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Moni Mauerblümchen

Der Brief steckt an einem ganz normalen Dienstag in meinem Briefkasten. Er ist hellgrau, trägt als Absender einen Stempel meiner ehemaligen Schule, und im Sichtfenster ist meine Adresse zu lesen:

Frau Pia M. Blum, Straße mit Hausnummer, Postleitzahl und mein jetziger Wohnort.

Die Schule habe ich vor über vierzig Jahren verlassen und bin seither mehrmals umgezogen. Aber ich habe noch losen Kontakt zu drei ehemaligen Klassenkameradinnen, die meine jetzige Adresse wahrscheinlich weitergegeben haben. Dass mein zweiter Vorname nur mit „M.“ abgekürzt und der dritte einfach ignoriert worden ist, stört mich nicht - im Gegenteil.

Nach meiner Scheidung vor zwanzig Jahren hatte ich meinen Mädchennamen wieder angenommen. Wirklich toll hatte ich den zwar noch nie gefunden; keinesfalls aber hätte ich meinen Ehenamen weitertragen wollen! Meine Töchter hatten den Familiennamen behalten, bis sie, beide ziemlich jung, mit einundzwanzig und mit zwanzig Jahren geheiratet und die Nachnamen ihrer Ehemänner angenommen hatten.

Davon einmal abgesehen jedoch sind meine Mädchen sehr unterschiedlich.

Die Hochzeit von Julia, der Jüngeren, war erst vor einem Jahr gewesen; ein schönes, großes Familienfest, bei dem mir erneut und schmerzhaft klar geworden war, dass ich es bisher immer noch nicht geschafft hatte, selbst wieder zu heiraten. Und Katharina, „die Große“, hatte sich zwei Jahre zuvor in einem dagegen vergleichsweise bescheidenen Rahmen trauen lassen.

Überrascht hatte mich die Unterschiedlichkeit der beiden Hochzeiten nicht: Mein „Julchen“ war schon immer eine Prinzessin gewesen, die den großen Bahnhof liebte, während Katharina viel rationaler, pragmatischer und in allem auch viel puristischer war.

Beide haben auch etwas von mir: Katharina das ewig Analytische und Julia den Hang, alles verschönern zu wollen. Nur komme ich mit meiner „Kleinen“ besser aus, weil sie mich in meinem Bestreben, möglichst jung und attraktiv auszusehen, tatkräftig mit Schönheitstipps unterstützt.

Kathi dagegen will mir ständig klar machen, dass mein Jugendwahn und meine Suche nach einem Ehemann allzu offensichtlich und damit peinlich seien und ich mein Geld und meine Energien lieber in sinnvollere Tätigkeiten stecken solle.

Das kränkt mich ein wenig; habe ich doch bisher fast 35 Dienstjahre Staatsdienst abgeleistet und für das erste Vierteljahrhundert davon sogar eine Urkunde erhalten, zwei Kinder in die Welt gesetzt und fast alleine großgezogen und einige meiner „besten Jahre“ damit verbracht, einen Taugenichts auszuhalten, der mich zum Dank belogen und betrogen und mir nach unserer Trennung nicht einmal Unterhalt gezahlt hat! Hatte ich mir nicht ein bisschen Anspruch auf ein „süßes Leben“ verdient?

„Du hast kein süßes Leben, Mama“, pflegt mir meine Große während solcher Diskussionen dann immer wieder unbarmherzig klarzumachen, „du machst dir was vor. Was soll denn ‚süß‘ daran sein, sich in deinem Alter, an der Grenze zur Peinlichkeit aufgetakelt, in irgendwelchen Spelunken die Nächte um die Ohren zu schlagen und dabei auch noch einen Haufen Geld zum Fenster rauszuwerfen?“

„Ich werde oft eingeladen“, versuche ich mich in solchen Fällen, meines bereits verlorenen Postens durchaus bewusst, zumindest um der Ehre willen zu verteidigen. Dann verdreht Kathi in der Regel die Augen, weist manchmal noch darauf hin, dass sich seriöse, „heiratbare“ Männer mitnichten in solchen Etablissements herumtrieben, und schon fühle ich mich wieder schlecht. Aber was sollte ich denn sonst machen?

