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LEA

#yeldeğirmeni

»Da ist wieder Arbeit für deine Feministinnen!« Tayfun grinste und zeigte auf die Sprüche an der Mauer. Tayyip ist mein Mädel, las Lea, etwas weiter prangte eine eindeutig obszöne Zeichnung. Sie rümpfte die Nase, aber Tayfun lachte.

»Jeder versteht was anderes unter Humor.«

»Aber das ist nicht lustig!«

»Lustig ist, dass deine Nase immer so spitz wird, wenn du mit mir sprayen gehst!« Er tippte ihr munter auf die Nasenspitze, dann wurde er plötzlich ernst. »Über Humor kann man streiten. Ich find’s vor allem ästhetisch nicht besonders gelungen.« Er verengte die Augen, begutachtete den mit wenigen Strichen hingeworfenen Missbrauch eines Staatspräsidenten. »Nee, zu verschönern ist da nichts. Komm, wir suchen uns eine andere Location.«

Sie liefen weiter. Die Gassen waren dunkel, aber es war warm und ringsum herrschte Trubel. Tayfun zog Lea zur Hauptstraße, die pulsierte wie am helllichten Tag. »Lass uns drüben schauen!«

Zwanzig Meter unterhalb des Platzes mit der Stierskulptur überquerten sie die laute Straße. Nur zwei Meter weiter verschluckte sie die Stille von Rasimpaşa, hier wohnte Tayfun in einer WG, und seit gestern auch Lea. »Obdachlos muss hier keiner sein«, hatte Tayfuns Mitbewohnerin Zehra gezwinkert, »bei mir im Zimmer ist noch eine Matratze für dich frei!«

*

Am Morgen nach der Räumung war Tayfun wieder aufgetaucht. Er sah wüst aus und schien verletzt zu sein, doch ihre Fragen tat er ab. Sie saß beim Frühstück in der Frauen­kooperative am Galataturm. Demir, der alte Meyhane-Gastwirt, hatte in der Nacht gleich gemerkt, wie müde und fertig sie war, und sie fürsorglich erst mit Essen und dann mit einem Schlafplatz versorgt.

»Willst du lieber hierbleiben?«, fragte Tayfun sie, als er sie im traulichen Kreis der Frauen sah.

Auf die Frage wusste sie keine Antwort. Wo sollte sie bleiben, wohin gehen, wo unterkommen? Sie war darauf angewiesen, dass andere ihr halfen und sie unterbrachten. Als sie vor ein paar Tagen frohgemut den Bus in Izmir bestiegen hatte, um endlich im Gezi-Park dabei zu sein, hatte sie keinen Gedanken an so profane Dinge wie Unterkunft, Essen, Duschen verschwendet, schon gar nicht an ein Danach. Ihr Blick ging von Tayfun zu Jale, der blaugesträhnten Älteren, die sie aus Demirs Meyhane hierhergebracht hatte. »Bleib, solange du willst.« Jale lächelte. »Aber du kannst auch gehen und wiederkommen.« Da sprang Lea auf und umarmte die Frau. »Ich komme wieder!«, versprach sie und hob ihr den Arm entgegen, »Schreibst du mir deine Nummer darauf?«

Auf der Fahrt im Dolmuş erzählte Tayfun von der Nacht, aber er war so erschöpft, dass ihm mitten im Satz die Augen zufielen. Lea fühlte seinen Kopf auf ihrer Schulter schwerer werden. Sie mochte seine Nähe, vertraute ihm, obwohl sie ihn doch kaum kannte. Das musste am Geist von Gezi liegen.

Tayfun döste und sie träumte, als das Dolmuş im dichten Verkehr über die Bosporusbrücke schlich. Was für ein fantastischer Blick! Das glitzernde blaue Band unter ihren Füßen, die Stadt, die sich an beiden Ufern schier endlos hinzog, ein Mensch an ihrer Seite, in den sie ein bisschen verliebt war.

In den letzten Tagen im Park hatte sie sich unendlich jung gefühlt, die Begeisterung, das ungezwungene Miteinander, das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben und wirklich etwas verändern, die eigene Zukunft und die der ganzen Gesellschaft gestalten zu können, all das pulsierte im gemeinsamen Atem der Menschen dort. Die Luft, die sie atmeten, verband die Menschen als das einzige, was alle teilten, ob sie wollten oder nicht. Gleich notieren! Die schweifenden Gedanken waren auf einen Punkt gekommen und schon entwickelte sich in ihrem Kopf ein Text. Vielleicht ein neuer Beitrag für ihr Mavi-Blog? Der Atem von Gezi, könnte der Titel lauten. Das war viel konkreter als der vielbeschworene Geist, vor allem umschloss es das Einatmen ebenso wie das Ausatmen, mit dem man andere infizieren konnte. Behutsam, damit Tayfun nicht aufwachte, fingerte Lea nach Post-it in ihrer Gürteltasche. Doch da grummelte er schon:

»Sind wir da?«

»Keine Ahnung«, lachte Lea und er richtete sich benommen auf.

