Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 10
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ОглавлениеDer Stier schüttelte den Kopf und blieb stehen. Er wurde seit der Nacht im Dunkeln gehalten, damit der plötzliche Wechsel ins Helle seine Angriffslust weckte. Aber noch immer war es möglich, dass nichts geschah. Wenn sich der Stier nicht reizen ließ, was manchmal vorkam, dann würde es auch keinen Sprung geben.
Man konnte ihn aggressiv machen, indem man ihm den Rücken zuwandte. Iasa schien zu überlegen, ob er es tun sollte. Auf den Rängen setzten die üblichen Gespräche ein, doch die Augen der Zuschauer waren unverwandt auf den Tanzplatz gerichtet. Plötzlich lief er zur Tribüne und bat eine der Damen, ihren Pfauenfedernfächer herunterzuwerfen. Sie lachte geschmeichelt, neigte sich vor und ließ den kostbaren Fächer in seine Hand fallen. Er verbeugte sich zum Dank und eilte zurück in die Mitte des Platzes. Noch immer hatte sich der Stier, ein kräftiger schwarzer Jungbulle von drei oder vier Jahren, nicht bewegt. Akija entging nicht, wie seine Augen dem Glitzern des Fächers folgten. Sein Vorderhuf scharrte in der Erde. Doch Iasa schien es nicht zu bemerken; er sonnte sich in der Bewunderung der Zuschauer, und sein Spiel mit dem Fächer galt offenbar mehr den Damen.
Als sich der Stier in Bewegung setzte, stieß Akija einen Warnschrei aus. Iasa ließ den Fächer fallen, ging leicht in die Knie und erwartete mit vorgestreckten Armen die Hörner. Doch er stand schlecht; er bekam nur ein Horn zu fassen, sodass er von dem Stier nur zur Seite gestoßen wurde. Nun rannte das mächtige Tier mit gesenktem Kopf auf Akija zu. Sie öffnete die Hände – der Gedanke durchzuckte sie, die Hörner zu ergreifen und sich hinaufschleudern zu lassen.
„Akija!“, hörte sie Iasa schreien. „Tu das nicht!“
Ich glaube dir, dass dir das nicht gefallen würde, dachte sie. Aber ihre Angst war ohnehin stärker. Ihre Hände würden niemals die Hörner fest umschließen können, denn sie waren feucht von kaltem Schweiß. Aufstöhnend wandte sie sich ab und hastete an der Mauer entlang. Dies war der Tanz, das Umkreisen des Tieres, das Hin- und Herlaufen, um es zu reizen. Der Kopf des Tieres schwang dicht über dem Boden in dem Bemühen, die Richtung zu ändern und ihr zu folgen. Und schnell wurden das Stampfen der Hufe und das Schnauben hinter ihr lauter. Aufschreiend warf sie sich hinter die Schutzpalisade, die nur einen Lidschlag später erzitterte, als eines der Hörner das Holz traf.
Sie kauerte sich zusammen und presste die Hand auf ihr schlagendes Herz. Dann blickte sie zu den Köpfen der Zuschauer hinauf, die weit über ihr schwebten und sie neugierig musterten. Vorsichtig kroch sie zum anderen Ende der Palisade und reckte den Kopf. Der Stier hatte sie vergessen. Er hatte sich Iasa zugewandt, der von seinem Einfall mit dem Fächer nicht lassen wollte und ihn hin und her schwenkte. Der Stier stürmte auf ihn zu. Erneut streckte Iasa die Hände vor, und tatsächlich gelang es ihm, beide Hörner zu packen. Der Stier warf den Kopf hoch, um die Last abzuschütteln. Iasa warf die Füße in die Luft, um sich von dem Schwung hinaufheben zu lassen. Doch er stand zu dicht am Weidezaun. Seine Füße stießen gegen das Holz – die Leute dahinter stoben lachend davon –, und er fiel unsanft zurück.
