Читать книгу Zeit, mich zu finden - Sabeth Ackermann - Страница 12

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Elternliebe

Ein milchiger Schleier legt sich über meine Augen, und die Konturen aller im Zimmer befindlichen Gegenstände fangen an zu verschwimmen.

Plötzlich erfasst mich ein starker Sog und zieht mich in Richtung Tür.

Da taucht das Gesicht meiner längst verstorbenen Mutter vor mir auf; noch keine Vierzig ist sie, und ihre graublauen Augen in einem freudlosen Gesicht sind kalt auf mich geheftet; ja, scheinen mich regelrecht zu durchbohren!

Ich bemerke, dass ich wieder sitze und eine Männerhand in der meinen halte; aber es ist nicht mehr die von Jan, sondern die von einem meiner ersten Verehrer, als ich sechzehn war.

Er hatte seinen, vom kargen Lehrlingslohn ersparten, rostigen „Käfer“ mit teurem Treibstoff ausgerüstet und war zu mir aufs Land gefahren, um mich für zwei, drei Stunden entführen zu können.

Indes, meine Mutter wusste seinen Überhang an Testosteron für sich auszunutzen, indem sie diesen einen aus der ohnehin nicht üppigen Schar meiner Bewerber, die den weiten Weg nicht gescheut hatten, um mich zu treffen, zunächst einmal ausgiebig unseren Rasen mähen ließ. Welch wenig ehrenvolle Rolle sie mir damit zuteilwerden ließ, schien ihr in diesem Moment gleich zu sein.

Als wir ihr jetzt händchenhaltend gegenüber am Kaffeetisch im Garten saßen, versuchte sie mir durch ihre Blicke verstehen zu geben, dass sie diese Art der körperlichen Annäherung nicht duldete. Ich ignorierte ihre Bemühungen in dem Bestreben, ihrer Dominanz einen Hauch von Widerstand entgegenzusetzen.

Doch die derart Missachtete beorderte mich unter einem Vorwand in die Küche. In diesem, dem Garten abgewandten und noch dazu noch mit einem verschlossenen Fenster ausgestatteten Raum brüllte sie mich an: Solche Schweinereien würde sie nicht dulden!

Ich konnte mich nicht an „Schweinereien“ entsinnen, aber das spielte auch keine Rolle.

Sie suchte lediglich einen Grund, ihren negativen Befindlichkeiten Ausdruck zu geben, die das Bewusstsein des eigenen Älterwerdens, die Tatsache, dass junge und auch ältere Männer immer häufiger auch ihrer Tochter hinterherschauten, und nicht zuletzt den Widerwillen darüber, dass sie bei diesem jungen Mann jetzt „ihre Schuld einlösen“ musste, beinhalteten.

Sie, die einst selbst eine, von ihren eigenen Eltern Gepeinigte war, war der festen Überzeugung, dass ihr das Leben jetzt etwas schuldete und sie deshalb das Recht hatte, nur noch die Nehmende zu sein.

Und sie gönnte ihrer Tochter, die sich in ihren Augen anscheinend langsam zu ihrer Rivalin entwickelte, den zärtlichen Moment nicht.

All das schrie sie natürlich nicht wörtlich heraus, sondern wandelte es in Schuldzuweisungen für einen Teenager um, für den Zärtlichkeiten in jeglicher Form ohnehin Seltenheitswert hatten und die jetzt auch noch mit dem Makel der „Schweinerei“ belegt waren.

Die in diesen Dingen völlig naive Tochter ahnte zu jener Zeit noch nichts von Männerblicken, die sie verfolgen könnten, hielt sich selbst überhaupt nicht für attraktiv oder gar „sexy“ und wäre niemals auf die Idee gekommen, dass ihre immer noch gutaussehende Mutter eifersüchtig auf sie und ihre Jugend hätte sein können.