Auf kulturellen Veranstaltungen befinden sich in der Regel hauptsächlich Frauen „im besten Alter“, sieht man mal von den wenigen männlichen Exemplaren ab, die von deren Partnerinnen –und das von Seiten der Männer aus auch nicht immer ganz freiwillig- mitgebracht worden waren. Und manchmal gibt es auf Vorträgen oder Lesungen, die nicht von einer Frau gehalten werden, auch noch einen smarten Referenten. Der bleibt aber in der Regel anschließend nur so lange da, bis er eine für ihn ausreichende Menge an handsignierten literarischen Erzeugnissen aus eigener Herstellung verkauft hat. Auf Vernissagen kann ich wenigstens noch ein paar lauwarme Gratis-Getränke ergattern, aber leider keine Männer, die sich für den Intellekt einer „Endfünfzigerin“ interessieren. Konzerte und Theater sind richtig teuer; und die Chancen, dort einen gebildeten, ungebundenen und gutaussehenden Mann für mich interessieren zu können, gehen gegen Null. Und über die Misserfolge mit meinen Zeitungsinseraten, in denen ich als „intelligente, humorvolle und warmherzige ,Best Agerin‘ einen adäquaten Wegbegleiter“ suche, will ich gar nicht erst sprechen.

„Du nimmst das Thema viel zu wichtig“, sagt meine Große dann, „entspann dich lieber und warte ab; und warum willst du eigentlich überhaupt noch einmal heiraten?“ Etwas erleichterter bin ich dann, wenn Julia mich nach solchen Standpauken in den Arm nimmt und lacht: „Lass sie doch reden, Mama, sie ist halt unser Moralapostel. Tu einfach, was dir Spaß macht, und denk nicht so viel darüber nach!“

Aber genau das ist mein Problem: Ich kann überhaupt nichts machen, ohne mein Handeln ununterbrochen zu reflektieren.

Und wenn ich ehrlich bin, hat das viele Ausgehen für mich auch nichts mit „Spaß“ zu tun, sondern soll eine Funktion erfüllen, was es anstrengend macht und Stress für mich bedeutet. Normalerweise würde ich mittlerweile alles Laute, Grelle, Enge und Hektische eher meiden und nach Feierabend und an den Wochenenden viel öfter einfach nur meine Beine hochlegen und es mir gutgehen lassen.

Im Vergleich zu den Menschen, die gerne Events besuchen, sportlich oder im Rahmen eines Hobbys aktiv sind, verfüge ich über einen ausgeprägten Hang zur Ereignislosigkeit!

Ein Jahr nach ihrer Eheschließung hat Kathi meinen ersten Enkel zur Welt gebracht, Magnus. Er ist ein richtig süßer Kerl mit fast weißblonden Locken und strahlend blauen Augen, aus denen bereits der Schalk hervorblitzt. Als Säugling wurde er oft von seinem Vater Matthias, einem aufstrebenden Junganwalt, stolz in einem gewebten Stoffbeutel herumgetragen; und auf Julias Hochzeit krabbelte er schon herum und zog sich überall hoch, was seine Eltern ziemlich in Atem hielt.

Ich habe ihn wirklich gerne und nehme ihn ab und zu mal für ein paar Stunden; insbesondere, seit mich eine Spaziergängerin, als ich ihn mal mit dem Buggy draußen herumkutschiert habe, gefragt hat, ob ich die Mutter des Kindes sei. Aber ich bin auch froh, wenn Kathi ihn dann wieder abholt.

Meine Vornamen habe ich übrigens nie gemocht, abgesehen von meinem Rufnamen Pia. Warum hatte es nicht einfach dabei bleiben können? Diesen Namen habe ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt, der nach Papst Pius, dem Zehnten, benannt worden war. Nach meiner Geburt wurde dann als Rufname flugs eine Pia draus, was mir persönlich schon gereicht hätte; doch hat mich damals niemand nach meiner Meinung gefragt! Vielleicht war dem Pfarrer, der meine Taufe vornehmen sollte, der modifizierte Papstname nicht klangvoll genug, vielleicht wollte er ihn auch nicht für ein Mädchen gelten lassen. Und so drängte er auf den „Beivornamen“ Maria, der seit jeher bei der Veredelung von Vornamen gute Dienste geleistet hat - auch bei Männern.

Pia Maria - man könnte meinen, dass es nicht schlimmer hätte kommen können; doch weit gefehlt!

Kurz vor dem Tauftermin meldete auch meine Großmutter väterlicherseits Ansprüche an, indem sie darauf bestand, an meine bereits beschlossenen Vornamen noch einen weiteren, nämlich „Monika“, anzuhängen. Tatsächlich hätte sie selbst sehr gerne eine Tochter dieses Namens gehabt.

Natürlich waren die Methoden einer kontrollierten Familienplanung zu ihrer Zeit noch überschaubar und auch nicht besonders erfolgreich gewesen. Dennoch wurde immer vermutet, dass der Wunsch nach einem Mädchen der eigentliche Grund dafür war, dass sie sich den Strapazen von fünf Geburten ausgesetzt hatte, von denen sie die ersten beiden den verletzungsbedingten Fronturlauben meines Großvaters im ersten Weltkrieg zu verdanken gehabt hatte.