Noch war der Stier dicht vor ihnen. Beide konnten sich nur mit einem beherzten Sprung über den Zaun retten. Das Gelächter, das nun folgte, konnte Iasa kaum gefallen. Mit gerötetem Gesicht kletterte er zurück auf den Platz. Der Stier war mittlerweile am Zaun entlanggetrottet. Iasa rannte zum anderen Ende des Platzes und schrie ihn herausfordernd an.
Akija hastete an der Mauer entlang, um zu Iasa zu gelangen. Der Stadttänzer wartete in der Nähe des Hauses. Iasas Züge verzerrten sich, seine Halsmuskeln traten vor. „Jetzt wird es gelingen“, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, und er ballte die Fäuste. Er bot einen Anblick, von dem Akija annahm, dass er den Stier wahrhaftig beeindrucken könne.
Und für einen Augenblick glaubte sie, Mijaros Entscheidung müsse rechtens sein.
Der Stier wandte sich um. Zischend stieß er den Atem aus, schnaubte und wühlte mit den Hufen im Gras. Sein Schwanz peitschte hin und her. Dann senkte er den Kopf und schoss über den Platz. Iasa lief ihm entgegen, warf sich den gesenkten Hörnern entgegen und ließ sich von ihnen in die Luft heben. Die Zuschauer schrien staunend auf, als seine Füße einen weiten Bogen hinauf beschrieben. Im nächsten Augenblick würde er die Hörner loslassen, und sein Körper musste in einer vollkommenen Drehung aufrecht auf dem Rücken des Tieres landen, von wo er gefahrlos hinabspringen konnte.
Noch umklammerten Iasas Hände die Hörner, und in diesem Augenblick drehte sich der Stier und schüttelte ihn ab. Iasa fiel der Länge nach ins Gras. Akija wollte zu ihm laufen, aber der Stier rannte vorwärts. Geradewegs auf sie zu. Sie wirbelte herum, wollte an der Mauer entlang. Und strauchelte.
Sie konnte nichts tun, als sich flach auf den Boden zu pressen, denn schon waren die Hörner über ihr und kratzten an der Mauer. Ein Knacken war zu hören, dem ein ohrenbetäubendes Brüllen folgte: Eine der Hornspitzen war abgebrochen. Das versetzte den Stier in rasende Wut; er schüttelte über Akija den Kopf und stach mit dem verletzten Horn nach ihr.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Oberschenkel.
Akija schrie. Sie presste sich dicht an den Fuß der Mauer und kauerte sich zusammen, das Gesicht zwischen den Knien. Sie hörte, wie auch die Zuschauer schrien. Und irgendwo hörte sie auch Iasas Aufschrei.
Er lag noch immer am Boden. Der Stier stampfte auf ihn zu und versetzte ihm einen Tritt in den Rücken. Wo war der dritte Tänzer? Er war fort, wohl über den Zaun geflohen. Jetzt standen die Menschen auf den Rängen und riefen nach den Priestern, dass sie den Stier einfingen. Allein Mijaro und die beiden Achaier blieben auf ihren Plätzen.
Akija presste die Hand auf die Wunde und hastete zur Schutzwand. Erleichtert bemerkte sie, dass sich auch Iasa erhob und darauf zukroch. Die Haut auf seinem Rücken war tiefrot und aufgeplatzt. Offenbar konnte er nicht aufstehen, wenigstens konnte er nicht mehr springen. Sie beide mussten hinter der Wand auf das Einfangen des Stiers warten. Es war ein unrühmliches Ende.
Erleichtert ließ sie sich hinter der Palisade zu Boden sinken. Die Mauer in ihrem Rücken fühlte sich kalt und unangenehm an. Sie betrachtete ihre Wunde, sah aber nur Blut, Schmutz und Gras. Wo blieb Iasa?
