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IMKE

#tagetes

Nie wieder würde sie Mitte Mai in Urlaub fahren. Wer einen Garten hat, bleibt von April bis Juni zu Hause, das hatte sie Dieter gleich gesagt. Wütend wühlte Imke in der Erde. Knochentrocken. Der Rosendünger aber brauchte Feuchtigkeit, Bodenfeuchtigkeit. Sachte die Erde lockern, nachgießen, leicht düngen, sie würde das wiederholen müssen. In drei Wochen Versäumtes war nicht an einem Tag nachzuholen, da konnte sie sich noch so abmühen.

Noch spät am Abend gestern, Dieter holte die Koffer aus dem Auto, war sie mit der Gießkanne durch den Garten gelaufen, hatte hier gegossen, da welke Blätter abgeknipst, soweit sie in der Dämmerung noch zu erkennen waren. Mit der Gartenschere in der Hand drängte sie Dieter, kaum stand das Gepäck im Flur, den Rasensprenger anzustellen. Ja, jetzt sofort, wenn morgen wieder die Sonne draufknallt, ist er am Abend verbrannt. Im Mai durfte ein Garten nicht wochenlang brachliegen. Sie zwinkerte die Tränen weg. All die Mühe aus dem Frühjahr dahin. Die schönste Blüte hatte sie verpasst, das war schon schlimm genug, doch jetzt war innerhalb weniger Tage so vieles zurückzuschneiden, zu stutzen, zu leiten, auszuputzen, damit der Garten in Form blieb, damit die Stauden, ihr ganzer Stolz, im Spätsommer zur zweiten Blüte kamen. Der Phlox schoss schon ins Kraut, die Kletterer hatten heftig getrieben, die schweren Ritterspornblüten hingen, die Hälfte war abgeknickt, da war nicht viel zu retten. Wo sie hinschaute Wildwuchs, Welken, Verwilderung. Nur die Tagetes reckten ihr dankbar die dichten Puschelköpfe entgegen. Die geliebte Clematis war verblüht, rasch die Fruchtstände herausschneiden, aber nein, erst den Rosendünger ausbringen! Vom Unkraut gar nicht erst zu reden!

Gut drei Wochen waren sie unterwegs gewesen, neunzehn Tage Rundreise auf der Seidenstraße, ein Traum, und auf der Rückfahrt noch das verlängerte Wochenende bei Dieters Schwester Elke in Frankfurt. Ewig hatten sie sich nicht gesehen, es war dann auch schön gewesen, nur schade, dass Dieter die Urlaubsbilder noch nicht sortiert hatte. Seit er digital fotografierte, drückte er viel zu oft auf den Auslöser. Wie stolz war Dieter früher auf seine wunderschönen Fotos gewesen! Er war zu sehr Techniker, als dass er sich als Künstler gesehen hätte, aber für sie waren seine Fotografien Kunst. Beim improvisierten Fotoabend auf dem Computer des Schwagers in Frankfurt war davon nicht viel zu sehen. Zwei Stunden hatte Dieter sich Zeit genommen, um den wilden Bilderwust vorzeigbar zu machen, dennoch war das Zuschauen dann eher Strapaze als Vergnügen gewesen. Elke und der Schwager nahmen es gelassen und schenkten Wein nach. Nur Imke hatte sich aufgeregt. »Du hast immer auf Klasse statt Masse gesetzt«, hielt sie Dieter am späten Abend im Hotelzimmer vor, »wie kannst du dich mit diesem wüsten Durcheinander zufrieden geben!«

Die misslungene Fotoshow war nicht der einzige Missklang geblieben. Elke und ihr Mann wollten das sonnige Wochenende gemütlich in Gartencafés oder Biergärten verbringen, wollten vor allem plaudern, es gab doch so viel zu erzählen, wo man sich so lange nicht gesehen hatte. Gehen wir in den Palmengarten, den wolltest du doch immer schon mal sehen. Doch Imke beharrte auf einem Besuch der Schirn. Dieter dagegen brannte darauf, die neue Experiminta zu besuchen, die wiederum Imke nun gar nicht interessierte. »Offenbar habt ihr das Gefühl, etwas zu verpassen«, lautete Elkes Diagnose, als sie Imke an der Schirn ablieferte. Nein, mit hinein wollte sie nicht. Die neue Ausstellung sei nichts für sie, außerdem sei das Wetter viel zu schön, um es im Museum zu verplempern. Da hatte Imke noch gedacht, was für eine Kunstbanausin, obwohl sie doch Lehrerin war! Doch keine halbe Stunde später flüchtete sie aus GLAM!, grämte sich, dafür auch noch Eintritt bezahlt zu haben.

