Читать книгу Zeit, mich zu finden - Sabeth Ackermann - Страница 14

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Aufklärung

Mir fällt ein, wie ich meine ersten sexuellen Handlungen erlebt habe.

Das Fatale daran war ja, dass hierbei die überaus naivromantischen und –aufgrund einer entsprechenden Erziehung- völlig weltfremden Vorstellungen eines Teenagers auf den geballten Testosteronstatus junger Männer traf, die nur eines im Sinn hatten: so schnell wie möglich „zum Zug zu kommen“!

Die sexuelle Aufklärung insbesondere weiblicher Heranwachsenden in den 1960er und auch noch 1970er Jahren (von der Zeit davor will ich erst gar nicht sprechen) war katastrophal, um nicht zu sagen: fand in vielen Familien gar nicht erst statt.

Als ich aufs Gymnasium kam, drückte mir meine Mutter ein Büchlein mit der Aufforderung „Lies das!“ in die Hand. Ich war erstaunt, fand doch die Versorgung mit Lesestoff in der Regel nur an Geburtstagen und an Weihnachten statt. Die zahlreichen bunten Bände in meinem Regal beinhalteten alles, was Mädchenherzen zur damaligen Zeit höherschlagen ließ:

Internats- und Tiergeschichten, Abenteuer mit Freunden und manchmal auch Erlebnisse im Umfeld fremder Länder und Kulturen.

Eros fand hier –wenn überhaupt- in Gestalt von Schwärmereien zu Lehrern (ha, ha) statt und mündete auch nur in einem einzigen Roman direkt in eine Ehe zwischen einem Pädagogen und seiner ehemaligen Schülerin. Das war Herzschmerz genug für mich.

Jungen in meinem Alter interessierten mich nicht; eher noch ließ ich mich für die deutlich männlicheren Serienhelden im Fernsehen begeistern, die allwöchentlich heroisch in einer Phantasiewelt agierten und zum Lohn dafür ab und zu irgendeine dick geschminkte Schönheit, mit der ich mich niemals hätte messen wollen, küssen durften.

Nun hielt ich also dieses Bändchen in der Hand, dessen Titel mir andeutete, dass in ihm das Geheimnis des Kinderkriegens gelüftet werden sollte. Und so begann ich neugierig mit dem Lesen.

Ich erfuhr viel, durch schematische Zeichnungen verdeutlichtes Biologisches – unter anderem auch von dem Blut, das irgendwann auch bei mir „unten raus“ kommen würde. Aber auch Beschauliches wurde vermittelt, dass man zum Beispiel seine Mutter liebhaben sollte, weil eine Geburt so anstrengend ist und auch weh tut, und der eigene Bauchnabel einen immer daran erinnern soll. Nur das Versprechen, endlich zu erfahren, was es denn nun mit den Babys auf sich hatte, schien mir nicht eingelöst worden zu sein.

So bat ich denn meine Mutter in dieser Sache um eine Audienz, doch sie reagierte unerwartet –wenn auch nicht ungewohnt- heftig, schrie mich an, es würde doch alles in diesem Büchlein stehen und gab mir zu verstehen, dass sie von mir zu diesem Thema keinesfalls noch einmal belästigt zu werden wünschte.

Also machte ich mich ein zweites Mal über die Lektüre her und – siehe da:

An einer schattigen Stelle, eingebettet in reichlich Kontext und so beiläufig, dass man meinen konnte, es sei eher aus Versehen dort abgedruckt worden, wurde erwähnt, dass der Ehemann in einem Moment, in dem er seine Ehefrau ganz besonders liebhaben würde, sein steifes Glied in die Scheide der Frau einführen und so ein Kindlein entstehen würde.

Ich war schockiert.

Mangels weiterer mir in einer derart hochnotpeinlichen Angelegenheit geeigneter Ansprechpartner wandte ich mich erneut an den einzigen, mir in diesem Moment zur Verfügung stehenden Elternteil und erhielt die gleiche lautstarke Abfuhr wie zuvor.

So war es also wahr.