Ein gewaltiges Donnern erfüllte die Luft; die Palisade erzitterte und begann sich ihr zuzuneigen. Akija stieß einen gellenden Schrei aus. Sie riss die Füße hoch, das Holz drückte gegen ihre Sohlen und drohte aus dem Boden zu brechen. Sie schüttelte wild den Kopf vor Entsetzen und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Doch so plötzlich, wie der Angriff begonnen hatte, war er vorbei. Sie ließ sich zu Boden sinken und versuchte, ihre Sinne zu ordnen. Um sie herum war ein einziges Geschrei, und sie musste die Hände auf die Ohren pressen. Erst nach einer unendlichen Weile schien der Lärm abzuebben. Sie hob den Kopf und hörte, wie der Stier in einiger Entfernung über den Platz trabte.
„Iasa?“ Sie vermochte für einen Moment nichts zu sehen, Tränen und Schweiß trübten ihren Blick. In all dem Tumult glaubte sie seine heisere Stimme zu vernehmen. Und dann sah sie ihn, wie er flach auf dem Bauch lag und versuchte, in den Schutz der Palisade zu kriechen.
„Schwester …“ Er hob mühsam den Kopf, seine Augen irrten suchend umher.
„Hier, ich bin hier!“
Endlich trafen sich ihre Blicke. Iasa streckte die Hand nach ihr aus. „Hilf mir, Schwester, hilf mir hinter die Wand. Schnell …“
Akija kroch zum Rand der Palisade und schob langsam den Kopf nach vorne. Wo war der Stier? Sie zuckte zusammen, denn er blickte vom anderen Rand des Platzes genau in ihre Augen. Seinen Kopf hielt er gesenkt, sein linker Huf scharrte drohend im Gras.
„Akija, bitte“, rief Iasa wie aus weiter Ferne. „Bitte beeil dich.“
Sie riss den Blick von den schwarzen Augen. Iasa war nur zwei Armlängen entfernt. Doch um ihn zu erreichen, musste sie aufstehen und den Schutz der Wand verlassen.
Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihre Knie knickten ohne ihr Zutun ein. Erneut versuchte sie es, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Hilflos sank sie in sich zusammen. Wie konnte sie auch zu ihm laufen, wenn die Tränen sie blendeten? Fahrig wischte sie sich über das Gesicht.
„Akija!“, schrie er erneut. Jetzt lag Todesangst in seiner Stimme. Der Stier stieß ein schnaubendes Brüllen aus und griff an. Der letzte Augenblick, Iasa hinter die Palisade zu zerren, verstrich. Doch sie vermochte sich nicht zu bewegen. Das Donnern der Hufe wurde lauter, der Boden erzitterte, der Schatten der gesenkten Hörner berührte Iasas Füße. Sie presste die Augen zusammen, gerade in dem Augenblick, als der dunkle Leib des Tieres sich über Iasa zu werfen schien.
Sie erwachte im Gras. Über ihr schwebte das Gesicht eines der Achaier. Unergründlich musterte er sie aus seinen dunklen Augen. Dann fiel sein Blick auf einen sich nähernden Priester; er richtete sich auf und verschwand aus ihrem Blickfeld. Vorsichtig reckte sie den Kopf, ließ sich aufhelfen und kam schwankend auf die Füße. Als er sie hinaus auf den Platz führen wollte, fort von der Palisade, versteifte sie sich.
„Der Stier ist in seinem Stall“, beruhigte er sie. „Du bist nicht mehr in Gefahr.“
„Es ist vorüber?“, fragte sie zitternd.
„Ja.“
Langsam ging sie hinaus ins Sonnenlicht. Ihr Schenkel schmerzte ein wenig, aber darauf achtete sie nicht. Einige Leute standen auf dem Platz oder liefen umher. Hinter dem Weidezaun harrten noch immer die Menschen aus und beobachteten das Geschehen. Die Tribüne hatte sich fast geleert. Ein paar Jungen machten sich daran, Unrat zwischen den Holzbänken aufzulesen.