Es ist der Samen für eine Art Erbschuld, den meine Mutter da längst in mir ausgesät hatte. Noch wusste ich wenig von der Liebe; aber jetzt schon war dieser so wichtige Bestandteil des Lebens derart mit Dreck beworfen, dass es mir jahrzehntelang nicht mehr gelingen würde, ihn abzuwaschen.

Nach und nach habe ich schließlich erfahren, wie meine Mutter selbst mit dem Thema „Liebe“ umgegangen ist. Für sie war es eine Art Sucht gewesen, unablässig die Aufmerksamkeit von Männern zu erregen; und immer wieder mal hatte sie in ihrem Leben auch mehr als einen Liebhaber gleichzeitig genossen.

Dabei war es ihr da in den seltensten Fällen tatsächlich um Liebe gegangen.

Nachdem sie als Anfang Zwanzigjährige in ihrer Ehe die große Liebe nicht gefunden und ihr verheirateter Liebhaber sich jahrelang geweigert hatte, sich von seiner Frau zu trennen und damit seinen Ruf zu verlieren, hatte sie wohl irgendwann den Glauben an die vermeintlich einzig wahre, große Liebe verloren. Ab da war es ihr in erster Linie um Beachtung und Anerkennung gegangen; darum, möglichst viele Männerblicke auf sich zu ziehen.

Wann immer es möglich war, ließ sie im Sommer in der freien Natur bis auf BH und Slip ihre Hüllen fallen, um sich zu sonnen, und hängte sogar die Wäsche an der Wäschespinne, die sich ziemlich nah an der Straße befand, im knappen Bikini auf. Sie ging so weit, dass sie einmal einen Freund, den ich zu Hause vorgestellt und der ihr gefallen hatte, weil er beruflich bereits sehr erfolgreich war, anflirtete. Es gab ihr Bestätigung und bereitete ihr größtes Vergnügen, als es ihr tatsächlich gelungen war, die Aufmerksamkeit jenes jungen Mannes schließlich von mir weg und auf sie zu lenken.

An diesem Jüngling allerdings hatte sie keinerlei Interesse; aber ich sollte ihn eben auch nicht bekommen. So wollte sie mir verbieten, im Anschluss an das Kaffeestündchen mit ihm zu fahren. Doch dieses Mal lehnte ich mich auf: Ich würde mit ihm gehen, auch, wenn sie Arbeit hatte.

Sie hatte immer Arbeit; wenn es danach ginge, hätte ich, die sowieso nur an schulfreien Samstagen und in den Schulferien Zeit zum Ausgehen gehabt hätte, niemals weggehen können.

Aber genau das war ja ihre Absicht, und dafür war ihr keine Ausrede zu dünn.

Als ich einmal, ebenfalls mit Sechzehn, von einer Klassenkameradin, die selbst eher strenge Eltern hatte, zu deren Geburtstagsparty eingeladen worden war und die sogar jemanden an der Hand gehabt hätte, der mich mit dem Auto abgeholt und in derselben Nacht wieder den langen Weg zurückgebracht hätte, verbot sie mir dieses ohnehin schon seltene Vergnügen mit der absurden Begründung, dass wir uns „in der Woche vor der Karwoche“ befinden würden.

Als ich dieses fadenscheinige Argument nicht gelten lassen wollte, erteilte sie mir scheinbar die Erlaubnis, zur Party zu gehen, aber unter der Bedingung, dass ich um 22 Uhr wieder zu Hause sein müsste.

Völlig frustriert gab ich schließlich auf; es würde mir nie gelingen, am sozialen Leben mit Gleichaltrigen teilnehmen zu können. Wir wohnten so weit draußen auf dem Land, dass dies ohnehin schon schwierig genug war. Es war schon ein Glücksfall gewesen, dass sich jemand bereit erklärt hatte, mich abzuholen und wieder zurückzubringen. Doch niemand würde auch noch so weit gehen, mich, noch während die Party in vollem Gange war, eine Stunde Fahrzeit und den entsprechenden Sprit zu opfern, damit ich zu einer lächerlich frühen Zeit wieder zu Hause sein könnte!