»Kein Ding«, er grinste. »Wir steigen an der Endhaltestelle aus.«

Es dauerte noch eine Weile, bis sie da waren. Dann dirigierte Tayfun sie durch sein Viertel, das ihr ungemütlich, ja, beinahe unheimlich vorkam. Heruntergekommene, zum Teil marode Häuser, enge Gassen, noch der letzte Winkel mit Autos zugeparkt, schmale oder gar keine Gehsteige, Schlaglöcher, Mülltüten, Bauschutt. Angestrengt fixierte Lea den Weg, um nicht zu stolpern.

»Schau!« Tayfun blieb stehen. Als sie den Kopf hob, traf sie den Blick eines kleinen Mädchens unter einem Schirm in den Farben des Regenbogens. Es strecke ihr die Hand entgegen.

»Wie schön!« Das gigantische Wandbild zog sich hinter einem zugemüllten Parkplatz drei, vier Stockwerke hoch über eine Mauer. »Wunderschön!« Auf einen Schlag war die Hässlichkeit des maroden Stadtteils verflogen.

»Das war eins der ersten und es werden immer mehr«, erklärte Tayfun und zog sie weiter.

Hier und da entdeckte Lea frisch restaurierte Häuser mit hübschen Erkern in den Obergeschossen, an der nächsten Ecke wurde ein Spielplatz angelegt, gerade setzten Arbeiter junge Bäume, hier war auch der Gehsteig verbreitert. Erneuerungsplan Yeldeğirmeni, las sie über einem Plan an einer Mauer. Straßenzüge mit farblich markierten Häusern und Restaurationsprojekten. Geübt im Lesen von Plänen, stand Lea im Nu das Hässliche-Entlein-Stadtviertel als strahlender Schwan vor Augen.

»Stadtentwicklung transparent, tolle Idee!«, schwärmte sie und zückte das Handy, um zu fotografieren, doch der Akku war leer. Als sie sich umdrehte, war Tayfun weg. Erschrocken blickte sie sich um. Ihr Begleiter war wie vom Erdboden verschluckt.

»Suchen Sie was?«, fragte ein Passant.

»Ja, nein, danke …«

Der Mann schüttelte den Kopf, als Lea sich abwandte. Tränen stiegen ihr in die Augen, hätte sie bloß am Morgen gleich das Handy aufgeladen! Schon wieder rief jemand: »Hello!« Wie rasch man aus seinen Träumen stürzen kann, dachte sie betrübt. Aber Halt, Tayfuns Telefonnummer musste doch noch auf ihrem Arm stehen, sie könnte jemanden bitten, ihn anzurufen. Am besten fragte sie in einem Geschäft. Sie drehte sich zu der Ladenzeile auf der anderen Straßenseite um. Vor der offenen Tür eines Computerladens stand ein Mann mit Zopf, rief etwas und winkte sie heran. Lea war nicht ganz sicher, ob er wirklich sie meinte. Unsicher überquerte sie die Gasse.

»English? German?«, fragte der Mann und bat sie herein. Lea spähte in den mit Kartonagen vollgestopften kleinen Raum, machte aber keine Anstalten einzutreten.

»Ich bin aus Deutschland«, gab sie auf Türkisch Auskunft.

»Ah, okay. Komm rein, oder warte, ich hole zwei Stühle und rufe Zehra an, sie wohnt bei Tayfun in der WG, sie arbeitet hier um die Ecke«, fuhr er auf Deutsch fort und hatte das Handy schon am Ohr. »Sie kommt gleich rüber. Magst du inzwischen einen Tee?«

»Ich bin Orhan«, stellte er sich endlich vor. »Ich habe dich mit Tayfun kommen sehen. Der sah ja reichlich angeschlagen aus.« Er stieß einen rauen Lacher aus. »Aber dich scheint unser Projekt zu interessieren …«

Lea erwachte aus ihrer Trance. »Arbeiten Sie da mit?«

»Kann man so sagen, ich bin Architekt.« Er sei gerade dabei, Stadtteilführungen zu organisieren, die Kommunalverwaltung unterstütze das Projekt, aber das Geld reiche hinten und vorne nicht. »Öffentlichkeitsarbeit ist das A&O!« An einem Monitor zeigte er ihr, wo beim diesjährigen Mural Festival, das Anfang Juli zum zweiten Mal stattfinden sollte, die nächsten gigantischen Wandbilder geplant waren.

Als Zehra kam, hockten sie vor der Datei mit den Entwürfen. Lea war begeistert. Dass es hier so etwas gab! Am liebsten wäre sie dageblieben, doch aller Augenblicke summte Orhans Handy und Zehra drängte.

»Wir sehen uns!«, rief Orhan zum Abschied, das Handy schon wieder am Ohr.

Zehra räumte ihr eine Matratze frei. Tayfun lag in einem der zahlreichen Zimmer mit Stockflecken an den Wänden und schlief. Lea war konsterniert, doch Zehra lachte nur.

