlt sich trotz einiger Ungereimtheiten nicht wie ein Traum an! Was aber war das gerade eben mit Jan?

Hat mir mein heftiges Wunschdenken einen makabren Streich gespielt?

Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich lieber zu meinen Freundinnen zurückkehren oder doch einfach im alten Physiksaal nach meinem ehemaligen Lehrer schauen soll. Natürlich siegt meine Neugierde, und so entscheide mich spontan für Letzteres. Ich gehe ein paar Meter vor und strecke die Hand nach der Klinke aus; wahrscheinlich ist die Tür sowieso abgeschlossen, und ich habe mir alles nur eingebildet.

Doch die alte Messingklinke lässt sich bereitwillig herunterdrücken, und die schwere Holztür öffnet sich, wie schon vor Jahrzehnten widerwillig quietschend, einen kleinen Spalt.

Blitzartig und zu Tode erschrocken lasse ich sie los, als würde sie unter Strom stehen!

Doch jetzt möchte ich endlich eine Erklärung für all meine Ungereimtheiten, nehme meinen ganzen Mut zusammen und öffne sie vollständig mit einem einzigen energischen Ruck!

Der Raum wirkt noch genauso antiquiert und muffig, wie ich ihn in Erinnerung habe; und ich wundere mich, dass er in all den Jahren offensichtlich keine neue Verwendung gefunden hat, die auch eine umfassende Renovierung nach sich gezogen hätte.

Jan steht hinter dem großen Versuchstisch und lächelt mich an. Er ist etwa Mitte Vierzig und sieht noch besser aus als damals als junger Lehrer: männlicher, breitschultriger und kräftiger, was ich sofort überaus anziehend finde.

„Da bist du ja“, begrüßt er mich.

Ich traue sowohl meinen Augen als auch meinen Ohren kaum, wobei mich das vertrauliche „Du“, das er mir gegenüber anwendet, noch am wenigsten irritiert. „Haben Sie mich etwa erwartet?“, bringe ich schließlich mühsam hervor und ärgere mich sofort darüber, dass mir nichts Intelligenteres eingefallen ist. Normalerweise beherrsche ich die Kunst gehobenen Smalltalks mit einzelnen Männern aufgrund jahrelanger Übung ganz gut, aber diese Situation überfordert mich. Und so stehe ich erst mal nur da und starre ihn an, während ich in meinem Kopf verzweifelt nach einem passenden Gesprächseinstieg für derartige Fälle forsche.

Schließlich würge ich ein hilfloses und rein rhetorisches „Waren Sie nicht unten bei der Veranstaltung?“ hervor, während ich spüre, wie mein Gesicht gleichzeitig rot anläuft - na, toll! Doch mein ehemaliger Klassenlehrer scheint von meinem temporär mangelnden Kommunikationstalent nicht besonders abgeschreckt zu sein und intensiviert sein Lächeln, für das ich bereits als Schülerin alles getan hätte.

„Sag Jan zu mir und ‚du‘“, bittet er, „wir kennen uns doch schon so lange, Pia.“

Als er meinen Namen ausspricht, beginnen Schmetterlinge in meinem Bauch zu tanzen.

Jetzt nur nicht den Verstand verlieren, ermahne ich mich; bleib ruhig, Pia - es wird sich alles aufklären.

„Jan…“, versuche ich, mit der mir ungewohnten Anrede erneut ein Gespräch zu beginnen, das mir meine Souveränität zurückbringen soll, doch schon unterbricht mich der Angesprochene:

„Hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee? Wir könnten uns über die alten Zeiten unterhalten.“

Ich kann mich nicht recht entscheiden, ob ich seine forsche Art lustig finden oder mich darüber ärgern soll. Auf jeden Fall wird es Zeit, dass ich wieder Boden unter meinen Füßen gewinne.

„Herr Jansen - Jan“, beginne ich deshalb erneut, aber deutlich energischer als zuvor, „ich bin total überrascht, Sie –dich- hier zu treffen.

Was hältst du davon, wenn wir uns tatsächlich irgendwo in der Stadt auf einen Kaffee treffen, sagen wir, in einer halben Stunde?