Doch das Schicksal hatte es anders gewollt und ihr fünf prächtige Jungen geschenkt, von denen mein Vater der jüngste und ihr geliebtes und besonders verwöhntes Nesthäkchen war. So war es auch nicht verwunderlich, dass der meiner Omi den Herzenswunsch nicht abschlagen mochte, weswegen ich fortan als Pia Maria Monika Blum aufwuchs und nahezu meine gesamte Kindheit und Jugend damit aufgezogen wurde.

Wenn wir draußen oder im Schulhof in der Pause spielten, tanzten die anderen Kinder oft um mich herum und sangen mit der Melodie von „Ringel, Ringel, Reihe“ „Piiia Mariiia“! Irgendeiner fing immer damit an und die anderen stimmten mit ein.

Erst als ich aufs Gymnasium in die Stadt kam, hatte der Spott mit meinen beiden ersten Vornamen endlich ein Ende. Doch ich besaß ja noch einen dritten, der sich in Kombination mit meinem Familiennamen etwas später als fatal erweisen sollte.

Nach der Grundschule hatte meine Mutter uns vier nach und nach auf Privatschulen geschickt, die schon damals die Vorteile eines beaufsichtigten Mittagessens und einer ebensolchen Hausaufgabenbetreuung anboten, was sie hinsichtlich ihres eigenen Erziehungsauftrages enorm entlastete. Irgendwann erfuhr ich, dass mein Vater nach der Scheidung von unserer Mutter diesen nicht ganz billigen Service samt Privatschulgeld komplett finanzierte, was mich lange Zeit wunderte, da er sich das als einfacher Beamter im Öffentlichen Dienst eigentlich kaum hätte leisten können. Doch er erwähnte einmal, dass er für diese Kosten über ein „geheimes Sonderkonto“ verfügen würde; womit ich mich fürs Erste zufriedengegeben hatte.

Aufgrund der freien Trägerschaft meiner Schule gab es dort auch noch die alten lateinischen Bezeichnungen für die Klassenstufen, die bei den meisten öffentlichen Schulen, von den humanistischen Gymnasien einmal abgesehen, bereits abgeschafft worden waren. Und so geschah es in der Sexta, dass meine Klassenlehrerin auf meine starke Kurzsichtigkeit aufmerksam wurde, woraufhin ich umgehend eine Brille mit dicken Gläsern, Typ Kassengestell, erhielt.

Als ich das erste Mal damit meine Klasse betrat, schrien die anderen vor Lachen, und ab da war ich die „Brillenschlange“. Zwar war ich nicht das einzige Mädchen mit einer solchen Sehhilfe, aber meine erschien mir mit Abstand die auffälligste und hässlichste zu sein. Viele Jahre lang gab ich meinen unförmigen Augengläsern die Schuld daran, dass sich kaum ein Junge für mich interessierte; und ich sparte lange, bis ich mir ein modernes, leichtes Gestell leisten konnte - und irgendwann auch meine ersten Kontaktlinsen.

In der Untertertia verguckte ich mich in einen Jungen namens Georg, der eine Klassenstufe über mir war. Immer wieder drückte ich mich in der großen Pause in seiner Nähe herum, und einmal wagte ich mich noch etwas weiter vor als sonst. Ich schickte sehnsuchtsvolle Blicke in seine Richtung, doch ein paar andere Jungs aus seiner Klasse standen um ihn herum und versperrten mir den direkten Zugang zu ihm.

Als er mich schließlich doch erblickte, rief er –wohl auch, um vor den anderen als möglichst cool dazustehen- spöttisch: „Guckt mal, da kommt ‚Moni Mauerblümchen‘!“

Seine Klassenkameraden grölten vor Begeisterung, und ab jenem Moment bescherte mir diese Alliteration erneut über eine längere Zeit Schmach und Demütigungen. Das Stigma „Moni Mauerblümchen“ verfolgte mich bis in die Oberstufe; und die Erinnerung daran schmerzte auch noch lange danach, als ich längst erwachsen und einfach nur noch Pia Blum war.-

Ich habe den Briefumschlag aufgerissen und entfalte das ausgedruckte Schreiben. Meine alte Schule feiert Jubiläum und lädt ehemalige Schüler*innen und Lehrer*innen herzlich zu einem großen Empfang mit Vorführungen und einem kalten Buffet, sowie die Möglichkeit, die eigenen ehemaligen Unterrichtsräume zu besichtigen, ein; um Antwort wird gebeten.

