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MARIE

#standtall

heute, 21:00h, 5 min stehenbleiben, egal wo ihr seid, unterstützt den protest in der türkei! #duran­adam #diren­geziparkı

Es war schon fast zehn. Um neun hatte sie in der Bahn gesessen. Hätte sie den Tweet früher gelesen, wäre sie aufgestanden. Bei dem Gedanken musste sie grinsen. Schweigemärsche waren geläufig. Aber aus Protest einfach irgendwo stehenbleiben?

»Du brauchst ein Smartphone.« Manfred stellte ihr den Lama-Becher mit dampfendem Tee neben den Laptop. »Mach doch Schluss für heute.«

Ein Tag mit zwei Vorstellungsgesprächen lag hinter ihr, viel Hoffnung machte sie sich nicht. Kaum aus Bremen zurück, hatte sie den Laptop aufgeklappt, um auf Twitter nach der Situation in der Türkei zu schauen. WLAN gab es im Regionalexpress leider nicht.

»Oder ein Tablet, ja.« Sie nippte dankbar am Tee – und hörte die Stimme ihres Vaters im Hinterkopf: Reichen dir PC und Laptop denn nicht? Digitale Aufrüstung ist doch nur Ersatzbefriedigung! Erweitere lieber deinen Bewerbungshorizont! Ihr eher praktisch als empathisch veranlagter Vater schickte ihr Anzeigen für Sekretariatsstellen. Sie hatte es aufgegeben, sich darüber aufzuregen, dennoch versetzte es ihr nach wie vor jedes Mal einen Stich. Manfred verteidigte ihre Eltern, sie würden es doch nur gut mit ihr meinen. Er mit seiner Lebensstellung beim Rundfunk hatte gut Reden. Und für ihre Eltern, die, mit dem sicheren Nachkriegsmodell »Sie Hausfrau, Er solide-Ausbildung-feste-Stelle-Rente« im Rücken zwei Kinder in die Babyboomerjahre gesetzt hatten und Veranlassung weder für emotionale noch materielle Unterstützung sahen, war jeder seines Glückes Schmied. Nur wer hart durchmusste, hatte Wohlstand verdient. Sie vertrauten weniger der eigenen Tochter als vielmehr dem System, das sie schließlich eigenhändig nach der Gnade der Stunde Null mit aufgebaut hatten.

Mit Tablet hätte Marie schon im Zug auf den Vogel getippt. Twitter, komprimierter als Facebook, war Informationsquelle Nummer eins, nicht nur für die Millionen der Gezi-Bewegung in der Türkei, mittlerweile auch für sie. Mit Hashtags hatte sie sich schnell angefreundet. Wie praktisch, man setzte ein Gitter # und damit war der entsprechende Begriff verschlagwortet. Anhand der Beliebtheit der Hashtags ließ sich ablesen, was gerade vielen auf den Nägeln brannte. Dazu gehörte dieser Tage alles, was #gezi enthielt.

#duranadam gab sie in die Suche ein. Endlos ploppten Posts vor ihr auf und sekündlich kamen neue Tweets hinzu. Ankündigungen von Aktionen, Berichte und Fotos, erste Analysen, wer dieser Mann war, der sich gestern Abend auf den Taksim-Platz gestellt hatte und mit dieser so einfachen wie effektvollen Geste quasi eine Revolution zivilen Ungehorsams ausgelöst hatte. Marie klickte einen Link an. Ein Blogartikel. Titel: Stand tall. Sie schmunzelte. Stand tall, don’t you fall … Das musste jemand in ihrem Alter geschrieben haben, wer kannte heute noch den alten Song, der ihr in der Jugend über so manche Krise hinweggeholfen hatte.

Marie speicherte den Blogpost als PDF-Datei ab und las. Wow, dachte sie, eine schöne kleine Skizze mit Gedankenanstößen und Referenzen an Raumkonzepte.

Stehen heißt: Raum nehmen. Sich das Recht auf Raum erstehen. Wo ich stehe, gehöre ich hin. Der Platz, auf dem ich stehe, gehört mir, und sei es für die Dauer des Stehaktes. Ich erhebe Anspruch auf diesen Raum. Ich besetze den Raum. Besetzter Raum lässt Atmosphäre entstehen. Und hier: Es entsteht etwas, wo einer steht und andere sich zu ihm stellen. Zu ihm stehen. Einer steht für alle da, alle stehen für einen ein.

In der Türkei blieben plötzlich überall Menschen einfach stehen, vor allem vor Amtsgebäuden, Denkmälern, Polizeiwachen, Parteibüros. Was für eine Idee! Ausgelöst von einer spontanen Reaktion eines einzelnen Performancekünstlers, der behauptete, es sei gar keine Performance gewesen, nicht einmal eine Aktion. Er habe einfach nicht anders gekonnt, als auf dem Taksim-Platz stehenzubleiben. Stundenlang. Bis er verhaftet wurde. Wegen unbefugten Stehens auf einem Platz und Erregung öffentlichen Ärgernisses. Stehen erregt Aufsehen. Ist ein Ärgernis. Wie wahr, dachte Marie und lachte. Manfred nahm den Blick vom Fernsehapparat und drehte ihr fragend den Kopf zu.