Ein zweiter Priester kam auf sie zu, auf dem ausgestreckten Arm ihr Hemd, und erklärte, dass man sie mit einer Sänfte zurück in den Palast bringen werde. Sie halfen ihr und brachten sie zurück in den Vorratsraum. Hier erinnerte sie sich daran, wie Iasa sie gepackt und geschüttelt hatte. Die Doppelaxt hing wieder in ihrer Halterung an der Wand. Auch die Ritualkannen waren vollzählig.
„Wo ist Iasa?“, fragte sie.
Es kam keine Antwort. Die Priester öffneten die Ausgangstür. Hier stand ein Tragstuhl bereit, ein aus Weidenruten geflochtener Sitz, der zwischen zwei Eseln festgeschnürt war. Akija ließ sich hineinsinken, froh, nicht mehr laufen zu müssen. Sie zog die Füße an und lehnte den Kopf an ein warmes Eselsfell. Schon wurde sie schläfrig; sie bemerkte kaum, wie die Priester die Esel auf den Weg in Richtung des Palastes führten. Die Sonne stach herunter, der Schweiß trat Akija aus den Poren und die Wunde begann zu pochen. Sie schloss die Augen und gab sich dem sanften Schaukeln hin. Bilder peinigten sie; unzählige Gesichter blickten auf sie herab, Beine und Hufe wirbelten, und das Geschrei klang in ihren Ohren. Wo war Iasa? Was hatten die Priester geantwortet? Hatten sie überhaupt geantwortet?
Irgendwann wurde es kühl und dunkel; sie fühlte sich hochgehoben und auf eine weiche Unterlage gelegt. Einige Menschen waren bei ihr, näherten sich und verschwanden wieder. Sie alle nahm sie nur verschwommen wahr. Kühle, feuchte Tücher wurden auf ihre Haut gelegt, dann strichen Finger über ihren Oberschenkel. Und plötzlich durchzuckte sie dort ein scharfer Schmerz. Sie atmete erschrocken ein.
Akija richtete sich auf und blickte auf die vertrauten Wandbilder ihres Gemachs. Alles war ruhig. Sie schlug die Decke zurück, um nach ihrem Schenkel zu sehen, doch der war mit einem Verband versehen. Vorsichtig rutschte sie zur Bettkante und setzte die Füße auf den Boden. Auch wenn ein leichter Schmerz an die Wunde erinnerte, bereitete ihr die Bewegung keine Mühe. Als sie aufstehen wollte, entdeckte sie auf dem Tischchen unweit des Bettes einen Gegenstand. Es war die Spitze eines Stierhorns. Akija betrachtete sie auf der Handfläche. Sie war fingerlang, sehr spitz und mit Resten von weißer Farbe bedeckt.
Eine Priesterin trat ein und verneigte sich. Ihr Blick fiel auf Akijas Hand. „Man hat das aus deiner Wunde entfernt, Herrin.“
Demnach war die Spitze nicht ganz abgebrochen, als der Stier die Mauer über ihrem Kopf gerammt hatte. Verloren hatte er sie erst, als er sein Horn aus ihrem Oberschenkel gezogen hatte. Ein Schauer rann durch Akijas Körper.
„Ich soll sehen, ob du wach bist und laufen kannst“, sagte die Priesterin, „denn die Hüterin möchte dich in ihren Gemächern sehen.“
Um das Horn nicht mehr sehen zu müssen, zog Akija ihren Schmuckkasten unter dem Bett hervor und warf es hinein. „Jetzt sofort?“
„Ja. Wenn du kannst.“
Aufseufzend kam Akija auf die Füße. Nein, der Oberschenkel schmerzte beim Auftreten nur wenig, das Horn hatte offenbar keinen Muskel verletzt. Da sie nackt war, schlüpfte sie in einen knöchellangen Mantel aus hellblau gefärbtem Leinen. Schnell ließ sie noch einen Kamm durch die zerzausten Haare gleiten, dann folgte sie der Priesterin hinaus auf den Korridor. Die Sonne stand jetzt tief und durchflutete die Gänge und Kammern des Palastes. Vor Mijaros Gemächern kam ihnen ein Mann entgegen: einer der beiden festländischen Könige.
