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Erinnerungen

In den letzten Tagen vor der Schulfeier habe ich in alten Fotoalben gestöbert und Schuhkartons durchwühlt, wobei einige Erinnerungsstücke ans Tageslicht befördert worden sind. Da ist zum Beispiel mein altes Poesie-Album, das ich noch bis zur Quarta geführt habe; ab der Mittelstufe hatten derartige Reminiszenzen als „uncool“ gegolten.

„Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Nur die eine nicht, und die heißt Vergißmeinnicht. Dies schrieb dir deine liebe Freundin Brigitte“, entziffere ich den mit Füller und noch in alter Rechtschreibung geschriebenen Text. Die Biggi – die hatte ich ja ganz vergessen! Ein stets fröhliches Gesicht, eingerahmt von zwei dicken, geflochtenen Zöpfen, tauchen vor meinem geistigen Auge auf; um ihre schönen Haare habe ich meine Klassenkameradin immer beneidet.

„In allen vier Ecken soll Liebe drinstecken!“, dieser Text stammte, zusammen mit einer großen, pinkfarbenen Rose, auf der golden Glitzerpartikel schimmerten, von meiner Freundin Susanne, mit der ich mich von Anfang an am besten verstanden hatte. Gemeinsam hatten wir die auf dem Schulgelände verbotenen Shorts unter unsere Miniröcke, die wiederum erlaubt waren, angezogen; und in der großen Pause wanden wir uns auf dem Schulhof aus den Röcken heraus, um den anderen mit unserer verbotenen Kluft zu imponieren.

Doch schon bald hatten wir viele Nachahmerinnen und die Sache ihren Reiz verloren. Später kam Susi auf die Idee, das ebenfalls verbotene „Klick-Klack-Spiel“ auf den Hof zu schmuggeln; doch bereits am ersten Tag wurden wir aufgrund des lauten „Klick-Klacks“ der schweren Kugeln erwischt und mussten nachsitzen, was uns den Spaß gleich wieder verdarb.

„Lebe glücklich lebe froh wie der Mops im Haferstroh dein Klaus“ – dieser Spruch war tatsächlich von einem Jungen, mit dem ich in der Unterstufe meine Leidenschaft für Mathematik und mein Unverständnis für den Gebrauch von Satzzeichen geteilt habe.

Und in einem alten Fotoalbum entdecke ich ein Klassenfoto, das unmittelbar nach unserer Einschulung auf das Gymnasium geschossen worden war.

Meine Güte – diese Frisuren: Neben den damals beliebten Flechtzöpfen gab es noch die Dutte, die mitten auf dem Kopf platziert wurden; aber auch weiße Nylonbänder, die lange Mähnen aus dem Gesicht hielten, sowie die damals beliebten geflochtenen und dann mit weißen Schleifen oder Haarspangen in Kirschform doppelt zusammengebundenen „Affenschaukeln“.

Und dann diese Klamotten: Falten-, Häkel- und Strickröcke; gekrönt von Strickstrumpfhosen oder deutlich schickeren, weißen Kniestrümpfen, die aber ständig herunterrutschten!

Bei den Jungs gab es eindeutig eine Tendenz zur praktischen Lederhose mit Latz, ansonsten herrschten Stoff- oder Cordhosen, kombiniert mit Hemden, teilweise schon mit gestreiften Polyacryl-Pullundern oder selbstgestrickte Pullis vor. Jeans und T-Shirt hatten sich als Schuluniform noch nicht durchgesetzt.

Und da bin ja auch ich, direkt neben Susi; sie trägt einen hübschen, weißen Rollkragenpullover zum Faltenrock in schwarz-weißem Pepita-Karo und ich ein von meiner Mutter genähtes, geblümtes Hängerchen mit einer Tasche auf dem Bauch, das aussieht wie ein Kittelschurz! Schnell lege ich das Album wieder zur Seite.

Dann fällt mir eine gelbe, leicht zerfledderte DIN A 5-Kladde in die Hand, auf der „Meine Abschlußklasse“ (ebenfalls noch in alter Rechtschreibung) steht. Neugierig schlage ich sie auf und erinnere mich wieder:

In den letzten Wochen vor Ausgabe des Abiturzeugnisses hatten wir ein regelrechtes Wettrennen damit veranstaltet, so viele Klassenkameradinnen und –kameraden, Lehrerinnen und Lehrer wie möglich in eigens dafür angeschafften Kladden hineinschreiben zu lassen. Und auch, wenn diese Heftchen von ihrer Funktion her stark an die einst so verpönten Poesiealben erinnerten, so wirkten sie aufgrund ihrer unkonventionellen Form und der eher spontanen Einträge, bei denen man nicht mehr zuvor Hilfslinien mit Lineal und Bleistift ziehen musste, die anschließend wieder wegradiert wurden, lässiger und somit viel cooler.