Zuvor muss ich nämlich noch einmal zu meinen ehemaligen Klassenkameradinnen zurückgehen und ihnen kurz Bescheid geben - die werden mich wahrscheinlich schon vermissen.“

So, das Zittern in meiner Stimme habe ich erfolgreich unterdrücken und die Oberhand zurückgewinnen können. Bestimmt wären Sabine, Gabi und auch Iris völlig aus dem Häuschen, wenn ich ihnen unseren alten, jungen Klassenlehrer präsentieren würde. Aber eigentlich möchte ich ihn, so wie früher, lieber ganz für mich alleine haben und plane deswegen, mich so schnell wie möglich von den anderen abzusetzen. Überraschenderweise ist Jan auf einmal sehr ernst geworden. „Mach dir keine Gedanken, Pia“, antwortet er –na, der hat gut reden-, „du musst dich nirgendwo abmelden, und niemand wird dich vermissen.“

Was soll denn das jetzt wieder bedeuten?

Auf meinen verständnislosen Gesichtsausdruck hin zieht mein ehemaliger Lehrer die alte Tafel herunter, die empört quietschend, aber dennoch vergeblich Widerstand zu leisten versucht, und malt mit einem Stück Kreide eine waagerechte Linie darauf, soweit das auf der teilweise schon aufgeplatzten Schreibfläche überhaupt noch möglich ist.

Mein Unverständnis wird immer größer. Sollte dieser Raum tatsächlich doch noch als Unterrichtsraum genutzt werden, so wundert mich seine museumsreife Ausstattung, die nicht einmal mehr annähernd dem Standard moderner Schulen entspricht. Eigentlich wirkt sie, wie aus der Zeit gefallen.

„Das ist die Zeit, in der du lebst“, erklärt Jan die Bedeutung des weißen Kreidestrichs, „sie läuft jetzt so weiter bis zu deinem Lebensende.“

Mit einem senkrechten Strich am rechten Tafelrand begrenzt er die Linie und schaut mich erwartungsvoll über seine linke Schulter an. Mich gruselt diese Demonstration ein wenig, und ich habe überhaupt keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Dann dreht er sich wieder herum, wischt mit dem rechten Mittelfinger ein kleines Stück von der Waagerechten weg und malt eine Art Ausstülpung in die Lücke hinein, die an beiden Seiten wieder an die Linie anschließt.

„Mit der Macht deiner Gefühle und deiner Phantasie hast du eine Zeitblase erschaffen, in der du dich frei und, solange du es möchtest, bewegen kannst. Auf die Zeitlinie, die du eben verlassen hast, hat das keinerlei Auswirkungen. Wenn du dich entschließt, wieder zu ihr zurückzukehren, wird alles so sein wie in dem Moment, als du gegangen bist“, erklärt er.

Da ich immer noch nicht den Eindruck erwecke, überhaupt irgendetwas von dem, was er gerade erzählt, zu verstehen, ergänzt er: „Wenn du die anderen wiedertriffst, ist es für sie so, als wärst du nur einen kleinen Moment nicht bei ihnen gewesen; gerade so lange, wie du dich tatsächlich von ihnen wegbewegt hast, und so kurz, dass sie dich gar nicht vermisst haben können.“

Erwartungsvoll dreht er sich zu mir um und scheint auf eine Reaktion von mir zu warten, doch ich –als versierte Klarträumerin- denke gerade darüber nach, einen Realitätstest durchzuführen, der mir zeigt, ob ich mich nicht doch in einem besonders heftigen Traum befinde. Das wäre allerdings das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ich diese Überprüfung nötig hätte; und wie so ein Test funktioniert, habe ich auch vergessen.

„Pia?“ Der schönste aller Männer schaut mich fragend an. Dabei kratzt er sich am Arm, und in diesem Moment fällt es mir wieder ein: Ich muss mich kräftig kneifen, was ich umgehend tue und gleich darauf kurz aufschreie – es hat wehgetan!

Aber bedeutet das jetzt, dass ich träume, oder nicht?

