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LEA

#direngezi

Am zweiten Abend ging sie mit Tayfun, als er sich auf Spraytour machte. Er führte sie nach Karaköy, erst den Yüksek Kaldırım hinunter bis zum Galataturm, dann mitten hinein in das kultige Hafenviertel. Die ganze Stadt schien im Umbruch zu sein, Baustellen an allen Ecken und Enden.

»Hier haben sie wahnsinnig viel abgerissen und durch moderne Neubauten ersetzt«, erklärte Tayfun. »Aber wir retten, was zu retten ist.«

»Wir?«, fragte Lea konsterniert. »Wer ist wir? Ich wusste nicht, dass du für eine Organisation arbeitest.«

»Quatsch! Für Vereine bin ich nicht geschaffen.« Tayfun grinste. »Wir sind alle. Also alle, die etwas verändern wollen, die nicht hinnehmen, was uns aufgezwungen wird.«

»Die leben wollen, statt dahinzuvegetieren«, stieg Lea auf seinen Diskurs ein.

»Genau!«

Diese Lebensart hatte Lea im Park so intensiv gespürt wie nie.

»Aber Gezi ist nicht der Auslöser«, gab Tayfun zu bedenken, »Gezi ist nur der Schmelztiegel, der uns alle an einem Punkt zusammengebracht hat.«

»Und was wird nach Gezi sein?«

»Taksim ist überall!« Tayfun wischte ihre Sorge mit dem gängigen Slogan beiseite. Sie wunderte sich selbst, dass die Frage nach dem Danach sie immer dann überfiel, wenn sie den Park verließ. »Weiter so! Wir bleiben hier! Der Widerstand geht weiter!«, lautete die feste Überzeugung aller im Park. Nichts war mehr wie zuvor und nichts würde den mächtigen Sprung, den die Gesellschaft in den vergangenen zwei Wochen nach vorn gemacht hatte, je wieder ungeschehen machen können.

An einer Mauer übermalte eine Frau einen Spruch. Lea blieb stehen, versuchte die verbliebenen Buchstaben zu entziffern.

»Sind leider auch dumme sexistische Sprüche dabei«, erklärte ein Mädchen mit wippendem Pferdeschwanz, als sie Leas fragenden Blick sah. »Viele Männer finden so was lustig. Aber wir wollen keinen Sexismus!« Sie deutete auf mehrere Flecken an der Mauer. Ein vermummtes Mädchen, die große Blumen auf die grau übertünchten Stellen sprayte, drehte sich um und rief: »Sollen sie Tayyip verfluchen, aber doch nicht auf dieser Ebene! Unser Kampf fängt gerade erst an. In den Köpfen muss noch so viel passieren …«

Da kam Tayfun angesprungen, griff nach Leas Arm. »Komm! Schnell!«

»Aber ich rede gerade …«

»Später. Komm jetzt! Es geht los!«

Erst da wurde Lea gewahr, dass die fröhliche Aufregung ringsum angespannter Unruhe wich. Die Feministinnen malten weiter, aber vor den Bars und Cafés wurden hektisch Hocker und Tische gestapelt, Leute hasteten bald zielstrebig, bald kopflos umher. Und jetzt hörte sie auch die Polizeisirenen.

»Die räumen!«

Sie liefen durch Rauch und Tränengasnebel, doch Taksim-Platz und Gezi-Park waren weiträumig abgesperrt. Tayfun wurde panisch, er wollte unbedingt hin. Die Freunde, die Zelte! Sie schafften es bis zur Istiklâl-Straße. Leute rannten, Wasserwerfer rollten, Reizgasgranaten flogen in die eine, Steine und Flaschen in die andere Richtung.

Bald konnte Lea nicht mehr. Sie keuchte, hustete, das Atmen fiel ihr immer schwerer. Ich bin ihm ohnehin nur ein Klotz am Bein, dachte sie traurig. Doch wo sollte sie hin?

»Zieh die Maske vors Gesicht!«

Sie kniff die Augen zusammen, konnte kaum noch gucken. Dichter Nebel waberte durch die breite Straße. Wieder musste sie husten.