Auch wenn ich noch nicht viel von der Welt, in der ich aufwuchs, und ihrer, von Vermeidungsverhalten geprägten Bevölkerung wusste, ahnte ich instinktiv, dass meine Mutter, hätte es sich hier um ein besonders abartiges Märchen gehandelt, das sie mir aus Versehen zu lesen gegeben oder das ich mir widerrechtlich angeeignet hätte, mir eine schallende Ohrfeige verpasst hätte, und die Sache wäre aus der Welt gewesen.

Aber ihr nahezu panisches Ausweichen vor diesem Thema machte meinem hochsensiblen Nervensystem klar, dass dies tatsächlich die grausame Wahrheit war. Kinder entstanden also durch ein ekliges Zusammentreffen von Körperteilen zweier Menschen –in diesem Fall Mann und Frau- die man normalerweise niemandem, allerhöchstens dem „Onkel Doktor“ zeigen durfte, und aus denen, beziehungsweise aus deren unmittelbarer Umgebung Pipi und A-A rauskamen.

In diesem Moment hätte ich keinem Menschen, den ich kannte, eine derart ungeheure Handlungsweise zutrauen mögen! Doch als ich am folgenden Tag –noch immer völlig neben mir stehend- durch den Ort spazierte und mich ein junges Pärchen, einen Kinderwagen vor sich herschiebend, freundlich grüßte, durchfuhr es mich:

DIE hatten DAS gemacht!

Und im selben Moment wurde mir mit Schrecken klar, dass „das“ jeder, der Kinder hatte, bereits gemacht hatte; meine Mutter also insgesamt schon viermal!

Ab diesem Tag sah ich alle Erwachsenen, die mit Nachwuchs gesegnet waren, in einem anderen Licht. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass sich zwei Menschen dieser unerhörten Tätigkeit auch ohne konkreten Kinderwunsch freiwillig hingegeben hätten; und ich, die bereits im zarten Grundschulalter den Wunsch nach einer kinderreichen Familie gehabt hatte, begann, diesen fortan in Frage zu stellen.

Als ich elf Jahre alt war, trat zum Entsetzen meiner Mutter, die gerne noch zwei, drei Jahre Schonfrist gehabt hätte –am liebsten wäre ihr wahrscheinlich gewesen, es wäre überhaupt nie passiert-, die Katastrophe ein: Ich hatte meine Menarche.

Als ich auf der Toilette in meinem Slip die mir unheimliche, fast schwarze, klebrige Masse entdeckte, hatte ich entsetzliche Angst, aus Versehen in die Hose gemacht zu haben, und begann zu weinen. Meine Mutter riss die Klotür auf, erfasste mit einem Blick das Malheur, zerrte mich ins Badezimmer und wühlte hektisch in diversen Schränkchen. Ich, die bereits mit der vertrauten Tracht Prügel gerechnet hatte, guckte sie derart verständnislos an, dass sie sich bemüßigt fühlte, mich anzublaffen:

„Du hast Deine Periode bekommen!“

Es klang, als hätte ich ihr damit etwas Schlimmes angetan. Aber noch viel mehr beschäftigte mich, dass ich zwischen dieser nahezu pechschwarzen Masse in meinem Slip und einer, in dem unglückseligen Büchlein beschriebenen „monatlichen Blutung“ –und meines Wissens war Blut hellrot- keine Verbindung herstellen konnte.

Doch der Gesichtsausdruck meiner Mutter machte mir klar, dass weitere Fragen meinerseits mir eher zu Ungunsten gereichen würden, weswegen ich –wie so oftmeinen Mund hielt.

Und so hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, ob ich wohl zu viel gehüpft war -meine bevorzugte werktägliche Fortbewegungsart von der Schulbushaltestelle nach Hause- und damit die vermeintliche Blutung ausgelöst haben könnte.

Meine Mutter ahnte nichts von meinen Gedanken und wühlte weiter in allen Badezimmerschränkchen herum, bis sie sich plötzlich mit grimmig triumphierendem Gesichtsausdruck aufrichtete; ein „Etwas“ in der Hand schwenkend.

Dieses „Etwas“ bestand aus einem fleischfarbenen, etwa drei Zentimeter breiten, zusammengenähten Gummiband, an dem sich zwei gegenüberliegende, je etwa zehn Zentimeter lange lose Bänder aus dem gleichen Material befanden, an deren Ende jeweils ein metallener Straps angenäht war.