Jan fängt an, hemmungslos zu lachen, und mir ist das Ganze irgendwie peinlich. Ich beschließe, das merkwürdige Spiel einfach mitzuspielen und dass es mir letztlich egal sein kann, ob ich mich nicht doch gerade in einem Traum befinde. Diese Szenerie verfügt über einen derart hohen Unterhaltungswert, dass ich sie einfach nur noch genießen will. Und so heuchle ich Interesse an seinen durchgeknallten Thesen und überlege gleichzeitig, wie ich ihm näherkommen kann, damit ich wenigstens noch etwas von dieser komplett surrealen Situation habe, bevor sie wieder vorbei ist.

„Und wann hat diese angebliche Zeitblase begonnen?“, frage ich ihn, während ich mit einem Dauerlächeln versuche, dieser extrem merkwürdigen Kommunikation einen Anstrich von Normalität zu geben.

„In der Sekunde, als deine Erinnerung an früher und deine Sehnsucht danach, mich wiederzusehen, dein Realitätsempfinden überwältigt haben“, antwortet er. Diese Aussage erschreckt und ärgert mich gleichermaßen; es ist unheimlich und auch nicht schön, so derartig durchschaut zu werden und damit auch noch einer gewissen Selbstgefälligkeit meines ehemaligen Lehrers Auftrieb zu geben.

„Und das soll einfach so gehen?“, versuche ich, die etwas peinliche Situation zu überbrücken.

„Überhaupt nicht“, erwidert er. „Aber du gehörst zu den ausgesuchten Menschen in unserem Lebensraum, die über eine derart starke Vorstellungskraft verfügen, dass sie die Zeitblase provozieren können; man nennt das Zugangsveranlagung. Allerdings ist noch nicht ganz erforscht, ob eine bestimmte genetische Disposition oder andere Umstände für diese Fähigkeit verantwortlich sind.“

Da ich mich von diesem Vortrag ziemlich überfahren fühle, ziehe ich es vor, erst einmal nichts dazu zu sagen, während Hinnerk Jansen die so entstandene akustische Lücke als Aufforderung zu interpretieren scheint, sein überschaubares Auditorium mit weiteren Belehrungen zu erfreuen; eine typische Lehrerkrankheit, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

„Man vermutet, dass etwa ein Prozent der Menschheit über diese Fähigkeit verfügt, was immerhin um die achtzig Millionen Menschen auf unserer Erde betreffen würde; doch das Problem ist, dass die meisten davon gar nichts wissen.“

„Wieso ist das ein Problem?“, frage ich etwas provokativ und bereue es auch gleich schon wieder; denn die Antwort ist mir ohnehin egal. Meine Sehnsucht nach seiner Nähe wird von Sekunde zu Sekunde größer. Es ist wie vor über vierzig Jahren, als ich mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit so nah neben ihn gestellt hatte, wie es gerade eben noch unverfänglich erschienen war. Doch Jan freut sich, dass er weiterhin mit Wissen glänzen kann:

„Weil es dadurch unmöglich ist, repräsentative Untersuchungen durchzuführen. Und die Menschen, die es tatsächlich in die Blase geschafft haben, scheinen nur in Ausnahmefällen darüber sprechen zu wollen. Das ist wirklich schade für die Wissenschaft…“

„…, aber sicherlich für viele Menschen von Vorteil“, unterbreche ich ihn.

Jetzt sieht mich mein ehemaliger Lehrer verständnislos an; und mir gefällt es, dass wir die Rollen auch einmal tauschen können.

„Überleg doch mal“, hole ich aus und merke, dass mir das Duzen bereits leichter fällt, „für wen der Aufenthalt in solchen Blasen tatsächlich interessant ist – doch wohl in erster Linie für Verliebte! Ich möchte wetten, dass nicht wenige von denen bereits anderweitig gebunden sind und dann an einem solchen Ort einfach ihre Affäre ausleben. Die wollen ganz bestimmt nicht, dass das publik wird, oder?“