Im folgenden Sommer nun spürte sie, dass sie mich nicht mehr so recht im Griff hatte und ich tatsächlich bereit war, den Abend mit meinem Freund zu verbringen. Schweinereien hin oder her - jetzt mussten für sie die schweren Geschütze ran! Schon hatte ich den Raum verlassen; hoch erhobenen Hauptes und in dem Bewusstsein, endlich erwachsen zu werden.

Da kreischte sie mir im verzweifelten Wissen um ihre letzte Chance hinterher:

„ICH hab‘ Krebs, und DU lässt mich hängen!“

Ich glaube, es ist völlig unerheblich, ob das wahr war oder wieder eine ihrer mittlerweile unzähligen Lügen; seine Wirkung hat dieser Angriff auf jeden Fall nicht verfehlt. Nie wieder nach dieser Szene hat meine Mutter über dieses Thema mit mir gesprochen; gleich, wie sehr ich sie darum gebeten habe. Auf jeden Fall hat sie nie eine Chemotherapie gemacht; und gestorben ist sie Jahrzehnte später aus einem ganz anderen Grund.

An diesem Abend aber brach ich zusammen, ein Ausbund an Schuldgefühlen, aber auch ahnend, dass es mir niemals gelingen würde, der mütterlichen Übermacht zu entkommen, solange ich noch zu Hause leben würde. Ich war zu eingeschüchtert, zu traumatisiert, zu geprägt aufs bloße Gehorchen, als dass ich meine eigenen Interessen gegen so viel martialische Potenz hätte durchsetzen können. Das hatten nicht nur meine Eltern, sondern auch mein späterer Ehemann, mein ehemaliger Chef und noch andere Menschen erkannt und dementsprechend für ihre Zwecke ausgenutzt.

Ich sackte also auf einen Stuhl, schluchzend und untröstlich und fragte meine Mutter: „Warum hast du mir denn nie was gesagt?“

Doch die hatte bereits die Bügeldecke auf dem Küchentisch entfaltet und mit äußerst zufriedenem Gesichtsausdruck den Stecker des Plätteisens in die Steckdose gesteckt. Ihr Ziel war erreicht und ich keines weiteren Kommentars mehr wert.

Und indem sie nicht mehr mit mir sprach, obwohl ich um eine Erklärung flehte, konnte sie auf billigste Art mein Leid und damit ihre eigene Befriedigung vermehren – eine grausame Kompensation ihrer eigenen Unzulänglichkeiten, für die ich leider sehr empfänglich war, da ich mich nur über Kommunikation im Leben zurechtfinden kann.

Auch in meinem späteren Leben haben mich Menschen, denen das bewusst war, mit dieser Methode äußerst erfolgreich zusätzlich quälen können.

Oh, wie oft hatte ich das auch Jahre später noch mitgemacht: Ich bat um Erklärung oder flehte um Vergebung, selbst dann, wenn ich mir keinerlei Schuld bewusst war und nur, um wieder dazugehören zu können.

Wie groß musste meine Bedürftigkeit gewesen sein, um mich derart zu erniedrigen? Erst viele Jahre später ist mir klargeworden, dass auch derjenige, der einem Bittsteller in einer solchen Situation jegliche Erlösung versagt, ein Bedürftiger ist.

Kurze Zeit drauf tauchte mein Freund in der Küche auf, warf einen Blick auf das verheulte Elend, das von seiner Freundin übriggeblieben war und sagte: „Ich fahr‘ dann mal.“ Er nickte noch kurz in Richtung meiner Mutter und sagte „Tschüss!“, was ihr egal war und einer Erwiderung schon nicht mehr wert.