Es war jener mit dem ungebändigten Haar. Sein Gesicht erhellte sich. „Du!“, rief er. „Du bist doch das Mädchen vom Stiertanzplatz!“
Dieser offensichtliche Mangel an Ehrerbietung verblüffte Akija, sodass sie einen Augenblick brauchte, um sich zu fassen. „Und wer bist du?“
„Der König von Argos, liebreizende Tänzerin! Was starrst du mich so verwundert an? Hast du noch nie einen Achaier aus der Nähe gesehen?“
Akija unterdrückte den Wunsch, einen Schritt zurückzuweichen. „Doch, schon oft, aber noch niemals einen, der sich König nennt.“
Der Achaier lachte. „So selten sind wir gar nicht. Fast jede Stadt dort hat ihren eigenen König, der das Umland beherrscht.“
„Ich weiß. Man sagt, ständig herrscht dort Krieg, weil ein König dem anderen das Gebiet und den Reichtum neidet.“ Und als Akija ihn vor sich sah, mochte sie das glauben. Schwere Gehänge hingen von seinen Ohrläppchen, Goldperlen waren in die langen Nackenhaare geflochten und eine goldene Halskette hing bis auf die nackte Brust. Auf seinen Umhang waren kleine goldene Plättchen in Form von Falken und Blumen aufgenäht. Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert, das von seiner Hüfte hing und Zeugnis davon ablegte, auf welche Art dieser Mann zu seinem Reichtum gelangt war.
Stolz tätschelte er sein Schwert. „Ich sehe, es gefällt dir, meine barbusige Schönheit.“
„Wie dreist du bist!“
„Und ich hatte geglaubt, Kreterinnen seien die schamlosesten aller Frauen! Springen fast nackt zur Freude der Zuschauer um einen Stier. Allein schon für dieses Schauspiel hat sich die Reise gelohnt. Achaiische Frauen tun so etwas jedenfalls nicht. Und jetzt errötest du?“ Nun lächelte er breit und offenbarte überraschend gepflegte Zähne. Vermutlich schätzten sich die Damen an seinem kleinen festländischen Hof sehr glücklich, wenn er ihnen ein solches Lächeln schenkte. Akija bemühte sich, so hochmütig wie möglich zu blicken. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als er plötzlich in ihre Wange kniff, ganz ähnlich, wie es Iasa gestern im Hof getan hatte. Empört fegte sie seine Hand fort. Aber er lachte nur, verneigte sich und ging weiter seines Wegs.
Sie fand Mijaro in ihren Gemächern in einem Weidensessel, umringt von drei Dienerinnen, die ihr die Füße massierten, die Haare kämmten und Wein reichten. Sie trug noch immer ihr Festtagskleid. Ihr Blick war dem großen Fenster zugewandt, das hinaus auf den sonnendurchfluteten großen Hof führte. Kaum ein Geräusch drang herein, niemand spazierte heute über den Hof. Gegenüber dem Fenster, auf einer steinernen Bank an der Wand, saß der zweite achaiische König. Er geizte ebenso wenig mit Goldschmuck, doch sein Blick war abweisend. Dies also war der Onkel ihres Halbbruders. Unwillkürlich schlang Akija den Mantel fest um sich.
„Wie geht es dir?“, fragte Mijaro in die Stille hinein.