Jan will etwas sagen, doch ich habe mich gerade erst warmgeredet und lasse ihn nicht zu Wort kommen: „Oder denk mal an Straffällige, an Menschen, die nicht mehr lange zu leben hätten, an die, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen können, an Kinder, die die Schnauze voll von ihren Eltern haben und ihr eigenes Leben führen wollen oder an…“

„Pia, Stop!“

Mein ehemaliger Lieblingslehrer ist hinter dem Tisch hervorgekommen und steht jetzt keinen Meter mehr von mir entfernt. Na, endlich. Ich kann seinen ganz eigenen Geruch wahrnehmen, den er schon vor über vierzig Jahren gehabt hat und dessen Komponenten ich gerne näher ergründet hätte; und so bin ich erst einmal wieder abgelenkt von dem, was ich eigentlich hatte erzählen wollen.

„Es ist nicht so, wie du dir das vorstellst“, ergreift deswegen er wieder das Wort, „sondern viel komplizierter. Zunächst einmal:

Es gibt nur eine Blase, in der sich aber unendlich viele Räume befinden können.

Da die nur durch deine eigenen, individuellen Vorstellungen und Wünsche erschaffen werden, wirst du dort niemals einem realen Menschen über den Weg laufen. Kindern scheint der Eingang versperrt zu sein; die wenigen Erfahrungsberichte, die es zu diesem Thema gibt, lassen darauf schließen, dass man für einen Zugang wohl mindestens zwanzig Jahre alt sein muss.

Eingänge können sich theoretisch an jeder Stelle der Welt öffnen; allerdings –wie man heute weiß- nur unter bestimmten Bedingungen: Zwei Menschen müssen im Besitz einer Zugangsveranlagung sein und vor dem erstmaligen Eintritt in die Blase sehr starke Gefühle füreinander hegen. Nahezu gleichzeitig -da gibt es offenbar nur eine Toleranz von etwa einer Minute- müssen beide an einem Ort eintreffen, der eine Art Vorraum darstellt; die Durchgänge können auch ein paar Meter auseinanderliegen. An diesem Ort darf sich niemand sonst befinden, und er darf für andere auch nicht einsehbar sein. Nur, wenn alle diese Kriterien erfüllt sind, gelangen sie in die eigentliche Zeitblase; ansonsten laufen sie quasi gegen eine Wand oder ins Leere.“

Bei diesem Wortschwall hat mich der Passus über die „sehr starken Gefühle füreinander“ am meisten interessiert; wenn das stimmt, dann müsste er doch das Gleiche für mich empfinden wie ich für ihn! Da ich ihn aber nicht danach fragen will, hangle ich mich auf ungefährlicherem Terrain weiter: „Dann ist die Tür zum Physiksaal der Eingang zur Zeitblase?“

„Das schon“, bestätigt er, „für uns beide stellt sie tatsächlich den endgültigen Eingang dar. Aber die vorherige Begegnung beider Partner in einem Vorraum ist immer zwingend erforderlich, und der ist in unserem Fall der Treppenabsatz.“

„Aber was wäre denn anders gewesen, wenn wir beide einfach hier hereingekommen wären, auch, wenn sich noch andere Menschen auf dem Absatz aufgehalten hätten?“ So richtig verstehen kann ich das alles immer noch nicht – warum hätten wir denn dann gegen eine Wand oder ins Leere laufen sollen?

„Aber Pia“, entgegnet Jan erstaunt, „weißt du das denn nicht? Die Tür lässt sich überhaupt nicht öffnen, weil es den alten Physiksaal schon lange nicht mehr gibt! Der Raum entsprach irgendwann nicht mehr aktuellen baulichen Vorschriften, und da dieser Gebäudetrakt ohnehin nur noch eingeschränkt genutzt wurde, wurde er erst einmal teilweise zugemauert, da für eine komplette Renovierung seinerzeit das Geld gefehlt hat.

Später hat das Land mit komplizierten Vorgaben in Bezug auf den Denkmalschutz die Erstellung eines Sanierungskonzeptes zusätzlich erschwert. Und so hat sich die einstige Notlösung irgendwann als Dauerlösung etabliert. Die Tür selbst besitzt nur noch eine rein dekorative Funktion, weil sie ein Überbleibsel aus der Zeit des Jugendstils ist. Wir beide sind die einzigen, die durch sie hindurchgehen können.“

„Kommen wir denn durch sie auch wieder zurück?“, frage ich nun doch etwas besorgt.

