Читать книгу Zeit, mich zu finden - Sabeth Ackermann - Страница 9

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Jan

„Liebe Pia, für Ihr zukünftiges Leben wünsche ich Ihnen, dass Ihre Träume in Erfüllung gehen!

Ihr H. Jansen“

Ich halte inne, lese noch einmal. H. Jansen, das war Hinnerk Jansen, unser Mathematik-, Physik-, Chemie- und vor allem Klassenlehrer in der Oberstufe gewesen, den alle nur den „Jan“ genannt hatten.

Ein merkwürdiges Gefühl nimmt von mir Besitz, das ich mir nicht erklären kann.

Eigentlich hätte unsere Klasse in der Unterprima von einer erfahrenen Oberstufenlehrerin übernommen werden sollen, die aber plötzlich erkrankt war. Stattdessen präsentierte uns der Schulleiter Herrn Jansen als Ersatz. Plötzlich sehe ich die Szene wieder vor mir:

Der kurz vor der Pensionierung stehende Rektor mit unserem neuen Lehrer vorne an der Tafel, der, vor allem durch den Kontrast zum fortgeschrittenen Alter unseres Schulleiters, noch viel jugendlicher wirkte, als er es ohnehin schon war.

Er hatte blonde, lockige Haare und blaue Augen; und es hätte mich nicht gewundert, wenn er in Jeans und T-Shirt dagestanden wäre. Da das aber für Lehrer zu jener Zeit noch eher unüblich war und sich der junge Pädagoge die Akzeptanz von Kollegium, Schulleitung und Eltern wahrscheinlich erst noch erarbeiten musste, trug er ein weißes Hemd zu einem steingrauen Anzug. Nachdem der Rektor den Raum wieder verlassen hatte, stellte er sich noch einmal in ruhigem Ton vor, schrieb seinen Namen an die Tafel und erzählte, dass er eigentlich aus Norddeutschland käme, ihm es hier in der Gegend aber sehr gut gefallen würde. Sein studiertes Hauptfach war Mathematik, das bei den meisten von uns nicht zur Lieblingsdisziplin gehörte. Bei mir aber schon! In einem Leben, in dem ich mir oft damit schwertat, die Handlungen meiner Mitmenschen begreifen zu können, lieferten Zahlen und Gleichungen und all die wunderbaren Dinge, die man daraus erschaffen konnte, Struktur und Halt. Sie gaben den Rahmen vor, in dem ich mich gefahrlos bewegen konnte, brachten Ordnung in meine oft wirren Gedanken - und das Schönste: Es gab immer nur entweder ein „Richtig“ oder ein „Falsch“!

Es war ein bisschen wie in den Filmen, die meine Brüder und ich ab und zu im Fernsehen anschauen durften; auch dort gab es das „Böse“ und das „Gute“, und nichts dazwischen, das einen hätte irritieren können. Die Mathematik erklärte sich von selbst und erschuf ihre eigenen Regeln, die ich aufsog und, wo immer es mir in meinem Alltagsleben möglich war, anwendete.

Während ich mich in Deutsch und den Sprachen mit Rechtschreibung und Grammatik abmühte und mich darüber ärgerte, dass jeder Regel einer Ausnahme folgte; während ich in Aufsätzen alles gab und am Ende doch nicht selten das Thema verfehlt hatte, stellte ich bereits in der ersten Klasse recht schnell fest, dass es beim Rechnen immer nur eine richtige Lösung gab. Und ab dieser Zeit setzte ich alles daran, die Gesetzmäßigkeiten für dieses Fach zu begreifen und nie wieder zu vergessen. Dabei wurden auch Tabellen meine großen Freunde; und noch in der Grundschule begann ich mit eigenen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, indem ich notierte, wie oft die Punktzahlen auf den Würfeln, die meine Brüder und ich bei den unterschiedlichsten Brett- und Knobelspielen einsetzten, tatsächlich fielen.

Dafür hatte ich für jeden unserer Würfel eine eigene Tabelle angelegt und gleichfarbige Exemplare alle auf der Seite mit nur einem Punkt mit einem Permanentstift individuell markiert.

Doch meine Brüder ärgerten sich darüber, dass sie immer nur die Würfel benutzen durften, die ich ihnen hinlegte. So mussten beispielsweise zwei gleichzeitig benutzte immer verschiedene Farben haben, damit ich sie leichter auseinanderhalten konnte.