Mein Exemplar ist ziemlich vollgekritzelt, und ich schaue mir eine Seite nach der anderen an. Meine Klasse hat sich mit mehr oder weniger witzigen Sprüchen und Zeichnungen darin verewigt; einige wenige haben sogar Fotos hineingeklebt. Ach, und guck mal: der Georg hat hineingeschrieben. Das war doch der, in den ich mal verknallt gewesen war, und der mich „Moni Mauerblümchen“ genannt hat. Und später ist der sitzengeblieben und in meiner Klasse gelandet, und dann war Schluss mit der großen Klappe. Beim Gedanken daran empfinde ich noch über vierzig Jahre später eine gewisse Schadenfreude darüber.

Susi schwört mir „ewige Treue und Verbundenheit“; tatsächlich ist sie wie ich direkt nach dem Abi weggezogen, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Aber hier: Gabi und Iris, das sind die beiden, zu denen ich auch heute noch immer wieder mal Kontakt habe, zusammen mit Sabine, die erst in der Oberstufe zu uns gestoßen war. Ich blättere weiter; da tauchen die Einträge der Lehrer auf.

„Musik ist ein wichtiger Teil unseres Lebens; sie berührt unsere Seele. Mit den besten Wünschen für eine erfüllte Zukunft – Ihr Johannes Habermann“, entnehme ich den geschwungenen Buchstaben, die zusätzlich noch mit lauter kleinen Violinschlüsseln sowie Achtel- und Sechzehntelnoten mit ihren lustigen Fähnchen verziert sind. Ach, der gute Herr Habermann, denke ich; wie viel Mühe er sich gegeben hat, meiner Kehle saubere Töne zu entlocken; aber seit ich bereits Jahre zuvor meine Instrumentalkarriere aufgrund schwerwiegender Vorkommnisse beendet hatte, war mir jedweder Musikunterricht gleichgültig geworden.

Noch viel unrühmlicher hatte sich meine Karriere im Fach Sport entwickelt. „Liebe Pia, bleiben Sie immer hübsch in Bewegung! Das wünscht Ihnen Rosalinde Kleinschmidt.“ Irgendwie rührend, denke ich. Dabei ist Fräulein Kleinschmidt im Sportunterricht der Oberstufe wahrscheinlich ständig an mir verzweifelt. Ob Geräteturnen oder Leichtathletik - für nichts hatte ich einen Sinn. Der Barren jagte mir solchen Respekt ein, dass mich immer zwei Hilfestellungen in den Felgaufschwung hinaufhieven mussten - ansonsten wäre ich unten geblieben. Auf dem Bock landete ich trotz des Absprungs auf einem Sprungbrett höchstens auf den Knien. Einmal stieß ich aber auch so heftig dagegen, dass er, samt eines verzweifelten Fräulein Kleinschmidts, die –bereit, ihre Rolle als Hilfestellung bei mir persönlich zu übernehmen- dahinterstand, umkippte.

Während das Turngerät einfach wieder aufgestellt werden konnte, musste unsere Sportlehrerin in der Notaufnahme des Krankenhauses ambulant behandelt und anschließend zwei Wochen lang vertreten werden.

Im Bodenturnen war die „Rolle vorwärts“ so ziemlich die einzige Übung gewesen, die ich, gerade noch so, zustande brachte. Und im Schwimmunterricht, den wir in der Sexta noch hatten und für den wir durch die halbe Stadt bis ins nächste Schwimmbad laufen mussten, hatte ich meiner damaligen Lehrerin Frau Jakobi glaubhaft klarmachen können, dass ich des Schwimmens nicht mächtig war.

Das war gelogen, denn bereits mit vier Jahren hatte ich mich wie ein Fisch im Wasser bewegen können. Aber seit ich beim Baden im Baggersee bei einem Schlauchbootunglück unter die gekenterte Nussschale gelangt war und dort in den Sekunden bis zu meiner Rettung Todesängste ausgestanden hatte, hatte ich mich fortan geweigert, jemals wieder mit dem Kopf unter Wasser zu kommen. Bis zum heutigen Tag schließt das für mich Aktivitäten wie das Tauchen, das ins tiefe Wasser-Springen sowie das Haarewaschen direkt unter der Dusche für mich aus.