„Nachdem wir es einmal in die Zeitblase geschafft haben, können wir so oft hin- und herlaufen, wie wir wollen“, erwidert Jan, „es sei denn, dieser Gebäudeteil würde irgendwann abgerissen oder sonst wie zerstört werden.“

Diese Antwort aber provoziert gleich meine nächste Sorge: „Und was ist, wenn das genau dann passiert, während wir uns hier drin befinden?“

Schon wieder beginnt Jan zu lachen, und es ärgert mich, dass ihn meine Fragen offensichtlich nicht mehr so wie früher tief beeindrucken, sondern mich eher der Lächerlichkeit preiszugeben scheinen. Er deutet auf seine Tafelskizze. „Schau nochmal hin, Pia!“, fordert er mich auf. „Ganz gleich, wie lange wir uns hier aufhalten – verlassen würden wir die Blase im selben Moment, in dem wir sie auch betreten haben. Du kannst dich also entspannen. Die einzige Bedingung dabei ist, dass wir das gemeinsam tun; und wir müssten auf dem Rückweg den Treppenabsatz auch zeitgleich verlassen.“

Ich habe mich auf den Begriff „gemeinsam“ fokussiert. Ganz gleich, ob ich mich in einer irrwitzigen realen Situation oder lediglich in einem irrwitzigen, aber sehr real wirkenden Traum befinde - so langsam fängt die Sache an, mir Spaß zu machen.

„Also gut, da ich nun schon einmal da bin, lass uns hier Kaffee trinken“, gehe ich auf seinen vorherigen Vorschlag ein, „aus welchen deiner Chemikalien hast du vor, ihn zusammenbrauen?“

Jan lächelt mich nachsichtig an: „Das hier ist der Physik- und nicht der Chemiesaal“, berichtigt er mich einmal mehr.

Du meine Güte, war er schon immer ein derartiger Besserwisser gewesen? Früher war er mir erheblich lockerer erschienen! Aber früher war auch eine ganz andere Zeit gewesen; eine Zeit, in der ich die Umstände oft einfach akzeptiert und nicht hinterfragt habe. Ein aufgeschlossener und noch dazu so junger Lehrer war da schon die positive Ausnahme im Vergleich zu den vielen verbiesterten Autoritätspersonen in meinem damaligen Umfeld gewesen und mir dadurch eine gewisse Vorliebe für Belehrungen wohl gar nicht aufgefallen.

Jan macht einen Schritt in Richtung Fenster, und ich bleibe einfach stehen, so dass er fast mit mir zusammenstößt. Seine unmittelbare Präsenz lässt mich beinahe reflexartig einatmen, und da spüre ich sie, wie schon vor über vierzig Jahren: diese unvergleichliche synästhetische Komposition aus Meeresbrise, Möwengeschrei, dem Rauschen der Brandung und einem leichten Salzgeschmack auf den Lippen. Fast hätte ich meinen Kopf auf seine Brust gelegt, um noch tiefer in dieses Sinnenfest einzutauchen.

Erschrocken über die Kühnheit meiner Vorstellung weiche ich nun doch zwei Schritte zurück – und schlagartig wird mir klar, dass ich mich nicht in einem Traum befinde! Wäre all das nur eines von meinen leider sehr seltenen erotischen nächtlichen Erlebnissen, so würde ich mich sofort darauf einlassen, weil ich wüsste, dass mir keinerlei negative Konsequenzen daraus entstehen könnten. Aber in dieser Situation würde ich schon alleine vor Scham wegen meiner Gedanken am liebsten im Boden versinken!

Doch Jan macht nicht den Eindruck, als hätte er irgendetwas von meinen Gefühlswirren mitbekommen. Zielgerichtet wendet er sich einem Schränkchen zu, auf dem früher Material für Versuchsaufbauten bereit gelegen hatte; jetzt steht dort ein Kaffeevollautomat, was mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen ist.