Dann fuhr er zurück in die Stadt, wo das Leben leichter und die Mädchen unkomplizierter waren, und hatte mich schnell vergessen. Mir blieb nur noch, die Kaffeetafel im Garten abzuräumen und das Geschirr zu spülen; und ich begann das Haus, den Garten, den Sommer und mein Leben zu hassen.

Irgendwann ließ ich mich auf einem der Klappstühle nieder, vergrub mein Gesicht in meinen Händen und weinte erneut.

Da vernahm ich eine warme Stimme über mir:

„Ich wünsche dir, dass du in deinem Leben niemals einen schlimmeren Grund zu weinen hast als diesen.“

Das ist mein Vater!

Ich schaue auf und befinde mich in dem Häuschen, das seine zweite Frau von ihren Eltern vorzeitig geerbt hat, nachdem die ins Ausland gezogen waren. Anders als bei meiner Mutter habe ich dort eine Einrichtung kennengelernt, die sich nur an zwei Vorgaben orientierte: Ästhetik und Wohlgefühl. Helle, schlichte Möbel, unendlich weiche, elfenbeinfarbene Teppiche, kuschlige Kissen und Decken in Naturtönen und Lampen mit warmem Licht hatten mir bei meinen Besuchen dort jahrelang das Gefühl vermittelt, mich im Paradies zu befinden.

Wieder sind Sommerferien, aber jetzt bin ich ein Jahr älter – ganze Siebzehn! Beim Herumtanzen auf der Gästecouch bei lauter Musik bin ich gegen eine Vase gestoßen, die daraufhin heruntergefallen und in lauter kleine Scherben zersprungen ist. Ich war furchtbar erschrocken und hatte zu Weinen angefangen, da ich wusste, wie meine Mutter in einer solchen Situation reagiert hätte; doch derlei Missgeschicke bedeuteten meinem Vater gar nichts.

Eine Woche zuvor hatte ich auf einem Schulabschlussfest einen Abiturienten kennengelernt, der Medizin studieren wollte. Wir hatten uns sofort verstanden, uns zum Eisessen verabredet und waren danach ins Kino gegangen, wo wir uns auch das erste Mal geküsst hatten. Nur wenige Wochen, bevor ich meinen neuen Klassenlehrer kennenlernen sollte, hätte er mein erster „fester“ Freund werden können. Doch es sollte anders kommen.

Zwei Tage später war ich mit dem Bus zu meinem Vater und seiner zweiten Frau gefahren, wo ich die erste Hälfte meiner Sommerferien verbringen wollte; er wohnte nur etwa eine halbe Stunde von meiner Schule entfernt.

Mein neuer Verehrer war –wie auch mein ehemaligerbereits motorisiert und stolzer Besitzer einer „Ente“; und natürlich hatten wir geplant, uns so oft wie möglich zu sehen. Auch jetzt wollte er mich mit dem Auto abholen, und ich erbat von meinem Vater die Erlaubnis dazu. Der gestattete es unter der Bedingung, dass ich um 22 Uhr wieder zu Hause sein würde.

Natürlich schaffte ich es nicht zur vereinbarten Zeit zurück, sondern schlich mich nachts um Eins so leise wie möglich ins Haus.

In diesem Moment ging das Licht an; mein Vater hat drei Stunden im Wohnzimmer auf der Lauer gelegen. Seine Standpauke war fürchterlich, und ich durfte meinen neuen Freund –mit Hinweis auf seine Verantwortung für mich gegenüber meiner Mutter- am nächsten Tag nicht treffen.

Stattdessen wurde ich dazu verdonnert, seiner zweiten Frau am nächsten Tag beim Hausputz helfen.

Doch trotz dieser drakonischen Strafe brodelte es in seinem Innern weiter!

Er muss mich in dieser Zeit als eine Art Besitz von ihm angesehen haben; auch –und das ist das wirklich Pathologische daran- in erotischer Hinsicht. In der Zeit, in der ich zwischen zwölf Jahren und Anfang Zwanzig war, war er krankhaft eifersüchtig auf jedes männliche Wesen, von dem er mitbekam, dass es auch nur einen Hauch von Interesse an mir zeigte.