Wie verabredet fand sie die Schwägerin im Straßencafé auf dem Paulsplatz, bei Weißwein und mit einem Stapel pädagogischer Fachzeitschriften. Typisch, keine eigenen Kinder, aber in Sachen Erziehung immer alles besser wissen. Was hatte es für Kräche gegeben, als die Kinder klein waren und Tante Elke stets glaubte, sich einmischen zu müssen, nur weil sie Lehrerin war. Imke kniff die Lippen zusammen, allein der Anblick der Fachliteratur erinnerte sie an den Frust, als »Nur«-Mutter und Hausfrau ständig von anderen Ratschläge zu hören, als wäre ihre praktische Erfahrung mit den Kindern gar nichts wert. Elke aber lächelte ihr entgegen.

»Komm setz dich, auch ein Weinchen? So schnell hatte ich gar nicht mit dir gerechnet.« Im Nu verschwanden die Zeitschriften im Rucksack, als spürte Elke, dass sie bei Imke ungute Erinnerungen weckten. Imke ließ einen Cappuccino kommen und bedauerte, nicht vor der Auslandsreise in Frankfurt gewesen zu sein, nun war die Vorgängerausstellung verpasst, sehr ärgerlich, aber Dieter hatte sich nicht umstimmen lassen. »Erst Bildungsreise, dann Urlaub und zum Schluss die Schwester, oder ich sag die ganze Geschichte ab.« Damit hatte er die Diskussion beendet. Imke war ja auch froh gewesen, dass sie die Seidenstraße als Last-Minute-Schnäppchen bekommen hatten, und das bei diesem Anbieter! Der war ja eigentlich viel zu teuer, selbst mit Frühbucherrabatt. Sie hatten Damaskus gebucht, schon im letzten Jahr. Doch als der Krieg ausbrach, stornierte Dieter die Reise. Ich bin doch nicht lebensmüde, kommt nicht in Frage! Er hatte sich nicht erweichen lassen, nicht einmal abwarten wollen, ob der Veranstalter die Reise von sich aus absagen würde. Imke hatte tagelang geschmollt. Dann war Anfang Mai die Rundmail mit den Restplätzen für die Seidenstraße gekommen. Buchara, Samarkand, Taschkent, das wollte sie schon immer einmal sehen, also hatte Dieter spontan gebucht, bevor sie ihm mit dem Gejammer über den Garten, den man um diese Jahreszeit unmöglich allein­lassen könne, die Laune verdarb.

Nun war der Flieder ausgeputzt, der Phlox zurückgeschnitten. Wo kam nur die Ackerlichtnelke her? Imke rupfte hier und dort und schnaufte. Sollte sie das Kraut einfach stehenlassen? Nein, unerwünschte Gäste hatten in ihrem Garten nichts zu suchen. Als sie endlich die welken Blüten des kleinen Rhododendrons im Vorgarten ausbrach, kam die Nachbarin vom Einkaufen zurückgeradelt.

»Imke! Da seid ihr ja wieder. Und du bist schon fleißig! Gut siehst du aus, richtig erholt. Wie war’s denn?«

»Ja, wunderschön, die alten Moscheen, Pracht und Glanz, doch doch alles tipptopp restauriert, herrliche Fa­yencen, und der armenische Gottesdienst, so exotisch und doch so nah, ja, auch einen russisch-orthodoxen, aber die mit ihren Ikonen, von der Kunst her überwältigend, aber als einfacher Gläubiger bleibst du in der Kirche ausgeschlossen, nein, finde ich auch, als Kunstwerke sind die Kirchen einzigartig, nun gut, ja, jedem das Seine, aber … Und Christel, ich hab auch Ableger mitgebracht, heimlich natürlich, aber Not macht erfinderisch, die muss ich gleich noch einsetzen, und guck dir nur den Garten an, ja, schön geblüht hat er bestimmt, als wir weg waren, aber alles hängt, und staubtrocken, die Regentonne leer, Ameisen im Kompost, denk dir, kein Pilzbefall dieses Jahr und die Schnecken halten sich auch in Grenzen, da hast du recht, aber …«