Mit flinken Fingern bereitet er zwei Cappuccini zu, indem er zuerst in einem Edelstahlkännchen Milch mit laut zischendem Wasserdampf erhitzt, sie in zwei Tassen füllt und dann durch die Doppeldüse gleichzeitig zwei Espressi dazulaufen lässt. Dabei habe ich nach Jahrzehnten endlich wieder Gelegenheit, seine schmalen Hände mit den langen Fingern zu bewundern, die ich sonst eher selten bei Männern sehe. Erst, als er die beiden Tassen anhebt und sich in Richtung der Fensterfront bewegt, bemerke ich die kleine Sitzgarnitur, die in dem alten Physiksaal eigentlich gar nichts zu suchen hat. Mein wiedergefundener Lehrer stellt die gefüllten Tassen auf dem dazugehörigen Couchtischchen ab, weist mit seinem Kinn lächelnd in Richtung des Sofas, auf das ich mich dann auch brav niederlasse und nimmt mir gegenüber auf einem Sessel Platz.

Verlegen nehme ich meine Tasse in beide Hände und puste ein bisschen auf dem Schaum herum; da steht Jan noch einmal auf, öffnet einen kleinen Kühlschrank, der sich –wie bei einer Minibar- in einem Schränkchen unter der Kaffeemaschine versteckt hat, entnimmt ihm eine frische Packung Barista-Ersatzmilch aus Erbsenprotein und bereitet mir mit den Worten „Entschuldigung, habe ich ganz vergessen“ noch einmal einen neuen Cappuccino zu. Es ist mir ein Rätsel und irgendwie unheimlich, dass er meine privatesten Lebensgewohnheiten zu kennen scheint.

Erst zu Beginn meines Studiums hatte ich mit Hilfe eines engagierten Arztes herausgefunden, dass ich unter mehreren heftigen Lebensmittelunverträglichkeiten litt. Fortan musste ich auf glutenhaltiges Getreide und Milchzucker verzichten und den Verzehr stark histaminhaltiger Lebensmittel so weit wie nur irgend möglich einschränken.

Meine Gesundheit und körperliche Konstitution hatten zu diesem Zeitpunkt bereits großen Schaden genommen; doch nach einer umfassenden und komplizierten Ernährungsumstellung verbesserte sich nach und nach nicht nur mein Allgemeinzustand, sondern ich legte sogar noch einmal drei Zentimeter an Körpergröße zu.

Ich flüstere ein „Danke“ und schaue direkt in seine intensiv leuchtenden, blauen Augen, die mich bereits als Schülerin in ihren Bann gezogen haben.

Jetzt ist mir alles andere egal, und so ergreife ich seine linke Hand, die lässig auf dem Tisch liegt und beuge mich zu ihm vor, bis ich nur noch etwa zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt bin. Wie würde er reagieren? Würde er sich abwenden, mich rauswerfen oder –schlimmer noch- auslachen?

Ich schließe meine Augen und warte ab, was passiert.

Als erstes spüre ich die Wärme, die sich meinem Gesicht nähert. Dann fühle ich Jans Hand unter mein Kinn und seine leicht geöffneten Lippen, die unendlich sanft über meine Wange fahren und dort eine leicht kribbelnde Spur hinterlassen. Ich öffne meine Augen wieder, während er sich vorsichtig von mir löst, mich anlächelt und dann nach seiner Kaffeetasse greift.

In jeder seiner Bewegungen entdecke ich eine gewisse Zielgerichtetheit, gleichzeitig aber auch eine fast schüchtern wirkende Zurückhaltung; und dieser Widerspruch wirkt ungeheuer reizvoll auf mich.

Ich überlege, ob dieses nach der Tasse-Greifen tatsächlich nur eine Übersprungshandlung oder doch pure Berechnung sein könnte, um mein Verlangen durch Verzögerung noch weiter anzuheizen –Kaffeedurst als tatsächlichen Grund habe ich längst ausgeschlossen- und entschließe mich letztlich dazu, dass mir auch das völlig egal sein kann.