»Hast du geglaubt, ein Sprayer wäre ein treusorgender Familienvater?« Im nächsten Atemzug fragte sie Lea, ob sie hier darauf warten wolle, bis »die hyperaktive Nachteule« aufwachte. Sie könnte solange beim Renovieren helfen oder mit den Jungs in der Küche Stencils entwerfen. Als sie Lea zögern sah, schlug sie vor: »Ach, komm einfach mit runter ins Café.«

Keine Stunde später stand Lea im Galeri+Kafe und schenkte Tee aus. »Drei Tage bist du Gast, danach darfst du etwas tun«, hatte Zehra insistiert, aber diesmal hatte Lea nur gelacht und gesagt: »So war es vielleicht einmal vor Gezi!« Sie einigten sich auf ein solidarisches Kost-und-Logis-Modell, mit dem beide Seiten glücklich waren. Als ihr Handy aufgeladen war, simste sie Tayfun, wo er sie finden konnte.

*

»Hier!« Tayfun zog sie auf ein leeres Grundstück, zu drei Seiten ragten die Mauern der Nachbarhäuser auf. Er stakste über Unrat, Blech und niedergetretenen Stacheldraht, zwei Meter vor der Mauer zog er eine Dose aus dem Strumpf und setzte einen Tag darauf, rot auf eine größere graue Fläche. Offenbar hatte auch hier jemand übermalt, was andere gesprayt hatten. Lea überlegte kurz, was dort zuvor gestanden haben mochte, dann ging sie näher an eine mit Graffiti übersäte Mauer heran. Auch ihr Lieblingshashtag #şiirsokakta stand gleich mehrfach da, Poesie auf der Straße. Meist waren es eher Sprüche als richtige Gedichte. Manche kannte sie schon, aber hier, das war neu: Ve mutluluk bir kibrit çöpü / Artık ne kadar yanarsa. C. Süreya. Und das Glück ist ein Streichholz, solange es eben brennt. Die Einsicht in die Endlichkeit versetzte ihr einen Stich, war ihr aber lieber als all die Liebesschwüre, die so oft neben dem Hashtag prangten. Sie zückte das Handy, pirschte sich von Hashtag zu Hashtag. Würde sie je dazu kommen, all die Fotos von Straßenpoesie zu sichten, zu ordnen, auszuwerten?

»Hey! Spinnst du?!« Plötzlich sprangen drei junge Männer auf Tayfun zu. Erschrocken fuhr Lea zusammen.

»Habt ihr ein Problem?« Tayfun ging in Konfrontation.

»Lan, wir haben die Fläche für ein Mural grundiert und du Penner setzt ein Tag darauf!«

»Ich dachte …«

»Das ist frischer Putz!«

Nach dem ersten Schreck erkannte Lea, dass Tayfun die Männer kannte. »Woher soll ich denn …«

»Du bist eben doch nur ein Sprayer und kein Muralist! Mann, die Mauer ist abgeschliffen und grundiert!«

Tayfun wurde kleinlaut, verteidigte sich aber weiter. »Nachts sind alle Katzen grau!«

»Wenn hier einer grau ist, dann du, Mann! Du bist hier in Yeldeğirmeni, hier übertüncht keiner deine Tags. Wenn hier was grundiert ist, dann ist doch klar, dass die Fläche zum Festival gehört!« Die Diskussion flog hin und her, Tayfun, überrumpelt, wollte seinen Fehltritt nicht eingestehen, und schon gar nicht das Tag wieder übermalen, wie die verärgerten Männer forderten. Einen Augenblick lang fürchtete Lea, der Streit würde eskalieren. Keine Spur mehr von dem friedlichen Einvernehmen, das Lea im Park begeistert hatte.

»Ruhe da drüben!«, brüllte eine Stimme aus einem Fenster. Die Jugendlichen schoben Tayfun vom Platz, empfahlen ihm, nach Osmanağa rüberzumachen. Er stürmte fluchend davon und Lea beeilte sich, hinterherzukommen. Als sie sich umdrehte, machte sich bereits einer der jungen Männer mit einem dicken Quast an Tayfuns Fauxpas zu schaffen.

Bestimmt auf zehn geschlossene Rollläden setzte Tayfun seine Tags, bevor er sich beruhigt hatte. Lea hatte nie erlebt, dass er überhaupt Tags setzte. »Es geht bei Gezi nicht um unsere Namen«, hatte er ihr erklärt. »Wer jetzt Tags sprayt, hat den Geist von Gezi nicht kapiert!« Was mochte jetzt in seinem Kopf vorgehen, dass er plötzlich doch seine Signatur setzte? Hatte die Kritik der jungen Männer ihn derart aus dem Konzept gebracht, dass er erst einmal neues Selbstbewusstsein aufbauen musste? Oder war er durch den Wind, weil der Park geräumt und seine Träume zerbrochen waren? Lea folgte ihm schweigend.

Da klingelte ihr Telefon.

»Schscht!«, zischelte Tayfun, dabei dudelten zu allen Tages- und Nachtzeiten in jedem Winkel der Stadt unablässig irgendwelche Handys. Lea runzelte die Stirn. Die Nummer im Display kannte sie nicht. Hätte Tayfun nicht die Augen verdreht, hätte sie den Anruf vermutlich weggedrückt. Aus Trotz ging sie ran.

»Hallo?«

»Hi, Lea, ich bin’s, Özlem.« Das Mädchen aus dem Bus!

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