»Und habt ihr dann noch den Abstecher zur Tochter gemacht?«

Imke zuckte zusammen. Zur Tochter? Die seit Jahren die Beleidigte spielte, die Unverstandene? Imke hatte ihr Leben für die Kinder gegeben, hatte, wie es damals üblich war, den eigenen Beruf an den Nagel gehängt, war darin aufgegangen, Hausfrau und Mutter zu sein. Sie war für die kleinen und großen Sorgen der Kinder da, kümmerte sich, stand parat, wenn Elternmitarbeit gefordert war, stellte die eigenen Interessen zurück. Und was war der Dank dafür? Vorhaltungen, Vorwürfe, Undankbarkeit. Schließlich Kontaktabbruch. Hätte ihr das jemand vorher gesagt … Sie schluckte.

»Sie wohnt doch da unten, oder? Ihr wolltet doch bei ihr vorbei?«

»Nein, nein, wir waren bei Elke, Dieters Schwester.« Imke kämpfte die Schatten nieder. »Das war ein schöner Abschluss, nur Letzte Bilder in der Schirn hab ich verpasst, ich hätte Dieter doch überreden sollen, vor der Reise in Frankfurt vorbeizufahren, das ist wirklich zu und zu ärgerlich, die kriegst du ja nie wieder in dieser Fülle geboten …«

»Die Wäsche ist durch!«, meldete Dieter von der Kellertreppe und trug die Spinne herauf.

Imke verwies die Nachbarin auf die nächste Kaffeerunde, bis dahin seien auch die Bilder fertig. Im Gehen streifte sie die Gartenhandschuhe ab, rasch die Wäsche, bevor sie spakig wird! Sie ging nicht, sie eilte. Wie ein junges Reh, hatte Dieter sie früher geneckt. Geschwind, als hätte sie Angst, etwas zu verpassen, wenn sie sich nicht beeilte, spurtete sie mit ihren schlanken Beinen durchs Leben. So sprang sie die Kellertreppe hinunter, die Bodentreppe hinauf, eilte von Raum zu Raum. Eilte nun vom Rhododendron ins Bad zum Händewaschen, vom Bad zum Rasen, wo Dieter die Spinne aufbaute. Der Korb mit der nassen Wäsche wartete.

Während sie die Wäsche aufhängte, deckte Dieter die jungen Erdbeerpflanzen mit Holzwolle ab.

»Vergebene Liebesmüh bei so viel Sonne«, rief Imke.

»Nach so viel Hoch ist das nächste Tief nicht weit«, hielt er dagegen. »Und wenn deine Erdbeeren nachher auf der Erde faulen, möchte ich dein Gejammer nicht hören.«

Er mochte ihr Gejammer nie hören. Meist verschwand er dann in den Keller. In seine Werkstatt. Seit er in Rente war, war sie oft froh über das große Haus. Man konnte sich aus dem Weg gehen. Groß war es ihr erst erschienen, als die Kinder aus dem Haus waren und das Klar-Schiff-Machen mit jedem Jahr mehr Mühe bereitete. Die Nachbarinnen hatten längst Perlen, zum Putzen sowieso, manche auch für Küche und Wäsche, nur Bärbel von gegenüber erledigte noch alles selbst genau wie Imke. Es lag nicht am Geld. »Dieter kann es nie sauber genug sein«, erklärte Imke, wenn sie auf einem der Damenkränzchen wieder einmal gefragt wurde, warum sie sich keine Hilfe zulegte. Aber er packe auch kräftig mit an. Schwups, waren die pensionierten Herren der Siedlung das Thema. Im Garten schafften sie alle kräftig mit, im Haus dagegen nur bei den gröberen Arbeiten, auch das nur, wenn sie handwerklich geschickt waren. Die meisten hockten vor dem Computer, der digitalen Technologie, die sie in den letzten Berufsjahren reichlich Nerven gekostet hatte. Jetzt aber, ohne den Druck, mit Jüngeren mithalten und Termine einhalten zu müssen, waren fast ausnahmslos alle gefesselt davon. Hielten die Frauen Teestunde, Kaffeerunde oder Gartengänge, trafen die Männer sich zum IT-Talk. Man half sich erstmal gegenseitig, bevor man Söhne befragte oder Volkshochschulangebote für die ältere Generation annahm. Die ersten Schritte hatten sie gemeinsam gemacht, dann schnitzte sich jeder sein Steckenpferd, meist dem früheren Beruf nahe, so waren in der Blümchensiedlung rasch alle nötigen Gebiete abgedeckt.

