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LEA

#bellaciao

Zu spät! Sie hätte sich viel früher aufmachen sollen. Lea schloss die Augen. Sie würde ihr Leben verpassen! Immer kam sie zu spät! Lamento! Sie schluckte, um nicht zu weinen.

Der Bus brummte, aus den Lautsprechern quoll Rap, sie verstand kein Wort, vor ihr dröhnten Bässe aus den Ohrstöpseln eines Freaks, der sicher noch nie irgendwohin zu spät gekommen war, obwohl er gar nicht zielstrebig wirkte. Lea blinzelte. Özlem, das Mädchen neben ihr, wischte hektisch über ihr Smartphone. Aufgeregt wirkte sie, eben noch hatte sie gelächelt, jetzt durchzogen steile Falten ihre Stirn. Da musste Lea grinsen, Özlem schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Heftig!«, murmelte sie empört. »Jetzt verhaften sie die Ärzte!«

Lea hatte ihre deutsche Studiengruppe in Izmir sitzen lassen, Özlem, die fünf Jahre jüngere Medizinstudentin, sich heimlich aus dem Wohnheim davongestohlen. Beide waren seit Tagen in Izmir auf der Straße und abends in den Parks dabei gewesen, wollten aber da sein, wo alles seinen Ausgang genommen hatte: im Gezi-Park in Istanbul! Allein trauten sich beide nicht so recht, in diesen ungewissen Tagen, die morgens die Revolution versprachen und abends Polizeieinsätze brachten, den Weg in die unbekannte Metropole zu wagen. Auch wenn stündlich Millionen dorthin zu strömen schienen und anscheinend jeder mit offenen Armen aufgenommen wurde. Leas Gruppe war begeistert mitmarschiert bei den Izmirer Protesten, man fotografierte, führte Stegreif-Interviews, postete, was das Zeug hielt, saß abends zusammen und genoss die unerwartete Wende der zweiwöchigen Studienreise wie ein willkommenes Abenteuer. Die Professorin war aufgeschlossen, doch für sie stand die Fortführung des Projekts im Vordergrund. Lea aber mochte nicht die Rolle der Betrachterin von außen einnehmen, sie fühlte sich zugehörig, sozialer Aufbruch war für sie mehr als ein Studienobjekt.

Jubelnde Menschen im Park, aber auch prügelnde Polizisten, Verletzte, singende Jugendgruppen, Mädchen, die von Reizgas benommene Straßenköter versorgten, tanzende, lachende, feiernde Menschen, die plötzlich schreiend auseinanderliefen, Gummigeschosse, Tränengas­nebel … Die Bilder der letzten Tage wirbelten Lea durch den Kopf.

»İşte bir sabah …« Träumte sie? »… uyandığımda …«

Die nächste Zeile summte sie mit: »Bella ciao, bella ciao, bella ciao ciao ciao …«

Als Lea die Augen aufschlug, sah sie Özlem ein Video auf Twitter verfolgen und mitsingen. Der Freak vorn zog die Stöpsel aus den Ohren und stieg bei der nächsten Strophe mit ein. Hinten, wo lautstark diskutiert worden war, wurde es still, und bei der dritten Strophe sang der ganze Bus: »Wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, oh bella ciao …« Das alte Partisanenlied wirkte frisch und wie für die Gezi-Proteste geschrieben. Die meisten jungen Leute im Bus fuhren nach Istanbul, um sich den Protesten anzuschließen. Und die Bereitschaft, für die hehren Ideale sogar den Tod in Kauf zu nehmen, gehörte einfach dazu. Gegen diesen Gedanken sträubte sich etwas in Leas Kopf, aber ihr Herz glühte. Hatte jemand etwas von Zuspätkommen gesagt? Ach was! Sie war mittendrin und genau am richtigen Ort.

Als sie lächelnd die Augen schloss, blitzte das Gesicht ihres Vaters auf. Bella ciao hatte ihn herbeigerufen. Auf seinen Kassetten hatte sie die türkische Version zum ersten Mal gehört. Baba. Wo mochte er sein? Wie lange hatte sie nichts von ihm gehört?

»Diese Blume, so sagen alle …«, summte Lea, als sie aus dem Bus stieg, es war kurz vor Mitternacht, »… ist die Blume des Partisanen, der für uns’re Freiheit LEBT!« Erstaunt blickten die Mitreisenden sie an, das letzte Wort hatte sie laut gerufen, auf Deutsch. Die Blume des Partisanen, das war ein Bild nach ihrem Geschmack. Und sterben wollte sie auf keinen Fall, und sie wollte auch nicht, dass irgendein Partisan oder sonst wer starb. Darum ging es doch: Protestieren für das Leben!

Lichtblau

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