Als ich darüber nachdenke, wie lange ich wohl in dieser, mir höchst angenehmen Zeitblase verbleiben könnte, antwortet er – ohne, dass auch nur ein Wort über meine Lippen gekommen wäre:

„Solange du möchtest – Stunden, Tage, Wochen; für immer, wenn du willst. Und du versäumst draußen nichts – ähnlich wie bei Dornröschen, wo das Leben drumherum auch einfach stehenbleibt.“

Während ich noch überlege, was für mich an dem Vergleich mit dem Märchen nicht so richtig zu passen scheint, ist er aufgestanden, hat sich zu mir auf das Sofa gesellt und macht jetzt da weiter, wo er kurz zuvor aufgehört hat. Seine Lippen finden den Weg zu meinen Schläfen, meinen Ohrläppchen und meinem Hals; und ich vergehe vor Wohlgefühl.

Ich bin nicht mehr ganz so geübt darin, eine erotische Beziehung auf eine solch zarte und romantische Art und Weise anzubahnen; umso dankbarer bin ich Jan, dass er so empfindsam und rücksichtsvoll vorgeht.

Jetzt drehe ich den Spieß um, lege meine Hände in seinen Nacken und küsse ihn. Seine Haut ist glattrasiert und fühlt sich gleichzeitig straff und weich an; und als ich meine Nase in seinen Hemdkragen stecke, gesellt sich zur vorherigen Duftkomposition noch eine etwas schwermütige Basisnote, so wie Fernweh oder eine unbestimmte Sehnsucht. Ich atme sie ein und verknüpfe sie untrennbar mit seiner Person.

Mittlerweile haben wir beide unsere Augen geschlossen; und irgendwann liegen meine Lippen auf den seinen. Es ist schon wieder einige Zeit her, dass ich einen Mann „richtig“ geküsst habe. Die Kunst des Küssens ist auch nicht jedem Menschen gegeben; und mittlerweile gibt es für mich auch viele Ekelfaktoren, die aus dieser Art der Zärtlichkeit eine nahezu traumatische Erfahrung machen können.

Das beginnt beim Gedanken an die Übertragung von Heerscharen an Keimen und Bakterien und macht weiter bei üblem Mundgeruch und zu viel Speichelfluss. Und dann die Zunge: Schlaffe, kraftlose Exemplare lassen genauso Rückschlüsse auf den Charakter ihres Besitzers zu wie die kleinen spitzen, die in Windeseile meinen gesamten Mundraum untersuchen und mich irgendwie an das Züngeln von Schlangen erinnern.

Und dann gibt es da noch den „Abschlecker“, auf den ich jetzt gar nicht näher eingehen möchte; aber alle diese Exemplare stoßen mich zutiefst ab.

Doch Jans Zunge gehört glücklicherweise keiner dieser Kategorien an:

Sie ist weich und fest zugleich; erobert sich ganz langsam das fremde Terrain, versucht, meine eigene Zunge zum Spielen zu animieren, neckt und provoziert, zieht sich auch immer wieder zurück, um dann überraschend wieder „anzugreifen“, bis sich beide schließlich abwechselnd in seinem oder in meinem Dunkel vereinen. Und das gefällt mir außerordentlich.

Schließlich lassen wir voneinander ab; einen tiefen Glanz in unseren Augen und im Bewusstsein einer soeben neu erschaffenen Beziehung zueinander.

Eine Weile sitzen wir so wortlos da, uns locker an beiden Händen fassend; und ich versuche, das gerade Geschehene zu begreifen.

Nach so vielen Jahren habe ich meinen früheren Lehrer geküsst, und ein bisschen hat sich das angefühlt, als hätten alle meine bisherigen Wünsche und Sehnsüchte in diesem Kuss auf einmal ihre Erfüllung gefunden. Aber es ergeben sich für mich dadurch auch viele Fragen. Nur möchte ich die jetzt nicht stellen; nicht in dieser so schönen, romantischen Situation. Und vor allem möchte ich einen weiteren Vortrag von Jan vermeiden. Was hier passiert, ist auf jeden Fall schöner als mein schönster Traum!