»Willst du die Tomaten ausgeizen, bevor ich sie hochbinde?«

Die Sonne stand schon tief, Imke krümmte sich über die Löwenmäulchen, zupfte Blättchen, schnitt verwelkte Blüten heraus, rupfte schon wieder Lichtnelken, Giersch und Ackerwinden und wollte jetzt nicht an Tomaten denken. Der Tag war so gut wie herum und sie hatte kaum etwas geschafft.

»Imme? Hörst du?«

Schmerz verzerrte ihr Gesicht, als sie sich mühsam aufrichtete. Immer musste er sie aus dem Rhythmus bringen. Konnte er nicht einmal die Tomatentriebe selbst ausbrechen?

»Ist es wieder der Rücken? Du sollst doch den Schemel benutzen.«

»Ach, geht schon.« Nur nicht jammern. Sie schaffte alles noch selbst. Die Jahrzehnte auf dem Buckel spürte sie kaum. Oder doch selten, wenn auch zunehmend. Fühl dich jung, dann bist du es auch.

Dieter stellte ihr den Schemel hin.

»Jetzt setz dich darauf. Um die Tomaten kümmere ich mich schon.«

Sie lächelte ihn dankbar an, und verzog erneut das Gesicht, als sie sich wieder zu den Löwenmäulchen beugte. Aber das sah er nicht mehr.

*

»Ich hol noch rasch den Schredder von drüben, damit wir den Kompost nicht überfordern«, rief Dieter nach der Tagesschau aus dem Flur.

»Hat das nicht bis morgen Zeit?«

Doch er war schon aus der Tür. Mit seinen Spontanentscheidungen hatte sie sich nie anfreunden können.

Sie blätterte durch die Post, sortierte uralte Zeitschriften aus dem Stapel, legte die Bügelwäsche heraus, morgen war auch noch ein Tag. Sie war hundemüde, vielleicht lief etwas Leichtes im Fernsehen, kaum saß sie davor, nahm sie den Reiseführer Damaskus zur Hand, bestellt, bevor Dieter die Reise storniert hatte, der arabische Frühling hatte nirgendwo sehr lange vorgehalten, sicher würden sie bald nach Syrien fahren können, und die Schirn plante Géricault für den Spätherbst, das würde sich lohnen, wo steckte denn nur das Herbstprogramm der Freunde der Kunsthalle, eben hatte sie es noch in der Hand, ah, das Ikebana-Magazin war auch schon da, aber wo war die neue Landlust?

*

Anderthalb Stunden später, als Dieter den Kopf durch die Stubentür steckte, »bin wieder da«, nachdem er den Schredder in der Garage untergestellt hatte, startklar für den nächsten Morgen, fand er Imke vor dem laufenden Fernsehapparat, in die Lektüre der Landlust versunken. Er stutzte. Damals bei Rudi Carrell hätte er geschworen, dass seine Frau niemals zugleich lesen und fernsehen würde. Obacht, da stimmte etwas nicht.

»Für dich auch einen Chantré?« Die Flasche war noch gut halb voll, so selten, wie er sich mal einen genehmigte. Keine Antwort.

»Immchen?«

»Mhm. Mhm.«

»Hm ja, oder …«

Da stand sie schon neben ihm. »Nimm bitte die Schwenker.« Kein Streit um Gläser jetzt, bitte. »Wie du magst.« Er schenkte ein, sie holte die Untersetzer aus der Anrichte.