»Geht’s noch?«, fragte Tayfun, bestimmt schon zum zehnten Mal. Benommen schüttelte sie den Kopf. Er verstand sofort, hakte sie unter, zog sie zur Seite. Gerade noch rechtzeitig. Zwanzig, vielleicht dreißig junge Leute, T-Shirts, Tücher, Arme vor dem Gesicht, stürmten den Boulevard zum Tünel hinunter. Ein Wasserwerfer verfolgte die Gruppe, spritzte sorgfältig die gesamte Straßenbreite ab, von rechts nach links und wieder zurück, immer wieder.

»Kopf runter, dreh dich um!«

Doch es war zu spät. Lea sackte zusammen. Ihre Augen brannten wie Feuer. Tayfun hockte neben ihr, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Sie weinte.

»Ich bin blind!«

»Ach was, Tränen sind gut!«, sagte eine fremde Stimme. Eine Frau. Lea fühlte Hände auf dem Gesicht, jemand zog ihr die Maske herunter, wischte über ihre Wange und sprayte ihr etwas auf die Augen. »Talcid, sei froh, dass ich noch welches hab. Mach mal die Augen auf.«

»Ich kann nicht!«, schluchzte Lea auf.

»Kein Ding, wir helfen dir.« Tayfuns Stimme. Lea fühlte, wie zwei Personen sie unterhakten und auf die Beine stellten. Trotz aller Mühe bekam sie die Augen nur einen winzigen Spalt breit auf, sah aber nichts.

»Ich bin blind, ich kann nichts sehen!«

Ein Blitz fuhr ihr ins Gesicht.

»Kein Foto!« Tayfun. »Nicht filmen!«

»Deutsche Presse«, rief eine Männerstimme.

»Wenn das öffentlich wird, sind wir dran.« Tayfun.

»Die haben uns sowieso längst alle im Visier.« Die Frau zog an Leas Arm. »Komm, wir müssen von der Istiklâl runter!«

Sie führten Lea, die sich noch immer nicht traute, die brennenden Augen zu öffnen, in eine Seitengasse. Lea konnte kaum atmen und musste immer wieder husten, aber der Schmerz in den Augen ließ nach.

»Geht’s wieder?«, fragte die Frau. Lea nickte. »Okay, ich muss weiter«, rief die Frau und sprang durch den Nebel davon.

Wenige Schritte weiter stieß Tayfun eine Tür auf. Lea konnte Licht und Schemen ausmachen. Offenbar herrschte drinnen großes Gedränge.

»Abi!«, rief Tayfun und drängelte Richtung Tresen, etliche Männer drehten den Kopf. »Demir Abi!« Ein älterer Mann mit Kahlkopf aber umso längerem Bart löste sich von der umlagerten Theke.

»Abi, das ist Ti, sie hat was abgekriegt, pass auf sie auf, bitte!« In Windeseile drückte Tayfun Lea einen Kuss auf die Stirn und war schon wieder zur Tür hinaus.

Lea spürte eine Hand auf dem Arm.

»Keine Sorge, der kommt schon wieder«, beruhigte sie der Alte und führte sie an einen Tisch weit hinten an der Wand. Bestimmt zehn Frauen jeden Alters hockten hier zusammen, tranken, aßen, vor allem aber redeten sie. »Rückt mal, Ladys!«, hätte Demir gar nicht zu sagen brauchen. Stühle waren nicht mehr frei, aber zwei Mädchen überließen Lea je die Hälfte ihrer Plätze.

»Are you okay?«

»Geht schon wieder«, antwortete Lea auf Türkisch und versuchte ein Lächeln, auch wenn sie noch blinzelte.

»Trockne dich erstmal ab, Kleine!« Demir stand mit einem Handtuch hinter ihr. Eine ältere Frau mit einem widerspenstigen blaugesträhnten, grauen Haarschopf griff danach und rubbelte Lea den Kopf ab.

»Hat jemand ein trockenes T-Shirt dabei?«, rief sie in die Runde. Erst da merkte Lea, wie nass sie war. Und das war kein Schweiß, obwohl die Nacht warm war.

»Nicht nötig«, murmelte Lea und kämpfte gegen den Kloß im Hals. Doch die Ältere zog ihr resolut die nasse Hemdbluse über den Kopf und ein weites frisches Shirt an. Lea brach in Tränen aus. Jetzt, wo alles vorbei war. Die Frau nahm sie fest in den Arm.

»Alles gut. Du bist hier sicher.«

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