„Es ist keine schlimme Wunde. Ich hatte wohl Glück.“
„Iasa hatte es nicht.“
„Was ist mit ihm?“ Es gelang Akija nicht ganz, das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Er ist tot.“
„Nein …“ Akija schlug eine Hand vors Gesicht. Sie war nicht überrascht, hatte sie doch den Stier gesehen, wie er Iasas Leib überrannte. Doch dies klang entsetzlich endgültig – es war endgültig. Iasa, Iasa, er war doch ihr Bruder gewesen, trotz allem! Ein gequältes Schluchzen wollte ihre Kehle hinauf, und nur die Gegenwart des fremden Mannes, vor dem sie keine Blöße zeigen wollte, gab ihr die Kraft, es herunterzuschlucken. Danach fühlte sich ihre Brust an wie versteinert.
„Nun plagt dich deine Reue“, sagte Mijaro. „Oder ist das nichts weiter als ein glänzendes Schauspiel? Gib es zu, Schwester, du wolltest seinen Tod.“
„Ich … wollte seinen Tod?“, keuchte Akija. „Wie kommst du darauf?“
Mijaro deutete auf einen Hocker zu ihren Füßen. „Hör auf! Nichts ist verachtenswerter als Heuchelei. Setz dich und sage mir, was du glaubst, das ich tun soll. Soll ich dich zu meiner Nachfolgerin ernennen?“
„Ich bitte dich, sprich mit mir allein“, sagte Akija mit einem Seitenblick auf den Achaier, der düster schweigend zusah. Wie anders schien er zu sein; schwer vorstellbar, dass er zu einem so offenen Lächeln fähig war wie der König von Argos, so respektlos sie es auch empfunden hatte.
„Gut.“ Mijaro nickte dem Achaier zu, der mit demütigender Langsamkeit den Raum verließ. Sowie er fort war, schien es Akija, als könne sie leichter atmen.
Sie setzte sich auf den Hocker und blickte die Schwester an. „Es wäre rechtens, das weißt du. Es ist immer die nächstältere Schwester, die die Nachfolge antritt. Du warst die von der Göttin Erwählte, und jetzt bin ich es. Warum willst du ändern, was seit undenklich langen Zeiten gilt?“
„Weil die Zeiten nicht mehr dieselben sind.“ Mijaro setzte ihren Weinkelch an die Lippen und trank. Ihr Blick schien tief im Kelch zu versinken. Mit einem Seufzen neigte sie sich vor. „Die Achaier sind zu mächtig geworden“, murmelte sie und streckte den Kelch vor. Auf den ersten Blick sahen die ins Gold getriebenen Reliefs für Akija vertraut aus; sie zeigten Männer, die einen Stier umringten. Doch diese Männer hatten den Stier an den Vorderläufen gefesselt und eine Lanze in seine Flanke getrieben. Akija nahm den Kelch in die Hand. Auf der anderen Seite waren zwei Männer abgebildet, die einander mit Schwert und Speer bekämpften.
„Aus solchen Bechern trinken die Könige des Festlandes. Jagen und Herrschen, das allein bestimmt ihre Gedanken. Sie befahren das Meer wie wir, sie handeln mit den Ländern südöstlich des Meeres, so wie wir. Ihre Schiffe sind beinahe ebenso gut wie unsere. Aber sie wollen herrschen.“
„Das weiß ich alles. Aber was hat deine Furcht vor ihnen mit dem Hohepriesteramt zu tun?“
Auf diese Worte folgte ein wütender Blick der Hüterin. „Bei der Kraft der Göttin, du scheinst das wirklich nicht zu begreifen. Diese Leute verehren die Göttin, aber deren Macht schwindet. Bald ist sie dort nur noch eine von vielen Gottheiten. Die Achaier beten stattdessen zu ihrem Meeresgott und Wettergott; sie nennen sie Poseidon und Dyaus, und es sind Götter, die ihre Kräfte zerstörerisch einsetzen. Diese Könige sind zugleich Priester ihres Volkes und Krieger!“
Davon hatte Akija gehört. Sie fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass der Segen der Götter auf den Taten eines solchen Menschen ruhen konnte. Aber wie sonst, wenn nicht durch die Hilfe mächtiger Götter, waren sie imstande, den Fuß hier in den Palast zu setzen?