»Läuft was Nettes?«

»Hast du nach dem Frosch geschaut?«

Hatte sie ihn nicht gehört? Wollte sie nicht antworten? Wie kam sie denn jetzt auf den Teichfrosch? Er tippte auf die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Sie griff nach Ikenobo Ikebana. Seit Jahren beschäftigte sie sich nicht mehr mit der Blumensteckkunst, aber als er das Abo kündigen wollte, hatte es einen handfesten Streit gegeben.

»Ich hab’s gleich«, sie blätterte fahrig. »Warte, hier, nein, wo war das nur …«

»Was denn?«

»Hier stand ein schöner Artikel über Teichfrösche, da dachte ich …« Ein Text über Frösche im Ikebana-Magazin? Was um Himmels willen war mit ihr los?

Dieter langte nach der Landlust, Inhaltsverzeichnis, hundertzweiundfünfzig. »Froschkonzert am Gartenteich«, las er halblaut. Er mochte den Artikel jetzt nicht lesen.

»Ah, hast du ihn gefunden?«

»Ja, ich schau bei Gelegenheit rein, unser Fröschli habe ich noch nicht entdeckt.« Er nippte am Glas. War doch alles wie immer? Oder war sie einfach nur verstimmt, weil er so spät noch zum Nachbarn gegangen war?

»Hast du die Bilder schon in Auftrag gegeben?«

Hatte er natürlich nicht. Wie denn auch, er hatte den Rechner ja noch gar nicht eingeschaltet, das hatte doch alles Zeit. Erstmal Haus und Garten.

»Die Damenrunde ist am Donnerstagmorgen bei mir.«

Daher wehte also der Wind. Sie wollte Fotos zeigen. Er sollte ihr die schönsten Bilder sortiert und ausgedruckt vorbereiten, damit sie ihren Reisebericht vor den Nachbarinnen ausschmücken konnte.

»Das wird aber knapp.«

Sie brach in Tränen aus. Nanu? Sie war nie weinerlich gewesen, ganz am Anfang, als sie noch verlobt waren, hatte es ein paar Mal Tränen gegeben, bis der Beziehungsraum abgesteckt war. Auch hin und wieder in den letzten Jahren, seit die Kinder ihre sehr eigenen Wege gingen und sie wohl das Gefühl hatte, aus deren Leben immer weiter ausgeschlossen zu werden. Aber wegen verspäteter Urlaubsfotos schien ihm Geflenne nun doch übertrieben. Obendrein hatte er ihr gar nicht die ganze Wahrheit gesagt. Knapp war euphemistisch. Bis Donnerstag früh wären die Fotos nie und nimmer fertig. Es war zu spät, jetzt noch in die Werkstatt im Keller zu flüchten, und zu früh, um sich ins Bett zu verziehen. Er hatte noch keinen Blick in die Zeitung geworfen. Ein Friedensangebot musste her.

»Also, ich könnte morgen zur Drogerie fahren und ein paar Bilder ausdrucken, dann hast du was in der Hand.«

»Christel hat nach ihr gefragt.«

Es ging also gar nicht um die Reisebilder?

»Ich hatte erzählt, dass wir bei deiner Schwester vorbeifahren in Frankfurt. Aber sie dachte, wir besuchen die Tochter.«

»Oh …« Das war es also. Dieter schwenkte das Glas. Lass sie reden. Sag mal gar nichts jetzt.

»Sie hat gar nicht auf meine Karte reagiert.«

»Hab ich dir gleich gesagt.«

»Aber man kann doch wenigstens danke sagen.«

»Sie will keinen Kontakt. Wir können froh sein, dass wir wissen, wo sie lebt, dass sie arbeitet, dass es ihr gut geht.« Das hätte er nicht sagen dürfen. Schon flossen wieder Tränen.

»Aber das wissen wir doch gar nicht. Ihr Bruder sagte neulich, es geht ihr nicht so gut. Sie hat uns nicht mal gesagt, dass sie ihre letzte Stelle verloren hat. Und dann ist sie einfach in Barcelona geblieben!« Gut, sie wurde wütend. Wut tut gut. Immer.