Und so mussten meine Eltern diesen wichtigen hygienischen Akt fortan zu zweit vornehmen: Meist bog meine Mutter, die im Waschen längerer Haare mehr Routine besaß, während ich in der Badewanne saß, meinen Kopf so weit wie möglich nach hinten, brauste dann mit der linken und wusch mit der rechten Hand. Meinem Vater wiederum, der rechts neben ihr hockte, oblag die Aufgabe, dabei mit der rechten Hand meinen Nacken zu stützen und mit der linken und jeder Menge Gästehandtücher meine Ohren, Augen und Nase vor den von mir so gefürchteten Wassereinbrüchen zu schützen.

Da ich als Hochsensible auf die Welt gekommen war, konnte ich mir in dieser Situation so mein angeborenes Gespür für die Gefühle und Schwächen anderer zunutze machen.

So war mir durchaus bewusst, dass mein Vater fürchterlich darunter litt, dass er seine einzige Tochter aufgrund einer Unachtsamkeit beim Gummibootfahren beinahe ins Jenseits befördert hatte; und meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, ihn daran zu erinnern.

Sie wiederum entdeckte während dieser Betätigung ganz plötzlich die besorgte Übermutter in sich, der nichts wichtiger zu sein schien als die Sorge um ihr Kind, was die Untat meines Vaters noch dramatischer erscheinen ließ.

Und dass sie es genau darauf angelegt haben muss, erklärt sich für mich dadurch, dass es für mich ansonsten keine weitere Situation gab, in der ich so viel fürsorgliche Zuwendung von ihr erfahren durfte. Und so konkurrierten meine Eltern ab diesem Zeitpunkt beide in vermeintlich trauter Zweisamkeit darum, im Akt des Haarewaschens ihrer Tochter das Maximum an elterlicher Verantwortung zukommen lassen zu können.

Doch leider war es mit dieser Premium-Behandlung vorbei, als sie sich scheiden ließen. Wir Kinder blieben bei unserer Mutter, die fortan niemandem mehr etwas hinsichtlich der oben genannten Eigenschaft beweisen musste.

Von nun an hatte ich mich zu meinem großen Leidwesen keine andere Wahl mehr, als meine Haare alleine kopfüber am Badewannenrand zu waschen. Lediglich während meiner Ehe besaß ich –zumindest in der Anfangszeit- das Privileg, mir im Friseursalon meines Mannes die Haare bequem im Waschbecken waschen lassen zu können.

Aber dank meiner Kreativität konnte ich zumindest im Schwimmunterricht das gesamte fünfte Schuljahr lang einfach nur entspannt dabei zusehen, wie sich meine Klassenkameraden für den Erhalt der Frei- und Fahrtenschwimmer-Abzeichen abstrampelten und dabei sogar –mit zugehaltener Nase- einen waghalsigen Sprung vom Ein-, beziehungsweise Dreimeterbrett in Kauf nahmen.

Ich dagegen plantschte zufrieden in einer geschützten Ecke vor mich hin und erfreute meine geduldige Lehrerin damit, dass ich jede Woche mit einem Zug mehr das Nichtschwimmerbecken durchpflügen konnte.

Ich hatte mir zuvor –unter Berücksichtigung der unterrichtsfreien Zeiten- natürlich ausgerechnet, dass ich mit diesem Lerntempo bis zum Ende unseres einzigen Schuljahres mit Schwimmunterricht so gerade eben nicht die Voraussetzungen für den Erwerb der Freischwimmer-Qualifikation erreichen würde, die immerhin noch einen Sprung vom Einmeterbrett erforderte, und somit für mich völlig indiskutabel war. Dafür war ich auch bereit, auf das neckische blau-weiße Abzeichen mit der Welle zu verzichten, das die Mütter sportlich ambitionierterer Kinder stolz auf die Badeanzüge und – hosen ihres Nachwuchses nähen durften.

Eine Seite nach der anderen blättere ich um und erfreue mich an den mehr oder weniger originellen Sprüchen ehemaliger Schulfreundinnen und Schulfreunde sowie an den wohlgemeinten Wünschen, versteckten Ermahnungen und gutgemeinten Lebensweisheiten meines ehemaligen Lehrkörpers.

Zeit, mich zu finden

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