Harsch wies sie mich an, meine ohnehin verschmierten Hosen auszuziehen, und streifte mir dann das Gummiding bis hoch in meine Taille. Dann holte sie eine Papierverpackung aus einem anderen Badezimmerschränkchen und entnahm ihr ein weiteres komisches Ding. Dieses war ein zu einer Art Schlauch zusammengenähtes Netz, in dessen Mitte sich etwas befand, das wie gepresste Watte aussah. Diesen Mittelteil drückte mir meine Mutter zwischen meine Beine und zog dann die beiden langen Enden des Netzes, in denen sich keine Watte befand, durch die Strapse, wo sie sie energisch festzurrte. Schließlich holte sie eine frische Unterhose und Hose für mich aus dem Kinderzimmer und ließ mich beides anziehen.

Ich tat ein paar Schritte und fühlte mich grauenhaft!

Das Gummiband drückte, nachdem sie es mithilfe einer Sicherheitsnadel meinem geringen Körperumfang angepasst hatte, unangenehm in mein Fleisch, und die Metallstrapse taten aufgrund der straffen Befestigung das Gleiche. Die Watte in dem Netz erwies sich als nicht formstabil und bildete bald einen feuchten Klumpen, der mich beim Laufen massiv störte und in mir die Angst schürte, er könnte sich –für alle Welt sichtbardurch meine Kleidung drücken.

Und der harte Faden, aus dem das Netz bestand, schnitt an den Stellen, an denen die Watte verrutscht war, unangenehm in meine Haut.

Schnell wurde mir klar, dass die Funktion dieser Konstruktion nicht alleine der Absorption unliebsamer Körperflüssigkeiten, sondern vor allem als sanktionierende Maßnahme dafür diente, dass ich meiner Mutter ganz offensichtlich weiteren Unbill zugefügt hatte. Dieses Erlebnis hatte nichts mit dem zu tun, was in dem Büchlein so salbungsvoll beschrieben worden war. Vielmehr glaubte ich, dass irgendein Fehlverhalten meinerseits etwas in meinem Körper ausgelöst hatte, das, wenn ich in nächster Zeit meiner Mutter einfach keine Sorgen mehr machen würde, genauso schnell wieder verschwinden würde, wie es gekommen war.

Da ich jeden Tag weite Strecken in der Öffentlichkeit zum Bus laufen musste und auch meine Schule endlose Gänge und Treppen hatte, litt ich in den folgenden Monaten während meiner Periode, die sich all meinen – und höchstwahrscheinlich auch denen meiner Mutteranders gerichteten Wünschen zum Trotz alsbald mit vorbildlicher Regelmäßigkeit eingependelt hatte, Höllenqualen; zum einen, weil das Tragen dieses –einem Keuschheitsgürtel nicht unähnlichen- Geräts extrem unangenehm war und zum zweiten, weil ich Angst hatte, in eine peinliche Situation zu geraten.

Die ließ auch nicht lange auf sich warten.

Meine Sportlehrerin, die mir, die ich aufgrund meines zarten Körperbaus und meiner ebensolchen Gesichtszüge noch jünger aussah, als ich es ohnehin schon war, die frühe Reife nicht abnahm (an eine entsprechende Entschuldigung hatten weder meine Mutter noch ich gedacht, und in den ersten Monaten waren die „Tage“ auch tatsächlich nie auf den Sporttag gefallen), wollte mich zwingen, an der unbeliebten Doppelstunde teilzunehmen. All mein Flehen nützte nichts, und ich begann, mich in der muffigen Kabine zu entkleiden.

Als ich meine Hose und meinen Pulli ausgezogen hatte, schaute der Gummigürtel vorwitzig oben aus meinem Slip, während sich der Watteklumpen vertraut unschön und völlig asymmetrisch darunter abzeichnete.

Eine Sekunde lang war es um mich herum plötzlich totenstill, bis schlagartig das ohrenbetäubende Geschrei und Gelächter von zwei Dutzend Mädchen einsetzte.