Dabei hatte er selbst eine gewisse Vorliebe dafür entwickelt, mich leicht bekleidet oder gar nackt zu sehen und suchte immer wieder Gelegenheiten, bei denen er mich berühren und küssen konnte - allerdings auf eine Art und Weise, die mir zunehmend Unbehagen bereitete. Immer häufiger auch fragte er mich aus, ob ich bereits Kontakte zu jungen Männern hätte, und was genau denn da geschehen würde. Da in meinem Leben diesbezüglich aber lange erst einmal gar nichts passierte, hatte ich auch nichts zu berichten.

Und weil es mir sehr peinlich gewesen wäre, mit meinem Vater überhaupt solche Themen zu besprechen, behielt ich auch meine Sehnsüchte und Phantasien für mich. Wenn überhaupt, so fragte ich in solchen Angelegenheiten lieber meine Stiefmutter um Rat, die auch in dieser Hinsicht –im Vergleich zu meiner leiblichen Mutter- immer ein offenes Ohr und freundliche, verständnisvolle Worte für mich hatte.

Erst spät begann ich, mich gegen das übergriffige Verhalten ihres Mannes zu wehren, da ich in meiner grenzenlosen Naivität lange daran glauben wollte, dass mein eigener Vater niemals etwas Unrechtes von mir verlangen würde. Als er aber, als ich mittlerweile fünfzehn Jahre alt war, zunehmend auf Widerstand von mir stieß, versuchte er zumindest, meine Beziehungen zu jungen Männern zu kontrollieren und, wenn möglich, zu unterbinden. Bis zu meiner Volljährigkeit begründete er seine boykottierenden, beziehungsweise sanktionierenden Maßnahmen damit, dass er gegenüber meiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht hatte, Rechenschaft ablegen müsste.

Die nutzte tatsächlich jede Gelegenheit, meinen Vater, der ihr die Illusion von ewiger Liebe nicht Wirklichkeit lassen werden können und dann auch noch die Stirn besessen hatte, direkt nach der Scheidung eine Frau zu heiraten, die ihr an Attraktivität und Intelligenz in nichts nachstand, fertigzumachen, wo immer sie eine Gelegenheit dazu sah.

In diesem Fall aber dienten ihm die Vorgaben seiner Exfrau lediglich als Ausrede; tatsächlich kochten in ihm Emotionen mit destruktiver Wucht hoch – ausgelöst durch eine, durch nichts zu rechtfertigende Eifersucht auf die Männer, die ihm in seinen Augen seine Tochter streitig machen wollten. Wiedergutmachung wollte er, Demütigung für eine vermeintlich abtrünnige Siebzehnjährige – nur so konnte er den alles beherrschenden Schmerz in seiner Brust betäuben.

Von außen konnte man ihm diese extremen Gefühle nicht ansehen, denn zumeist hatte er sich in der Gewalt; aber im Rückblick ist das für mich die einzig plausible Interpretation seines folgenden, kranken Verhaltens:

Ich musste die gleichen Sachen anziehen, die ich bei meiner Verabredung getragen hatte, mich auf die gleiche Art frisieren und schminken. Dann fuhr mein Vater genau die gleiche Strecke, die am Abend zuvor auch mein Verehrer mit mir gefahren war. Auf derselben Burgruine standen wir eng beieinander, wobei er besitzergreifend den Arm um mich legte, und bewunderten die Aussicht; das heißt, ich machte das üble Spiel mit, da ich glaubte, ohnehin keine Wahl zu haben und in der Hoffnung, dass dieser Albtraum bald ein Ende haben würde. Doch mein Vater, der jeden Moment auskostete und dessen Laune sich zusehends besserte, hatte noch einen Trumpf im Ärmel.