Zudem wechselte ich die Benutzung der Würfel durch uns Kinder nach einem ausgeklügelten System, damit die Art, wie jeder von uns sie warf, das Ergebnis nicht verfälschte, und ich am Ende meiner Studien schließlich zu einer objektiven und repräsentativen Aussage gelangen würde.

Doch meine, von vollkommener Ignoranz für wissenschaftliche Beweisführungen geprägten Brüder unterstellten mir, dass ich mir selbst immer nur die Würfel heraussuchen würde, die die meisten Sechser warfen, und sie dagegen von mir nur die „schlechten“ bekommen würden.

Bereits nach kurzer Zeit weigerten sich, weiter mit mir zu spielen, und führten so den vorzeitigen Abbruch meines so sorgfältig ausgearbeiteten Experiments herbei. Eine Weile zog ich mich daraufhin in mich selbst zurück; voller Erbitterung darüber, dass sich meine Geschwister als derartige Banausen erwiesen und somit meine strahlende Zukunft als anerkannte Wissenschaftlerin im Keim erstickt hatten.

Diese Zeiten waren allerdings längst vorbei, als ich, gerade mal siebzehn Jahre jung, den strahlenden Blick unseres neuen Lehrers erwiderte.

Er unterrichtete uns auch in Physik und Chemie, und da diese Fächer für mich eine logische Weiterführung meines Lieblingsfaches bildeten, war ich bald in allen dreien Klassenprima. Da Jan mein Klassenlehrer war und somit auch Einblick über meine Noten in allen anderen Fächern hatte, wusste er, dass ich ansonsten nicht gerade mit Bestleistungen aufwarten konnte. Meine Zeugnisse wiesen keine einzige Zwei auf, sondern ansonsten nur Dreien, Vieren und in zwei Fächern sogar eine Fünf, die ich aber dank meiner drei Einsen gerade so ausgleichen konnte. Unserem guten Verhältnis aber tat das keinen Abbruch; und irgendwann wurde mir klar, dass ich mich unsterblich in ihn verliebt hatte!

In meinem damaligen Leben gab es kein männliches Wesen, das mir so viel wohlwollende Aufmerksamkeit entgegenbrachte wie mein Klassenlehrer – nicht einmal auf familiärer Basis.

Das Verhältnis zu meinem Vater hatte sich seit einiger Zeit massiv verschlechtert, obwohl ich ihn zuvor – insbesondere deswegen, weil er nach der Scheidung meiner Eltern nicht mehr bei uns zu Hause wohnte und ich ihn nur noch in den Schulferien besuchen konnte, sehr vermisst hatte.

Meine beiden älteren Brüder, die sich ebenfalls gerade mitten in der Pubertät befanden, verfolgten mittlerweile ganz andere Interessen, als mit ihrer einzigen Schwester Zeit zu verbringen.

Und in in Sachen „Flirt“ sah es noch schlechter aus:

In unserem Dorf gab es keine Vertreter des männlichen Geschlechts, die sich für mich interessiert hätten, und die älteren Jungs an meiner Schule schielten höchstens mal nach den langhaarigen und langbeinigen Schönheiten in unserer Klasse, die ihre Dutt- und Wollstrumpfhosenzeit bereits hinter sich gelassen hatten.

So war es wohl auch nicht verwunderlich, dass sich meine pubertären Sehnsüchte auf den schönsten und freundlichsten Mann ausrichteten, den ich kannte; und ich begann von ihm zu träumen.

Wenige Jahre zuvor hatte mir eine Freundin beigebracht, wie man sich –am besten kurz vor dem Einschlafen- schöne Phantasien ausmalen konnte, die sich manchmal bis in die Träume hinein auswirkten. Und da es mir ohnehin leichtfiel, meine Träume zu manipulieren, war Jan bald Nacht für Nacht bei mir.

Aber auch tagsüber träumte ich davon, wie er mir nach dem Abitur auf Knien und mit einem glitzernden Brillantring einen Antrag machen würde. Und nachdem ich überglücklich „Ja“ gesagt hätte, würde ich ihn dann in einem über und über mit Spitzen und Perlen besetzten, weißen Ballkleid mit langer Schleppe heiraten, lauter hübsche und mathematisch hochbegabte Kinder bekommen und glücklich bis in alle Ewigkeit mit ihm zusammenleben.