Mijaro lehnte sich schwer seufzend zurück. „Ich habe viele festländische Gesandte empfangen, hier oder in der nördlichen Pfeilerhalle, die ständig belagert ist von Fremden. Ich spreche mit ihnen über den Handel mit den südöstlichen Ländern, über Fischfangrechte vor den ihrem Land vorgelagerten Inseln, über die Rechte, in kretischen Häfen anzulegen, über die achaiischen Siedler an Kretas Westküste – all das. Aber ich scheine mich nicht mit ihnen verständigen zu können. In ihren Augen bin ich keine Herrscherin, sondern nur eine Priesterin. Sie reden mit mir, sie nicken und sind halbwegs höflich, aber sie schauen hinter mich, als würden sie erwarten, dass dort ein Mann auftaucht. Ein König, einer, der wirklich imstande ist, mit ihnen zu sprechen. Sie nehmen mich nicht ernst. Und wenn sie mich ansehen, dann eher abschätzig. Nein, gierig.“
Akija dachte an ihre kurze Begegnung mit dem König von Argos. Ja, so war es gewesen. „Allmählich begreife ich. Du wolltest Iasa zum Hohepriester ernennen, damit die Achaier jemanden haben, den sie achten können. Aber du kannst sie doch nicht wichtiger machen, als sie sind! Wenn sie keine Frau als Herrscherin über Kreta anerkennen, dann tun sie es eben nicht! Was sollte es uns kümmern …“
Mijaro streckte den Rücken. „Ich erkläre dir das alles durchaus nicht, weil ich deine Meinung hören will.“
„O ja, ich verstehe“, sagte Akija bitter. „Du stellst mich vor vollendete Tatsachen, so wie heute Mittag, nicht wahr?“
Mijaro schwieg daraufhin lange. Nur die verhaltenen Handgriffe der Dienerinnen waren zu hören, und das Rascheln ihrer Kleider, während sie durch den Raum huschten. „Ich wusste, dass du es nicht ohne Weiteres hinnehmen würdest. Du hättest mir – uns – große Schwierigkeiten gemacht. Als ich die Entscheidung traf, musste es schnell gehen, andernfalls hättest du dir zu viele Gedanken gemacht. Auch so war ich mir nicht sicher, dass du dich fügen würdest. Aber niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass du deinen Bruder opferst, um dein Erbrecht zu verteidigen.“
Akija sprang mit einem Aufschrei der Empörung auf. „Was redest du da? Ich habe ihn nicht geopfert. Der Stier hat ihn getötet!“
Auch Mijaro erhob sich. „Du hast Iasa nicht gerettet, obwohl du die Möglichkeit dazu hattest. Obwohl du nichts weiter tun musstest, als ihn hinter die Schutzwand zu ziehen. Aber du hast es nicht getan.“
„Begreif doch, ich konnte es nicht!“, rief Akija.