Ich saß auf der Holzbank, hielt meine Hände vor meinen Schritt und begann, verzweifelt zu schluchzen.

Nur Sekunden später stand, vom Lärm aufgeschreckt und Schlimmes befürchtend, unsere Unterstufensportlehrerin Frau Jakobi in der Tür.

Ihr strenger Blick richtete sich auf das Epizentrum des Lärms, was genügte, um die außer Rand und Band geratene Menge zu teilen. Und so schritt sie würdevoll, wie weiland Jesus, vor dem das Meer zur Seite gewichen war, über den so entstandenen Weg bis hin zu dem armseligen Haufen, der, völlig eingeschüchtert, unmittelbar davorstand, mit der Bank zu verschmelzen. Mit einem Blick schien sie die Situation zu erfassen, wandte sich der geifernden Menge zu und befahl ruhig und mit eiskalter Stimme:

„Fünf Runden Dauerlauf durch die ganze Halle, und wer aus der Reihe tanzt, wenn ich in die zurückkomme, sitzt heute Nachmittag vier Stunden nach!“

Nachdem die derart ruhiggestellte Meute verschwunden war, zog sie ihr Notenbüchlein samt dazugehörigem Stift aus der Tasche ihrer Trainingsjacke, fragte noch einmal nach meinem Namen und machte sich einige Notizen.

Dann schaute sie mich an und meinte mit etwas versöhnlicherer Stimme:

„Zieh dich wieder an und warte hier kurz auf mich.“ Nach einer Minute war sie wieder da, eine bereits geöffnete Plastikverpackung in der Hand. Dieser entnahm sie ein weißes, flaches Ding und drehte es um.

„Das da ist eine Binde, die bequemer ist als deine“, sagte sie. Du ziehst diesen Papierstreifen hier ab, und dann kannst du sie in deine Unterhose kleben. Den rosafarbenen Gürtel brauchst du dann nicht mehr. – Hast du mich verstanden?“

Ich nickte wortlos, woraufhin sie mir das Ding überreichte. „Die Packung kannst du behalten. Deine Mutter soll dir in Zukunft nur noch solche Binden kaufen; ich werde ihr nachher einen Brief schicken“, fuhr sie fort. „Verwahr sie gleich in deinem Turnbeutel, und dann gehst du auf die Toilette.

Die benutzte Binde steckst du erst in eine der Papiertüten, die an der Tür hängen, und dann in den Mülleimer. Dann ziehst du dich wieder an und setzt dich in der Turnhalle auf die Bank.“

Ich tat, wie mir geheißen. Selten habe ich in meinem Schülerleben derart gerne die dominant vorgetragenen Anweisungen einer Sportlehrerin befolgt wie in diesem Moment.

Zu meinem Erstaunen bekam ich zukünftig weder von meinen Klassenkameradinnen noch –und das verwunderte mich weitaus mehr- von meiner Mutter jemals wieder etwas in dieser Angelegenheit zu hören.

Fortan befand sich in unserem Badezimmerschrank immer mindestens eine volle Packung mit Klebestreifen-Binden; und fleischfarbenen Gummigürteln oder Wattenetzen bin ich nie wieder begegnet.

Wenn Turnunterricht und „Tage“ zusammenfielen, sprach ich kurz bei meiner „Retterin in der Not“ vor, worauf sie etwas in ihr Büchlein kritzelte, und ich mich dann ganz entspannt auf der Holzbank in der Turnhalle niederlassen und meinen Klassenkameradinnen bei ihren schweißtreibenden Küren zuschauen konnte.

Nur langsam gesellte sich in den folgenden Monaten die eine oder andere auf der Bank der Privilegierten dazu, und wir genossen die neidischen Blicke der Mädchen, denen das Erwachsenwerden bisher versagt geblieben war, auch wenn die teilweise schon Nylonstrümpfe unter ihren weißen Kniestrümpfen tragen durften.

Und mit diesem neu erwachten fraulichen Selbstbewusstsein gelang es mir in der Folgezeit mehr und mehr, die lästigen Begleiterscheinungen meiner monatlichen „Ausnahmesituation“ zu akzeptieren.

Zeit, mich zu finden

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