Nach unserem Zwangsausflug kehrten wir in ein Restaurant ein, und er zeigte sich äußerst spendabel, animiert mich zu allen möglichen Leckereien, obwohl ich kaum Appetit hatte.

Nachdem sein Bauch gefüllt und sein Ego befriedigt war, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, fixierte mich mit einem Ausdruck höchster Selbstgefälligkeit und meinte dann:

„DAS kann Dir Dein kleiner Freund NICHT bieten!“

Ich saß ihm also gegenüber und wusste nicht, warum ich mich nicht wehrte. Warum ich ihn nicht fragen konnte, wieso er sich so abartig verhielt und anstatt, dass er mit seiner schönen Frau den wunderbaren Sommertag genoss und mich, fast volljährig, das Gleiche tun ließ, uns stattdessen putzen und anschließend seine Frau alleine ließ, um sein krankes Ego mit perversen Spielchen zu füttern.

Doch ich sagte nichts, war wie immer brave Tochter und wurde dafür von ihm mit nachsichtigem Tätscheln belohnt. Er, der fast Fünfzigjährige mit dem bereits ergrauten Bart, war erschöpft. Seine auch für ihn anstrengende Mission war erfüllt; das eifersüchtige Untier in ihm lag jetzt erst einmal träge und vollgefressen im Eck.

Der Studiosus schickte zwei Monate später eine Postkarte aus der Unistadt. Am Flussufer lümmelten sich junge Menschen in der Sonne; das Leben dort schien bunt und unkompliziert. Nach einer weiteren Verabredung mit mir fragte er nicht mehr.

Immer noch sitze ich unbeweglich da.

Über vierzig Jahre ist das alles her! Meine Mutter, mein Vater – beide krank wegen der ständigen Jagd nach Anerkennung, der Kompensationsversuche bezüglich ihres eigenen Alterungsprozesses und einer für mich nicht nachvollziehbaren Eifersucht auf die eigene Tochter. Und diese Menschen haben in mir den Grundstein für meine eigene Liebesfähigkeit und Sexualität gelegt!

Nachdem ich volljährig geworden war, kam ich nur noch sporadisch bei meinem Vater vorbei. Ich zog gleich nach dem Abitur aus meinem ungeliebten Elternhaus aus, und die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich meine Mutter anschließend noch besuchte, waren einfach nur frustrierend für mich.

Als ich beispielsweise nach 45 Fahrstunden sowie mehreren Therapiestunden gegen meine Angstzustände am Steuer, für deren Finanzierung ich monatelang hart gearbeitet hatte, und nach einer zunächst nicht bestandenen Fahrprüfung endlich doch das heißersehnte hellgraue Dokument in der Tasche hatte, lieh ich mir das Auto meiner Freundin.

Ich fuhr zu meiner Mutter hinaus. Wenigstens dieses eine Mal wollte ich ihr beweisen, dass ihre ungeliebte Tochter eben doch in der Lage war, etwas eigenständig hinzubekommen; denn ich sehnte mich mit einer unglaublichen Heftigkeit danach, auch einmal Anerkennung von ihr zu erhalten.

Fast ein Jahr lang war dieser Herzenswunsch von mir Motor und Motivation gewesen, unzählige Hürden zu überwinden und immer wieder über meinen Schatten zu springen; und endlich, endlich war der große Moment gekommen!

Meine Mutter stand –wie so oft- leichtbekleidet an der obligatorischen Wäschespinne. Als sie das herannahende Auto bemerkte, drehte sie kurz ihren Kopf; schaute jedoch, nachdem sie mich auf dem Fahrersitz erkannt hatte, sofort wieder weg und beschäftigte sich weiter mit ihrer Wäsche.

