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MARIE

#schwarz

Der Artikel war nicht fertig. Erst hatte sie sich nicht entscheiden können, das Thema überhaupt anzugehen, dann hatte sie keinen Abnehmer für das Exposé gefunden. Ins Blaue hinein zu schreiben, fiel ihr immer noch schwer. Lieber hätte sie im Austausch mit Kollegen Themenhefte konzipiert, im grellen Licht der Großraumredaktion unausgereifte Artikel von Nachwuchsautorinnen optimiert oder sich über die spitzen Anmerkungen der Chefredakteurin in ihrem Lieblingsartikel echauffiert. Lieblingstext war stets der, an dem sie gerade arbeitete. Sie brauchte den Austausch darüber, wie aus einer Idee ein Text, eine Serie, ein Heft entstehen sollte. Doch nach der Umstrukturierung der Redaktion stand sie auf der Straße. Feste Freie durfte sie sich nennen. Ein Euphemismus. Ein Zugeständnis an ihre langjährige erfolgreiche Arbeit, hatte die smarte neue Redaktionsleitung geschmeichelt. Denn selbst bei den Freien wurde der Reihe nach das »fest« gestrichen. Aus heiterem Himmel war sie beim alten Eisen gelandet, welche Schmach! »Freie« war sie kurz nach dem Studium gewesen, immer in der Hoffnung, nach der nächsten Weiterbildung, dem nächsten Praktikum fest angestellt zu werden. Auf das »fest« nach dem Rauswurf konnte sie sich ein Ei backen.

Schon lange liebäugelte sie damit, wieder einmal etwas zu Lateinamerika zu machen, ihr altes Leib-und-Magen-Thema. Revolución! Libertad! Doch was war aus den einstigen Volksbewegungen geworden, wohin war es mit Ortega in Nicaragua gekommen! Wer aktuell in El Salvador an der Macht war, wusste sie nicht einmal. Morales und Lula schienen Leuchttürme zu sein, doch selbst ihr Licht war blass gegen das Strahlen der hoffnungsvollen Frentes in den Siebzigern und frühen Achtzigern. Als es nun in Brasilien gärte und Bürger auf die Straße strömten, denen es relativ gut ging, rieb Marie sich verwundert die Augen. Sie zögerte zu lange, den Impuls, schreibend Hintergründe zu erkunden, in die Tat umzusetzen. Als sie erfuhr, dass es nicht die Armen waren, die dort aufbegehrten, suchte sie nach Parallelen in Wohlstandsgesellschaften: Besitzstandswahrung als Motivation für revolutionäre Umtriebe? Zäh tröpfelten zu wenige Gedanken in die Tastatur. Zum xten Mal las sie die drei, vier Zeilen. Und kam nicht darüber hinaus.

Wie so oft in jüngster Zeit, wenn die Konzentration zu wünschen übrigließ, loggte sie sich bei Facebook ein. Sie gehörte zu der schweigenden Mehrheit, die verfolgte, was andere posteten, und, der Gipfel an Aktivität, hin und wieder auf »gefällt mir« klickte. Schreiben war ihr Beruf, ihre Leidenschaft, Schreiben hatte seine eigene Ethik, die für sie unvereinbar mit dem Buchstabengeblubber in den sozialen Medien war, außerdem war der Datenschutz in der glitzernden www-Schwabbelwelt völlig ungeklärt.

Ein türkischer Teilnehmer aus dem letzten Workshop hatte ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt. Creative Writing für Migranten. Nett war das gewesen, hatte auch etwas Geld gebracht, aber auf Dauer brauchte sie wieder einen festen Job. Sie war nicht der Typ für ein ungewisses Freiberuflerdasein. Ohne das regelmäßige Sprechergehalt ihres Mannes auf dem gemeinsamen Konto hätten die drei Monate Arbeitslosigkeit ihr den letzten Nerv geraubt. »DINKS«, hatte Manfred irgendwann einmal hinter seiner Morgenzeitung gebrummelt und kurz aufgelacht. Bitte? »Double Income No Kids.« Sie hatte nicht einmal grinsen können. Ja, sie galten wohl als gesettled. Ein ruhiges gleichförmiges Leben in einer Partnerschaft auf Augenhöhe. Den Kinderwunsch hatte sie nach all den vergeblichen Versuchen erfolgreich verdrängt, die Nörgelei der Mutter nach Enkeln hatte die Kluft zum Elternhaus weiter vertieft.

Sie nahm die Facebookfreundschaftsanfrage an. Posts blitzten auf. »Ethem’i öldürdüler! Sinsi Katiller!« Was mochte das heißen?

*

»Das ist sein Ende, in spätestens einer Woche ist der Mann weg!« Sie drehte sich um. Der junge Mann, der das gesagt hatte, grinste, als er ihren fragenden Blick sah. »Erdoğan, der türkische Ministerpräsident. Sie werden sehen, wie die Leute im Gezi-Park den wegpusten!«

»Schschsch! Ruhe!«, zischelte es links und rechts im Publikum des Vortrags.

Marie hob erstaunt die Augenbrauen. Ihrer Erfahrung nach geschahen Revolutionen nicht über Nacht. Gut dreißig Jahre war es her, dass sie Spanisch gelernt hatte, um sich der Revolution in Nicaragua anzuschließen. Sweet Sixteen, voller Enthusiasmus und Tatendrang war sie gewesen. Wo waren all die Träume von damals nur hin? Sie lächelte traurig und schüttelte den Kopf.

»Glauben Sie mir, was da abgeht, ist nicht zu stoppen!« Der junge Mann in der Reihe hinter ihr konnte nicht ahnen, dass ihr Bedauern nicht ihm galt, sondern dem eigenen Pessimismus. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Wie gern wollte sie daran glauben. Doch Optimismus schien ein fremdes, der Jugend vorbehaltenes Wesen, das sich mit den Jahren verflüchtigte. Auch dieses Mal erwies sich ihr Pessimismus als Realismus. Weit mehr als die beschworene »eine Woche« war seither verstrichen, doch der türkische Premier schien fester im Sattel zu sitzen denn je.

*

Und nun war in Ankara ein junger Mann gestorben, den zwei Tage zuvor bei den Protesten eine Polizeikugel in den Kopf getroffen hatte. Ethem hieß er, mit einem unaussprechlichen Nachnamen. Erschossen. Marie musste an Romero denken, den Pfarrer und Bischof, der sich so spät erst für das Volk entschieden hatte, bald zu einer der wichtigsten Stimmen der revolutionären Bewegung in El Salvador geworden war, dann streckte ihn, mitten im Gottesdienst, eine Kugel nieder. Vermutlich von den Contras, von mehr oder weniger offiziellen paramilitärischen Einheiten, die die Drecksarbeit für die Regierung erledigten. Sie war damals sechzehn gewesen. Und dieser Ethem in der Türkei? Sechsundzwanzig!

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