In einem Vokabelheft übte ich hunderte Male meine Unterschrift als zukünftige Ehefrau Pia Jansen; so lange, bis mir jeder Schwung und jeder Schnörkel in Fleisch und Blut übergegangen war. Allerdings vernachlässigte ich darüber das Einpauken von Vokabeln, die in diesem vollgekritzelten Heft ohnehin keinen Platz mehr gefunden hätten, was zur weiteren Verschlechterung meiner Noten in den fremdsprachlichen Fächern beitrug.

Doch nach meinem Schulabschluss begann ich sofort in der Nachbarstadt zu arbeiten, um ein wenig Geld für mein anstehendes Studium anzusparen und den Führerschein machen zu können.

Ich lernte andere Männer kennen, verliebte mich ein paarmal, und irgendwann war die Erinnerung an meine platonische Jugendliebe verblasst.

Mein Herz macht einen kleinen Satz – ist es möglich, dass Jan als ehemaliger Lehrer vielleicht bei der Schulveranstaltung mit dabei ist? Sofort setze ich mich an den PC und versuche, an Informationen über ihn zu gelangen; doch ich kann nichts von ihm finden. Schließlich suche ich die E-Mail-Adresse der Schule aus dem Brief heraus und melde mich zur Veranstaltung an.

In der Nacht davor finde ich lange keinen Schlaf und wache am nächsten Morgen noch vor dem Weckerpiepsen aus einem merkwürdigen Traum auf:

Ich betätige mich als „Fremdenführerin“ im Gebirge; ausgerechnet ich, die zu viel Bewegung und körperliche Anstrengung seit jeher meidet!

Bei strahlendem Wetter führe ich meine Schulklasse durch eine grüne Sommerlandschaft auf Wanderwegen in die Höhe. Die Wege werden immer steiler und felsiger, und es kostet mich einige Mühe, die Jugendlichen nicht aus den Augen zu verlieren.

Auf einem größeren Felsplateau angekommen, muss ich dennoch feststellen, dass mir alle meine Schutzbefohlenen abhandengekommen sind. Ich drohe, in Panik zu geraten; ermahne mich dann aber zur Ruhe und mache mich auf die Suche nach den Ausreißern.

Schon bald habe ich sie gefunden: Sie hängen –jeder an einem andersfarbigen Flugdrachen- an einem Baum über einem Abgrund. Als ich nähertrete, um das Ausmaß der Situation einschätzen zu können, stelle ich fest, dass die Schüler in Wirklichkeit alles Menschen aus meiner Vergangenheit sind:

Mein Vater, meine Mutter, mein alter Geigenlehrer, mein Tanzstundenpartner, mein Exmann, meine Ex-Schwiegermutter und einige andere Menschen, deren Gesichter mir zwar irgendwie bekannt vorkommen, die ich im Moment aber nicht zuordnen kann. Eigentlich erfordert diese dramatische Situation von mir das sofortige Einleiten einer Rettungsaktion, doch auf einmal bahnt sich von meinem Bauch aus ein unbeschreibliches Gefühl seinen Weg hoch, bis es meinen Mund erreicht hat. Und dann lache, lache ich, wie ich es schon lange nicht mehr getan habe. Ich kann gar nicht mehr damit aufhören; und auf einmal fallen alle negativen Gefühle, Anspannungen und Sorgen von mir ab. Es sieht auch zu komisch aus, wie all diese Figuren an ihren ineinander verhedderten Drachen zappeln!

„Selbst schuld“, rufe ich ihnen zu, „niemand hat gesagt, dass ihr euch in diese Situation bringen sollt! Und überhaupt: Wo habt ihr eigentlich diese schönen, bunten Drachen her?“

„Gut so, Pia“, vernehme ich da eine Stimme hinter mir, „du bist nicht für alles verantwortlich!“

Blitzschnell drehe ich mich herum und sehe, wie sich ein Mann in einem Rollstuhl den Weg nach oben zum Plateau erkämpft; und das nur mit der Kraft seiner Arme und Hände. Als er oben angekommen ist, erkenne ich Jan!

„Hallo, Pia“, sagt er, als wäre es das normalste auf der Welt, steht auf und geht auf mich zu.

Er sieht richtig jung aus, was mich insofern sehr erstaunt, da seit unserer letzten Begegnung ziemlich viel Zeit vergangen ist!

Mein ehemaliger Lieblingslehrer hat mich erreicht, umfasst meine Hände mit den seinen, schaut mir lachend in die Augen und fragt:

„Hättest du vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?“

Zeit, mich zu finden

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