Auch wenn ich viel und ausgiebig träume, so gehören erotische Begegnungen doch zu meinen eher seltenen Traum-Sujets. Meine moralinsaure Erziehung hat mich so derartig geprägt, dass es meinem pädagogischen Umfeld gelungen war, in meinem Kopf eine moralische Instanz zu etablieren, die es selbst in meinen Träumen schafft, mich nahezu immer von sexuellen Handlungen abzuhalten.

Und nichts hatte daran bisher etwas ändern können! Nicht die Erkenntnis, dass diese Art einwandfreier Lebenswandel lediglich den Kindern zugedacht war, um ihren Eltern das Leben in Bezug auf Aufzucht und Leumund zu erleichtern, während manche von ihnen selbst ein breites Spektrum sexueller Möglichkeiten ausschöpften – vom Fremdknutschen auf alkohollastigen Partys über Ehebruch bis hin zum Partnertausch.

Die Legitimation zu Verhaltensweisen, die sie selbst bei anderen Menschen scharf verurteilten, leiteten meine Eltern und einige andere Paare dieser Generation wohl aus einem ideellen Wiedergutmachungsanspruch ab, der sie für die bitteren Entbehrungen, die der Krieg und die Nachkriegszeit verursacht hatten, entschädigen sollte. Und obwohl sich ab Ende der 1960er Jahre die Ansichten zum Thema Sexualität langsam lockerten und sexuelle Aktivität irgendwann nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern teilweise sogar regelrecht eingefordert wurde, war es für mich bereits zu spät:

Die implantierte Kontrollinstanz hatte es sich in meinem Kopf längst behaglich eingerichtet und funkte ununterbrochen auf allen Kanälen, dass Sex eine äußerst schmutzige und somit verabscheuungswürdige Angelegenheit sei. Zwar hatte ich in meinem Leben trotzdem immer wieder welchen; den aber meistens mit einem derart schlechten Gewissen, dass mir bei diversen Geschlechtsakten wahrer Genuss sehr oft verwehrt blieb. Und selbst, wenn sich mir in meinen Träumen ein männliches Wesen zwecks Anbahnung einer Beziehung physischer Natur nähert, wird das Geschehen aufs Energischste boykottiert.

Dafür erweist sich mein Tugendwächter in anderer Hinsicht durchaus als großzügig:

Als ich des nachts einmal einen Mann, der mich auf einem Feldweg belästigt hatte, mit einer Mistgabel erstochen und mich somit zumindest des Tatbestandes der „Körperverletzung mit Todesfolge“ schuldig gemacht hatte, winkte er das Geschehen desinteressiert durch, und ich durfte einfach weiterträumen.

Plötzlich mischen sich Zweifel zwischen meine schönen Gefühle: Ist das richtig, was ich hier mache? Kann ich mich hier, mitten auf einem Schulfest, auf ein erotisches Abenteuer mit meinem ehemaligen Lehrer einlassen?

Um ein wenig Abstand zu gewinnen, stehe ich auf und gehe vor bis zum Versuchstisch, wo ich Halt am seitlich angebrachten Waschbecken suche. Ich traue mich nicht mehr, mich umzudrehen, und von Jan kann ich nichts hören. Doch meine Gedanken spielen verrückt.

Was ist, wenn ich jetzt eine Affäre mit ihm beginne und er anschließend nichts mehr von mir wissen will? Letztendlich ist er auch nur ein Mann, und so, wie er sich optisch gehalten hat, müsste er an jedem Finger mindestens eine Verehrerin haben; und ich wäre vielleicht nur eine unter vielen.

Wie könnte ich damit umgehen, wenn er nach unserer Begegnung etwas von „Spaß gehabt“ faselt und mich anschließend wieder aus seiner kuscheligen Zeithöhle herauskomplimentiert?

Und so komme ich in die Situation, die sich immer dann einstellt, wenn ich nicht mehr weiß, was ich machen soll: Ich verfalle in eine Paralyse, in der ich meine Umgebung nur noch schemenhaft wahrnehme und mich so jeglicher Verantwortung für den weiteren Handlungsablauf entziehe.

Zeit, mich zu finden

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