Erst, nachdem ich angehalten hatte und ausgestiegen war, wandte sie sich mir mit einem spöttischen Blick zu und bemerkte in abwertendem Ton:

„Hast du den Führerschein, oder tust du nur so?“

In diesem Moment fiel ich in mich zusammen und fühlte mich wieder wie damals als ungeliebtes Kind: klein und wertlos. Meine Mutter stellte, ob aus Desinteresse oder aus dem Wunsch heraus, mich ein weiteres Mal zu demütigen, auch keine weiteren Fragen mehr zu diesem Thema.

Diese und ähnliche Situationen verletzten mich zutiefst und gaben mir das Gefühl, nie gut genug für meine Mutter zu sein – ganz egal, welche Anstrengungen auch immer ich in meinem Leben auf mich nehmen würde.

In ihren Augen war ich einfach nichts wert.

Und so wurden meine Besuche immer seltener; und als ich mich eines Tages von mir aus nicht mehr meldete, erhielt auch ich nie wieder ein Brief oder ein Anruf von ihr, was mir irgendwann klarmachte, dass nur noch ich es gewesen war, die unsere Beziehung am Ende aufrechterhalten hatte.

Diese Erkenntnis war für mich sehr schmerzhaft, denn über all die Jahre hatte ich immer noch gehofft, doch noch ein Lebenszeichen von ihr zu erhalten und somit den Beweis, dass ich ihr wenigstens ein ganz kleines bisschen etwas bedeutete.

Mit meinem Vater erging es mir ähnlich. Nachdem ich mein eigenes Leben begonnen und er keine Kontrolle mehr darüber hatte, verlor er zusehends das Interesse an mir. Anfangs schickte ich noch zu Weihnachten und den Geburtstagen Karten; aber da fast nie eine Antwort zurückkam, unterließ ich irgendwann auch das.

Da ich mit meinen Geschwistern –von unseren Streitereien als Kinder einmal abgesehen- nie wirkliche Konflikte gehabt hatte, hoffte ich, dass wenigstens sie auf meine postalischen Annäherungsversuche reagieren würden. So gerne hätte ich zumindest über meine mittlerweile erwachsenen Brüder und später auch über meine Schwägerinnen, Nichten und Neffen noch das Gefühl gehabt, einer Familie anzugehören.

Aber aus irgendeinem Grund kam auch aus dieser Richtung nie eine Antwort zurück; so, als wollten auch sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich konnte mir dieses Phänomen überhaupt nicht erklären. Was hatte ich meinen Geschwistern getan, dass auch sie den Kontakt zu mir verweigerten?

Eine Zeitlang überlegte ich, ob vielleicht meine Mutter schlecht über mich geredet hatte – aber, welches „Vergehen“ von mir hätte sie denn thematisieren sollen?

Bis zum Ende meiner Schulzeit hatte ich nahezu alles getan, was sie von mir erwartet hatte. Danach habe ich versucht, mein eigenes Leben zu leben und selbständiger zu werden; und natürlich habe ich in dieser Zeit auch Fehler gemacht. Aber ich denke, dass das bei allen Heranwachsenden so und damit völlig normal ist. Bei meinen Brüdern und mit Sicherheit auch bei meinen Eltern selbst wird das nicht anders gewesen sein. Aber welchen Grund es sonst für die ablehnende Haltung meiner Geschwister mir gegenüber gegeben haben soll, habe ich nie erfahren.

Grenzenlose Traurigkeit überfällt mich; Traurigkeit darüber, dass ich aus dem Kreis meiner Familie ausgeschlossen worden bin.

Und bis zum heutigen Tag habe ich nicht verstanden, wie es möglich ist, dass sich Mütter und Väter ohne irgendeinen nachvollziehbaren Grund von ihren Kindern abwenden und bis zu ihrem Lebensende offensichtlich leichten Herzens auf sie verzichten können, nur, weil diese vielleicht einen anderen Lebensweg einschlagen als den, den ihre Eltern bevorzugt hätten.

Zeit, mich zu finden

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