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MARIE

#moll

Schatten neben der Tür. Ratten! Ein Knäuel schiefergrauer Ratten, fett und in sich verbissen. Kabbelig. Pulsierend. Schnell aus der Tür, unentdeckt! Nur wie? Die Blase drückt. Jede Sekunde zählt. Hinaus auf den Flur, schnell schnell, still geschlichen, unbemerkt am Rattenknäuel vorbei. Lautlos. Doch schwarz nagelt die Furcht mich auf die Türschwelle. Mein Blick ist gebannt vom düsteren Knäuel neben der Tür. Ich lausche, höre aber ihr Fiepen nicht, nur das Blut in meinen Ohren rauscht. Die Schatten tasten nach mir, da ist kein Licht, nachts darf ich kein Licht machen. Gleich platzt mir der Bauch. Linker Fuß vor, eine Zehenlänge. Reglos verharren die Ratten, sobald ich mich bewege. Stehe ich still, kabbeln und keifen, schnappen und beißen sie weiter. Ich höre sie nicht und höre sie doch. Ich renne, sie erstarren. Bin außer Atem, gehetzt, noch eine Zehenlänge voran. Meine Sohlen kleben am Boden, ich renne mir die Lunge aus dem Leib, doch die Füße bleiben angenagelt. Ein Brummen schiebt die nächtliche Stille vor sich her wie ein Bär. Das Rattenknäuel plustert sich auf, ein Kohlensack ist es jetzt, und bläht und wächst und beult weiter. Ein Zipfel wischt über den Lino­leumboden. Ich reiße den Fuß zurück, knalle gegen den Türrahmen. Autsch! Was, wenn die Ratten mich anfallen? Hinter mir Gemurmel. Mein Rücken versteift sich. Zwischen den Fronten gefangen! Das Gemurmel schwillt zum Brummen, zum Dröhnen. Da muss ein Bär sein in Muttis Schlafzimmer. Er sucht nach mir. Ich entkomme ihm nur, weil ich so dringend aufs Klo muss. Nachts darf ich nicht hin. Ich kneife die Beine zusammen. Wo ist sie, fragt der Bär. Raus! Nur hinaus! Sofort!

Ich reiße die Füße mitsamt den rostigen Nägeln vom Boden und fliege zur Tür. Die Ratten im Kohlensack verharren still. Ich schwebe auf den Hausflur hinaus, kräftige Schwimmstöße schieben mich vorwärts. Draußen das Klo ist verrammelt. Sirenen heulen. Die Stiege! Ein Tritt, ins Leere, ich stürze …

Marie hob den Blick. Schwalben schossen wie Pfeile durch die blauen Höhen. Oder waren es Mauersegler? »Kiri, kiriii«, der schrille Schrei tupfte die Andeutung eines Grübchens knapp über Maries Mundwinkel. Die Sonne stand schon hoch. Hinter dem dichten Laub der Linden rund um den Platz wusste sie die Kirchturmspitze verborgen, die winters den Sonnenaufgangspunkt markierte. Gute-Laune-Wetter. Doch der Umschlag in ihrer Hand wischte Marie das Grübchen fort, senkte ihren Blick aus Schwalbenhöhe von Neuem aufs graue Pflaster hinab. Wieder eine Absage. Und das nach diesem Traum. Wieder ein Molltraum, würde Manfred sagen. Und mitfühlend lächeln. Und mit einem Bedauern, das ihr im Laufe der Jahre zunehmend von Überdruss unterwandert schien. Marie zog die Lippen zum Strich.

Ratten waren es also diesmal, ein Rattenknäuel. Sie wusste, dass es nicht wirklich Ratten waren. Was es aber war, wusste sie nicht. In jedem Traum nahm das düstere Bündel neben der Tür eine andere Form an. Mal verschlang es sie, mal wickelte es sich ihr um die Füße, mal zog es sie in einen Strudel hinein. Oft wachte sie mit einem Schrei auf. Den nur sie hörte. Der ihr noch Stunden in den Ohren gellte. Diesmal war sie die Treppe hinabgestürzt. Zur Toilette im Hausflur schaffte sie es nie, höchstens bis zur Tür, die verriegelt war oder ihr entgegenfiel. Ihr schien, sie müsse endlich einmal den Schritt hineinwagen in den ekligen Latrinenverschlag, um den Traum abzuschütteln. Träume deine Träume zu Ende oder sie suchen dich ewig heim!

Seltsam, sie hatte nie in einem Haus mit Abtritt im Treppenhaus gewohnt. Der Traum war stets grau, nicht schwarzweiß, sondern grau in allen erdenklichen Tönen, auch die Geräusche waren grau. Was mochte der Schatten an der Tür bedeuten? Und das Brummen und Dröhnen? Sie war ein kleines Mädchen in diesen Träumen, vielleicht vier, fünf Jahre alt, schwach und hilflos, wie gelähmt, selbst das sonst in Träumen oft so befreiende Fliegen war hier ein schweres Gleiten durch dichten Nebel.

Die Kaffeemaschine blubberte ein letztes Mal und holte Marie in die Küche zurück. Sie griff nach der Lamatasse, goss das schwarze Gift hinein. Es war ein Tag für reichlich Zucker und Milch. Sie verzichtete auf beides. Der erste Schluck verbrühte ihr fast den Gaumen und erinnerte sie an ihren Entschluss, endlich weniger Kaffee zu trinken. Hieß es nicht, Frauen in Fernost litten in den Wechseljahren vor allem deshalb nicht unter Hitzewallungen, weil sie keinen oder doch kaum Kaffee tranken? Wechseljahre, auch so ein gruseliges Wort. Davon war sie doch noch meilenweit entfernt. Heute aber fühlte Marie sich wieder einmal mittendrin. Ein Freitag, die Absage, der Traum. Seit Jahren immer wieder diese Träume. Sie ließen sie um Jahre altern und kamen stets dann, wenn sie dachte, jetzt bin ich sie los. Anschließend dauerte es jedes Mal Stunden, bis der dumpfgraue Nebel sich lichtete.

»Kiriii«, der Mauerseglerschrei hieß sie schweigen. Geh an den Schreibtisch, häng nicht herum, lass dich nicht gehen, steh auf, tu was!

Lichtblau

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