»Hier ist ein toller Text. ›Gedanken im Fluss‹, steht darunter, scheint eine Reihe zu sein. In der heißen Phase geschrieben war.«

»Bist du schon wieder bei den Istanbuler Protesten?«

Marie nickte und klickte auf den Autorennamen. Mavi, Studentin, 24, Deutsch-Kurdin, derzeit Istanbul. »Ich schreib mal drauflos«, stand noch in der kurzen Autorennotiz.

Als Studentin hatte auch Marie drauflosgeschrieben. Einige wenige Texte hatte sie unterbringen können. Dann führte sie die Mitarbeit im El-Salvador-Komitee gewissermaßen in die Welt, dort hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, anerkannt und gebraucht zu werden. Zu Beginn traute sie sich kaum, den Mund aufzumachen, übernahm aber gern Aufgaben, die andere in dem kleinen Kreis lästig fanden: Protokoll schreiben, dies tippen, das übersetzen. Hier sagte niemand: Ganz nett, üb schön weiter. Ihre Texte gingen an die Presse. Den Spanischkurs konnte sie sich bald schenken, die Praxis lehrte sie viel mehr als ein Kurs es je gekonnt hätte. Sie schrieb kleine Texte, über Cardenals Liebeslyrik, über Camilo Torres und Bischof Romero, über Lyrik und Befreiungstheologie. Wie fühlte sie sich damals aufgerufen und ohnmächtig zugleich. »Nicht gescheitert, nur die Ziele zu hoch gesteckt!« Sie lachte bitter auf, als ihr diese Zeile aus einem ihrer frühen Gedichte in den Sinn kam. Diesmal zog Manfred die Augenbrauen hoch, als sein Kopf sich erneut zu ihr drehte.

»Immer noch nicht fertig? Die Tagesthemen fangen gleich an.«

»Bin sofort da.«

Aufgewühlt lief sie in die Küche. Sie war doch schon so lange unterwegs, vor jeder Ecke hatte sie gehofft, hinter dieser endlich angekommen zu sein, nur um nach kurzer unbehaglicher Rast weiterziehen zu müssen. Jedes Mal tröstete sie sich: Es ist noch nicht soweit, geh weiter, nimm auch diese Erfahrung mit, für irgendetwas wird sie schon gut sein. Seit Jahrzehnten war sie unterwegs und trug eine Art Werkzeugkasten mit sich. Klein und handlich, dünnwandig, unförmig, unscheinbar, doch unverwüstlich, gierend nach allen Werkzeugen dieser Welt. Und Marie begann zu sammeln, was ihr unterkam, was ihr verwertbar schien, sie anlachte oder ihr vor die Füße fiel, oft auch musste sie mit Händen danach greifen, reißen, zerren und sich lange mühen, bis es in den Kasten passte. Nichts ging verloren. Doch statt dass der Kasten sich füllte, eng und prall wurde, schaffte jedes Werkzeug Raum für neues, Raum für Dinge, an die nie zuvor gedacht war, denn jedes kam mit seiner eigenen Geschichte, öffnete Türen, wo zuvor nicht einmal Mauern gewesen waren. Der Werkzeugkasten wuchs zu einem Kosmos, der nie durchmessen, nie umfänglich erforscht, vor allem aber nie ganz gefüllt sein würde. Das hatte sie mit Staunen zur Kenntnis genommen. Und irgendwann akzeptiert.

Marie war unterwegs. Sie war auch mit gut Mitte vierzig noch lange nicht angekommen. Manchmal blieb sie stehen, blickte zurück, staunte über die zurückgelegte Strecke, über die Kurven, die ihr beim Gehen gar nicht wie solche vorgekommen waren. Ihr Weg war noch lang. Sie würde ihn gehen. Auf einem Platz in Istanbul hatte sich einer hingestellt.

»Aufstehen!«, sagte sie laut und räumte den Lamabecher in die Spülmaschine.

»Was?«, fragte Manfred aus dem Wohnzimmer.

Ins Auge fassen, wogegen es sich zu wehren gilt, Widerstand leisten. Stehen. Und dann gehen.

»Ich mach noch einen Tee, willst du auch?«, rief sie zurück. Sie hörte ihn förmlich den Kopf schütteln. Als das Wasser kochte, langte sie nach dem lichtblauen Keramikbecher mit den silbernen Sternen. Genau der richtige für den Klarer-Geist-Tee und den Blick in die Kristallkugel. Wo nur, wo sollte sie hin? Mit sich und ihren brachliegenden Talenten …

Lichtblau

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