Meine alte Schule – wie lange ist das her. Vor wenigen Monaten bin ich sechzig Jahre alt geworden - sechzig!

Nur noch wenige Jahre, dann werde ich der Schule, an der ich lange Zeit als Hauptschullehrerin tätig gewesen war, adieu sagen und meinen Ruhestand antreten.

Als ich selbst noch Schülerin war, hätte ich mir nie vorstellen können, dass ich überhaupt jemals ein derart greisenhaftes Alter erreichen würde!

Dann habe ich studiert, das Referendariat gemacht und mich in meinem Leben und meinen ersten Anstellungen ausprobiert. Mit Anfang Dreißig hörte ich auf einmal meine biologische Uhr ticken und machte mich auf die Suche nach einem Ehemann. Doch das erwies sich als gar nicht so einfach, da ich schon ein wenig den Zug verpasst zu haben schien.

Während meiner Ausbildung hatte ich aufgrund meines Hauptfachs Mathematik noch reichlich Kontakt zu jungen Männern gehabt; aber die meisten hatten dann nach und nach geheiratet und waren von der Single-Bühne verschwunden.

Plötzlich befiel mich die Sorge, dass das Leben bereits dabei war, an mir vorüberzuziehen. Und so entschloss ich mich dazu, mich in einen ein paar Jahre älteren Friseurmeister im Nachbarort zu verlieben.

Der hatte mir, als ich an einem dieser schlechten Tage eher zufällig in seinen Laden gestolpert war, eine traumhaft voluminöse Dauerwelle in meine müden Spaghetti-Strähnen gezaubert und dabei geduldig und voller Verständnis meinen Erzählungen gelauscht. Um mich aufzumuntern, spendierte er mir im Anschluss daran noch das „Luxus-Beauty-Paket“ mit Gesichtskosmetik, Maniküre und Tages-Make-up, und zwei Jahre später waren wir verheiratet.

Doch die Dinge liefen schlecht, und irgendwann war mein Mann weg.

Nachdem einige Zeit vergangen war und ich mich neu orientiert hatte, habe ich immer wieder versucht, einen neuen Lebenspartner zu finden. Zunächst sollte es auch ein Papa für meine Mädchen sein, doch gerade die Existenz meiner Kinder hat potentielle Interessenten oft abgeschreckt. Natürlich lernte ich weitere Männer kennen und habe mich auch immer mal wieder mit einem von ihnen eingelassen; aber bis zum heutigen Tag war nie einer dabei gewesen, mit dem eine dauerhafte Beziehung möglich gewesen wäre.

Nach dem Auszug meiner Mädchen gab ich unsere Vierzimmerwohnung am Stadtrand auf und mietete mir eine mit zwei Zimmern, einer schönen, großen Wohnküche und einem traumhaften Balkon, von der aus auch meine Töchter in nur einer Viertelstunde mit dem Auto zu erreichen sind.

Julia ist in meine Fußstapfen getreten und studiert Pädagogik, wo sie sich für die langen Tage an der Uni an ihrem Studienort, der zwei Autostunden entfernt ist, ein kleines Zimmer in einer WG gemietet hat. Ihr Mann Sven ist bereits verbeamteter Lehrer in Vollzeit, was in finanzieller Hinsicht für das Studium meiner Tochter hilfreich ist und mich somit ebenfalls entlastet.

Katharina hatte die Schule nach der zehnten Klasse verlassen und eine Lehre als Fotografin absolviert, obwohl ich zunächst nicht verstanden hatte, warum ausgerechnet sie mit ihrem analytischen Verstand nicht hatte studieren wollen. Doch die Wahl ihres Ausbildungsberufs stellte sich für meine älteste Tochter schon bald als Glücksgriff heraus:

Kathi bewies als Fotografin großes Talent, nahm schon während ihrer Lehre mehrfach an Ausstellungen teil und konnte dabei auch einige Preise einheimsen. Dadurch machte sie sich einen Namen; und als sie bereits schwanger war, bekam sie sogar das Angebot, zusätzlich zu ihrer Anstellung ein Buch mit ihren Bildern zu illustrieren. Diese Arbeit, die sie gleichermaßen mit Leidenschaft und Gewissenhaftigkeit noch vor dem Geburtstermin fertigstellte, erhöhte ihren Bekanntheitsgrad noch. Und sobald Magnus einen Kindergartenplatz bekommt, will sie so schnell wie möglich wieder in ihren Beruf zurückkehren.

Seit meine Mädchen aus dem Haus sind, bin ich nahezu süchtig danach geworden, meine Wohnung nur noch perfekt gestylt zu verlassen. Denn eines möchte ich nie wieder sein:

„Moni Mauerblümchen“!

Zeit, mich zu finden

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