Читать книгу Zeit, mich zu finden - Sabeth Ackermann - Страница 6

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Ankunft

Ich spürte sofort, dass etwas anders war als sonst; etwas, das mich zutiefst beunruhigte.

In meinem Bett, in dem ich vor einiger Zeit das Fuß- mit dem Kopfende vertauscht hatte, weil es mir dann doch bequemer erschienen war, war es eben noch kuschlig wie immer gewesen; doch plötzlich vermeinte ich eine Art Erdbeben zu verspüren.

Meine Zimmerwände bewegten sich auf mich zu und begannen, mein kleines Nest zusammenzudrücken; das konnte nur ein Albtraum sein!

Ich war nicht in der Lage zu schreien, aber ich spürte, wie Adrenalin meinen Körper durchflutete; und jetzt war ich hellwach!

Da – schon wieder ein Beben; schon wieder der Druck, den auch mein Bettnestchen kaum noch abmildern konnte. Nein, das war kein Traum – ich kannte meine Träume! Sie waren Kompositionen aus all den Sinneseindrücken, mit denen ich meine Umwelt wahrnahm; alles, was ich sehen, hören, schmecken und fühlen konnte. Ich bevorzugte die leisen, in denen ich sanfte Stimmen und melodische Töne vernahm; und der Geschmack von Süßem passte perfekt dazu. Diese Elemente formierten sich, wenn ich schlief, zu wunderbaren, kleinen Begebenheiten in einer surrealen, zartrosa schimmernden Parallelwelt.

Doch da gab es auch noch die, die ich überhaupt nicht mochte, solche mit lauten Geräuschen und heftig hämmernden Schlägen, die mir großes Unbehagen bereiteten, und bei denen ich einen Geschmack im Mund verspürte, den ich so gar nicht liebte.

Auf einmal fiel das bekannte rosafarbene Licht in mein Zimmer, in dem es gerade eben noch dunkel gewesen war, und ich hörte von draußen die Stimme meiner Mutter panisch schreien: „Wir müssen jetzt sofort los!“

Mein Vater antwortete etwas, das ich nicht genau verstehen konnte. Es sollte wohl beruhigend klingen, aber dabei hatte seine Stimme eine so unnatürliche Tonlage, dass mir sofort klar wurde, dass auch er in Wirklichkeit Angst hatte. Und wenn schon mein Vater Angst hatte, dann hatte ich wahrhaftig allen Grund, mir selbst die größten Sorgen zu machen!

Draußen wurde es immer hektischer, und ständig musste ich neue Beben über mich ergehen lassen!

Dann wurde es schlagartig noch heller, und ich vernahm Stimmen, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Obwohl ich von meinem gewohnten Biorhythmus her jetzt eigentlich tief und entspannt hätte schlafen können, war ich wegen dieser ungewohnten und unheimlichen Vorkommnisse so wach und aufgeregt wie niemals zuvor in meinem Leben.

Auf einmal vernahm ich ein merkwürdiges Geräusch, und meine warme Decke entglitt mir. Dann gab es einen Ruck, und ich rutschte ganz an den unteren Bettrand, während mich zusätzlich ein weiteres Beben mit Macht dagegen drückte.

Das war sehr unangenehm, aber ich konnte mich dieser ungeheuren Kraft nicht entziehen.

Da bemerkte ich am Bettende eine Öffnung, die immer größer wurde. Wieder und wieder wurde ich mit meiner Stirn dagegen gepresst; überhaupt kam Druck von allen Seiten. Auf einmal schoben sich erst mein Kopf und dann mein Körper hindurch, und ich bemühte mich, meinen Kopf so zu bewegen, dass er dabei möglichst keinen Schaden nahm. Nachdem ich das geschafft hatte, glaubte ich, dass jetzt alles vorbei wäre.

Doch da rollte bereits die nächste Erdbebenwelle heran und kurz darauf eine weitere.

Jedes Mal, wenn ich eine solche Welle spürte, wurde ich erneut gegen einen Widerstand gepresst. Dann verlangsamte sich mein Herzschlag, und meine Mutter gab Geräusche von sich, die ich noch nie von ihr gehört hatte – eine Mischung aus Schreien, Wimmern und Stöhnen. All das machte mich fast verrückt vor Angst!

Plötzlich bemerkte ich selbst durch meine geschlossenen Augenlider eine ungewohnte Helligkeit.

Gleich darauf war es wieder dunkel, und weiterer Druck wurde auf mich ausgeübt - würde das denn nie aufhören? Doch schon drang erneut Licht zu mir, und jemand packte mich sehr unsanft erst am Kopf, dann nacheinander an beiden Schultern und zog mich so hinaus in eine helle Kälte. Ich hatte es geliebt, zu sein; aber jetzt fror ich und konnte die Helligkeit und die ungewohnt hohen und lauten Geräusche kaum ertragen. Vorsichtig öffnete ich meine Augen.

Das erste Gesicht, das ich in meinem Leben erblickte, hatte einen furchteinflößenden Ausdruck und gehörte zu der Frau, die mich noch immer festhielt. In unfreundlichem Ton sagte sie laut: „Sie atmet nicht!“

Natürlich atmete ich nicht!

Ich war bisher hervorragend ohne jedwede Atmerei zurechtgekommen und sah überhaupt keinen Grund darin, jetzt auf einmal damit anfangen zu wollen. Ohnehin wollte ich endlich wieder nach Hause zurück - dorthin, wo alles dämmriger, wärmer, leiser und sanfter war, wo es gluckerte und im Rhythmus rauschte und es niemanden kümmerte, ob man atmete oder nicht.

Hier würde ich auf jeden Fall nicht bleiben!

Doch schon stand ein Mann in einem weißen Kittel da und hob mich an den Füßen hoch; und als ich nun in dieser entwürdigenden Position hing und das Gefühl hatte, mein Kopf könnte jeden Moment platzen, schlug er mir mit seiner flachen Hand auf meinen nackten Po.

Ich war entsetzt und gedemütigt, und mein zart behäutetes Hinterteil brannte. Und so tat ich unfreiwillig doch den ersten Atemzug meines Lebens in einer mir unbekannten und wenig verheißungsvoll erscheinenden Welt, um meine Empörung und meinen Protest ob dieser schlechten Behandlung herausschreien zu können.

Mit zufriedenem Gesichtsausdruck wandte sich der Weißbekittelte von mir ab und rief jemandem, der sich hinter mir befand, zu:

„Herzlichen Glückwunsch, Frau Blum, Sie haben ein Mädchen.“

Zeit, mich zu finden

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