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LEA

#taksim

Die Stadt funkelte, Lea und Özlem tauchten ein in die Ströme aufgeregter, aufgewühlter junger Menschen, die von überallher zum Taksim-Platz strömten. Was für ein Gedränge! Die Fassade des Atatürk-Kultur-Zentrums im Hintergrund war von Plakaten und Transparenten übersät, vielstimmig und gegensätzlich und doch oder gerade deshalb in friedlicher Harmonie, eine unfreiwillige Kulisse zur Aufführung der Revolution. Auf dem Platz ragte das grell angestrahlte Atatürk-Denkmal aus dem wogenden Menschenmeer heraus, wie ein Leuchtturm aus tosender See. Die Menschen, viele gelb oder weiß behelmt, in T-Shirts und berauschter Sommernachtslaune, jubelten, redeten, lachten, klatschten. Weiß explodierten Blitzlichter, blau leuchteten Handydisplays und strahlten mit den Augen der Menschen um die Wette, machten die Nacht zum Tag, verwandelten den von gepanzerten, beschildeten Polizeiketten umstellten Platz in die fröhlichste Feier, die Lea je erlebt hatte. Vor allem aber sangen die Tausenden, die auch in dieser Nacht hier ausharrten.

»… işte bir sabah uyandığımda … Eines Morgens, als ich erwachte, fand ich mit gebund’nen Händen mein Land unter Besatzung überall«

Je näher der Menschenstrom Lea und Özlem herantrug, umso deutlicher hörten sie die Begleitung. Jemand spielte Klavier. Und all die Menschen sangen dazu. Sogar Polizisten legten Helme und Schilde nieder und lauschten der Musik.

»… eğer ölürsem … und wenn ich sterbe wie ein Partisan …bella ciao ciao ciao sollst du mich begraben … mit deinen Händen in meinem Land …«

Pfiffe, Applaus, Fäuste reckten sich, tausend Kehlen skandierten: »Her yer Taksim her yer direniş! Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!«

Sie waren am Ziel. Als das Klavier verklang und die Menge johlte, sah Lea endlich den Pianisten. Die beiden Pianisten! Vierhändig hatten sie gespielt, jetzt sprangen sie auf, umarmten einander, ein junger Mann im hellen T-Shirt mit Basthut, der andere ganz in Schwarz, auch der Bart war schwarz. Lea war es, als entzündete das Leuchten in den Augen der beiden noch auf die Distanz auch in ihr einen Funken. Ihre Wangen glühten. Freudestrahlend drehte sie sich zu Özlem um.

Doch das Mädchen neben ihr war nicht Özlem. Irgendwo in der Menge war Özlem verlorengegangen. Das unbekannte Mädchen lächelte sie an, hielt ein Handy ans Ohr und mit der freien Hand das andere zu. Lea war viel zu aufgedreht, um sich zu grämen, dass mit Özlem das einzig Vertraute, und sei es eine nur wenige Stunden alte Bekanntschaft, verloren war. Die Menge trug sie in den Park hinein, um den sich alles drehte. Hier standen die Bäume, an deren Rettung sich die Proteste entzündet hatten. In dem Gewusel schienen alle einander zu kennen, ein Festival ohne Bühne, hier war jeder Akteur. Jedes Hallo, jedes Lächeln wollte beantwortet sein. Eine Stunde, vielleicht auch zwei oder drei, zog sie von Gruppe zu Gruppe, stellte Fragen, lachte mit, vor allem aber hörte sie zu und saugte die Bilderflut in sich auf.

Ihr schwirrte der Kopf. Ein Junge hielt ihr eine Flasche hin, lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Du siehst müde aus, komm, setz dich zu uns, ruh dich ein bisschen aus«, sagte ein Mädchen neben ihm und rückte für sie zur Seite. Erst jetzt spürte Lea die Erschöpfung und nahm die Einladung an. Sie lauschte dem Gitarrenspiel am Lagerfeuer und nahm die Wasserflasche.

»Danke!« Da flogen ihr die Gesichter der Umsitzenden zu. Unwillkürlich war ihr der Dank auf Deutsch über die Lippen gepurzelt.

»Kommst du aus Deutschland?«

»Aber du kannst Türkisch? Woher kommst du denn?«

»Seit wann bist du hier?«

»Mit wem bist du hier?«

Fragen prasselten auf sie ein, sie schloss die Augen, lächelte.

»Hey, nervt sie nicht mit euren Fragen! Sie ist hier wie wir alle, schön, dass du da bist!«

Sie spürte einen Arm, der sich schützend um ihre Schultern legte. Dankbar blickte sie auf, es war das Mädchen, das sie eingeladen hatte, sich dazuzusetzen.

Ihr Blick fiel auf einen schmalen Jungen vor dem Zelt gegenüber. Er stopfte sich Spraydosen in die Strümpfe. Der hat noch was vor heute Nacht, schoss es ihr durch den Kopf und sie fragte sich, wo er wohl sprayen würde und was. Er wandte ihr den Kopf zu, als hätte er ihre stummen Fragen gehört, und grinste verschmitzt. Als sie zurücklächelte, rief er herüber: »Kommst du mit? Ich geh mir noch ein wenig die Beine vertreten.« Sie nickte heftig, doch als sie aufstehen wollte, taumelte sie und fiel zurück. »Hey, bist du vom Gezi-Rausch betrunken?« Gelächter, mitfühlende Blicke, wieder legte ihr das Mädchen den Arm um die Schulter, der Sprayer schmunzelte. »Na, laufen solltest du schon noch können!« Als er die Wolke sah, die sich auf seine Worte hin auf ihre Miene legte, schob er tröstend nach: »Die nächste Nacht kommt bestimmt!« Er warf sich einen knallroten Radlerrucksack auf den Rücken, zwinkerte ihr zu und verschwand zwischen Bäumen und Menschen.

Erst jetzt bemerkte Lea, dass es ringsum ruhig geworden war, viele hatten sich in die Zelte zurückgezogen, andere lagen in Schlafsäcken oder einfach in Wolldecken oder Jacken gehüllt davor. Manche redeten noch, rauchten, andere schnarchten. Einer weinte am Telefon.

»Wie heißt du eigentlich?« Die Frage riss sie aus den Gedanken. Hier waren alle Freunde, alle gehörten zusammen, viele Namen wirbelten durch die Luft, in einer Diskussionsgruppe glaubte sie vor Stunden sogar den eigenen Namen gehört zu haben, doch nach ihrem hatte sie bisher niemand gefragt. Sie lächelte, drehte sich zu der Fragestellerin um.

»Ti«, sagte sie. »Und du?«

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