Mijaro riss eine Hand hoch – wollte sie wirklich zuschlagen? Sie ließ die zur Faust geballte Hand sinken. „Sei still! Mir genügt, was ich gesehen habe. Im Übrigen bin ich dir keine Rechenschaft schuldig. Meine Entscheidung hätte dem Frieden und Wohlstand Kretas dienen sollen, aber du hast alles zunichtegemacht. Stattdessen werden die Schwierigkeiten mit den Festländern nur mehr schlimmer werden. Denn immerhin war Iasa der Neffe von König Kaion von Mykene. Ich werde dich fortschicken.“
Akija hatte das Gefühl, ihr würde der Boden unter den Füßen fortgezogen. „Was sagst du da? Hat dir das dieser König eingeredet?“
„Bei der Göttin, nein! Du hast deinen Bruder auf dem Gewissen und verdienst eine Strafe. Du hast es dem Umstand zu verdanken, dass du meine Schwester bist, wenn ich nichts weiter tue als dich zu verbannen. Es geschieht auch zu deinem Besten. Denn wenn du Glück hast, vergessen dich die Achaier.“
„Aber ich …“ Akija presste die Hand auf den Mund. Sie liebte die Insel über alles, hier war ihr Zuhause. Kreta war doch ihre Insel, ebenso sehr wie Mijaros. Sie war die Erwählte. Verzweifelt versuchte sie ihre Stimme zu bändigen, und als sie sprach, war es kaum mehr als ein Flüstern: „Wohin wirst du mich schicken?“
„Kia.“
„Auf diesen Felsenklotz?“ Hilflos fuhr sich Akija durchs Haar. „All das ist wirklich und wahrhaftig dein Ernst?“
„Es gibt dort eine Stadt mit Volk aus aller Herren Länder. Es schadet dir nichts, ein wenig Demut zu lernen. Vielleicht tröstet es dich ja, dass es Buriasch, der kanaanitische Händler, sein wird, der dich dorthin bringen wird. Immerhin hast du dich ja für ihn eingesetzt, was rechtens war, wie ich gestehen möchte. Gestern noch hätte ihn Kaion gezüchtigt, womöglich Schlimmeres, aber heute interessiert ihn das verständlicherweise nicht mehr.“
„Kias Oberpriesterin ist doch eine alte Frau, stark verwurzelt in den Bräuchen.“ Es schien Akija, als würde Mijaro sie in einem Tuch umfangen, dem sie sich niemals wieder würde entwinden können. „Ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie wird von deiner Entscheidung erfahren und sie nicht gutheißen.“
„Glaubst du, ich ließe mich von ihr umstimmen? Ich stehe zu meiner Entscheidung. Im Übrigen ist diese Priesterin kürzlich verstorben.“
Natürlich. Die Schwestern einer so alten Priesterin hatten sicher längst alle Enkel, falls sie nicht selbst schon gestorben waren. So hatte Mijaro die Wahl unter den anderen Priesterinnen treffen können, und zweifellos war die Nachfolgerin ihr treu ergeben.
„Genug davon“, sagte Mijaro hart. „Geh in deine Kammer und pack deine Sachen. Deine Dienerinnen werden dich nicht begleiten. Aber du wirst einen Leibwächter zur Seite haben, immerhin bist du eine hochrangige Priesterin. Du kennst ihn nicht; er ist Kreter und stammt aus Mallia, wo er als Priester diente. Es ist angemessen, dir einen Priester mitzugeben, damit er dir auch auf Kia dienen kann. Er ist schweigsam und mir gehorsam, und ich habe ihn angewiesen, dich überallhin zu begleiten.“
„Ich verstehe.“ Akija war danach, noch einmal zornig aufzuschreien, doch ihre Worte klangen eisig. Einzig die Kälte, die sie jetzt empfand, war ihr Schutz gegen das Entsetzen, das wie eine steinerne Faust tief in ihrem Magen saß.
„Gut. Alles ist nun gesagt“, erwiderte Mijaro ebenso kalt.
Akija wandte sich ab und ging zur Tür. Als sie zurückblickte, sah sie ihre Schwester am Fenster stehen, den Blick hinaus auf die Berge des Landes gerichtet. Was würde Mijaro nun tun? Es gab keinen Bruder mehr, den sie zu ihrem Nachfolger machen konnte. Nun, eine Antwort auf diese Frage würde Akija nicht mehr bekommen. Was sollte die mich auch interessieren?, dachte sie bitter. Mit alldem hatte sie nichts mehr zu tun. Sie würde auf Kia um ihre verlorene Familie weinen, und um das geliebte Land. Um sich. Und darüber alt und grau werden und verrotten.