»Lass sie doch. Du hast oft genug versucht, wieder Kontakt herzustellen. Damals schon …«

»Damals warst du es, der den Kontakt abbrechen wollte.«

»Aber du hast dafür gesorgt, dass er nicht abgebrochen ist. Und das war auch gut so.«

»Aber jetzt …«

»Jeder muss sein Leben leben.«

»Du mit deinen Sprüchen! Genau das ist der Grund, deshalb ist sie gegangen!«

»Hör auf. Das stimmt ja nicht, das weißt du doch selber.«

»Ich weiß nur, dass sie nicht mehr mit uns redet. Und wir wissen nicht, warum eigentlich. Was haben wir ihr denn getan? Habe ich denn alles falsch gemacht?«

Das Lied wieder.

»Nein. Hast du nicht. Mach dir keine Vorwürfe. Du …«

»Wenn ich sie wenigstens anrufen könnte …«

»Hast du vergessen, wie’s gekracht hat bei euren letzten Telefonaten?«

»Aber sie könnte ja auf meine Briefe antworten.«

»Sie schreibt wohl lieber Mails.«

»Sei nicht gemein. Du weißt, dass ich das nicht kann.«

»War doch nicht so gemeint.«

»Aber wenn ich wenigstens wüsste, was sie uns vorwirft …«

Es war spät, das Glas war leer und diese Diskussion hatten sie endlos geführt, immer und immer wieder, ergebnislos. Was nützten all die Mutmaßungen, wenn die Tochter einfach schwieg, sich entzog, nicht mehr reagierte, den Kontakt abgebrochen hatte? Dem Bruder hatte sie gesagt, sie hätte oft genug versucht, etwas zu sagen, sei aber entweder mit Sprüchen abgebügelt worden oder mit: So redest du nicht mit deinen Eltern! »Versucht es mal mit Familientherapie«, hatte der Bruder halbherzig vorgeschlagen. Dazu war Dieter nicht bereit, er hatte sich nichts vorzuwerfen und schon gar nicht irgendwelche Wäsche, ob nun schmutzig oder nicht, vor anderen zu waschen. »Wenn es hilft, mach ich das«, hatte Imke gesagt, auch wenn sie ebenso wenig daran glaubte wie er. Sie hätte es auch allein gemacht, eine Mutter-Tochter-Therapie. Doch die Tochter lehnte auch das ab. Inzwischen sprach sie nicht einmal mehr mit dem Bruder.

Imke war aufgestanden, der Stapel zerknüllter Tempos auf dem Sofa neben ihr stürzte in sich zusammen, sie brach eine neue Packung an.

»Am Schlimmsten ist es, wenn …« Ein neuer Tränenschwall hinderte sie am Weiterreden. Vieles war am schlimmsten für sie, das wusste er, und es tat ihm weh, dass sie schier daran zerbrach, dass sie sich nicht abfinden konnte. Er liebte seine Tochter auch, aber wenn die keinen Kontakt wollte, über die Jahre auf all die Versuche nicht reagierte, dann eben nicht.

»Wir wären ja dann in Damaskus gewesen, aber nun …«

Ah, der Geburtstag. Noch so ein Punkt, den er als Vater nicht recht nachvollziehen konnte. Aber für eine Mutter war die Geburt der Kinder wohl das einschneidendste Erlebnis überhaupt. Bitter für die Väter. Plötzlich hatte er eine Idee.

»Weißt du was, wir sind dann einfach nicht da!«

Aus verweinten Augen schaute sie ihn groß an. »Du hast die Reise doch storniert!«

»Ich mag die Kiste heute nicht mehr anwerfen, aber gleich morgen früh schau ich, ja?« Imke verstand immer noch nicht. Als er sah, wie ihre Nasenflügel bebten, wusste er, dass er deutlicher werden musste. »Na, es gibt ja noch andere Destinationen als Syrien. Wenn nicht Damaskus, dann eben Budapest!«

»Budapest? Da waren wir doch vor zwei Jahren schon.« Er hatte sie, der Teufelskreis war durchbrochen.

»Oder Brüssel oder Amsterdam oder Paris! Wir fahren irgendwo hin! Unterwegs vergisst du die Sorgen. Ich schau morgen früh, was für Ende Oktober zu finden ist, und du entscheidest, wohin du möchtest, ja?«

Es gab diese Momente, wo Imke überzeugt war, doch den richtigen Mann geheiratet zu haben, damals vor knapp fünfzig Jahren. Sie lächelte dankbar. Aber da begrüßte der Moderator sie schon zu den Tagesthemen.

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