Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 6
Prolog
ОглавлениеAn diesem Tag sollte Akija zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stiertanz sehen. Doch nicht nur das – es war ihre Mutter, die tanzen würde. Akija war mit ihren sechs Jahren alt genug, um den Tanzplatz zu besuchen. Denn mit dem Stier tanzen würde sie eines Tages auch.
Was genau das bedeutete, wusste Akija nicht. Aber da sie natürlich wusste, was ein Stier war, hatte sie eines Tages gefragt, ob der Tanz gefährlich sei. Doch die Mutter hatte sich zu ihr herabgebeugt, ihr über das endlos lange, lockige Haar gestrichen und ihre Furcht beschwichtigt: „Natürlich ist der Stier ein mächtiges Tier, und du solltest noch nicht in die Nähe seiner Hörner kommen. Aber wer darin geübt ist, mit ihm umzugehen, ist nicht in Gefahr. Und ich übe täglich. Ich bin eine der besten Stiertänzerinnen. Du musst dich nicht sorgen.“
Und da ihre Mutter immer die Wahrheit sprach, waren Akijas Bedenken zerstreut. An der Hand ihrer Amme verließ sie ihr Zuhause, den Palast mit seinen bunten Meerestieren und Blumen, die die Wände bevölkerten und jeden in eine zauberhafte, fröhliche Stimmung versetzten. Dort gab es Gänge, in denen Männer und Frauen an den Wänden entlangschritten. Sie waren so groß wie wirkliche Menschen, und wenn Akija an ihnen vorüberlief, glaubte sie sich in die alten Geschichten versetzt, die sich die Priesterinnen erzählten. Blaue Delfine schwammen über Türstürzen, und Greife und Stiere bewachten die Throne der Hüterin. Die Tiere waren so allgegenwärtig wie das Symbol der heiligen Doppelaxt. Sogar Akijas Trinkbecher zierten Tintenfische und Muscheln.
Aber noch schöner war die Landschaft außerhalb der Stadt, wo jetzt die Blütenpracht des Frühlings herrschte, das tiefe Grün der Zypressen mit ihren hellen Trieben die Wege säumte und der von der Küste wehende Wind die Ölbäume silbrig schimmern ließ. Möwen und Schwalben flogen weit über ihr durch den Sonnenschein.
„Weißt du, warum der Stiertanz immer zur Mittagszeit stattfindet?“, fragte die Amme. Akija heftete den Blick wieder auf die Pflastersteine der Straße und wartete auf die Antwort. „Weil dann die Sonne im Zenit steht und die Tänzer auf dem Stiertanzplatz nicht blendet. Schau, Kind, wir sind schon da.“
Neugierig reckte Akija den Kopf. Der Stiertanzplatz war nichts als eine Rasenfläche in einer natürlichen, flachen Erdmulde. Auf einer Seite fiel der Hang zur Tanzfläche steil ab und endete in einer mannshohen Mauer, ähnlich wie ein Brett, das Akija manchmal in einen Bach hielt, um das Wasser zu stauen. Darüber erhoben sich Sitzbänke. Gegenüber war der Hang flacher, dort trennte nur ein Zaun den Platz von der dahinterliegenden Graslandschaft. Dies war die Weide des Stiers.
„Dieser Tanz findet zu Ehren des jugendlichen Gottes statt, des Gefährten der Göttin“, erklärte die Amme. „Im Herbst steigt er in die Unterwelt hinab, um den Tod der Natur zu verantworten. Und im Frühjahr kehrt er zurück in die Arme der Göttin, und sie lässt vor Freude die Welt wieder grünen. Deshalb findet der Stiertanz hier draußen statt. Aber es gibt mehrere Stiertanzplätze.“
„Ich weiß!“, rief Akija eifrig. „Sogar der Hof des Palastes ist einer.“
„Du hast recht, Kind. Aber dorthin wird der Stier nur selten geführt. Er ist jetzt in diesem Haus, dem Haus des Stiers.“ Die Amme deutete auf einen Bau an einer Seite des Tanzplatzes, dem strenger Stallgeruch entströmte. „Wir hätten früher losgehen sollen. Sieh nur, die besten Plätze sind schon besetzt.“
Energisch packte sie Akija am Handgelenk und zog sie hinter sich her. Sie fanden noch zwei Plätze in der dritten Reihe der wacklig wirkenden Holzbänke. Akija setzte sich sehr vorsichtig. Das von unzähligen Zuschauern glatt polierte Holz bewegte sich nicht.
„Nun, wie gefällt es dir?“, fragte die Amme. Akija sah sich um. Aus allen Richtungen strömten die Menschen herbei; es herrschte eine Stimmung wie auf einem der vielen Marktplätze in der Stadt. Gegenüber sah sie die einfachen Fischer und Bauern an den Bretterzaun treten, während hier oben am Hang in bunte Stufenröcke gekleidete Frauen saßen, mit Muschel- und Kupferkettchen und kunstvoll drapierten Locken.
„Ich kann nichts sehen.“ Akija reckte den Hals. Sie sah das Tor des Stierhauses und den gegenüberliegenden Zaun, doch nur wenig vom Tanzboden. Die Sitzreihen vor ihr waren dicht besetzt.
„Ich werde dich nachher auf den Schoß nehmen“, versprach die Amme. „Als Mijaro zum ersten Mal hier war, hat sie auch nicht so viel gesehen.“
Akija fühlte sich nicht dadurch getröstet, dass es ihrer Schwester nicht besser ergangen war. Inzwischen war die vier Jahre ältere Mijaro sicherlich groß genug. Aber sie musste an manchen Tagen den Priesterinnen zur Hand gehen, und heute war so ein Tag. Keines ihrer Geschwister durfte heute dem Stiertanz beiwohnen, und Akija erfüllte es mit Stolz, dass nur sie hier war. Sie freute sich schon auf den Abend, wenn sie ihnen alles erzählen könnte, während sie gemeinsam auf den Palasttreppen sitzen und die Füße in den Regenrinnen kühlen würden. Mijaro jedoch würde sich wenig beeindruckt zeigen, denn sie war schon alt genug, um selbst die Schritte und Sprünge zu üben, die sie eines Tages zur Stiertänzerin machen würden. Nicht nur zur Stiertänzerin – Mijaro war auserwählt, eines Tages den Bergthron zu besteigen.
Und damit bist auch du auserwählt, hatte die Mutter zu Akija gesagt. Denn sie war die nächstältere Schwester. Das Amt wurde immer an die nächste Schwester weitergegeben, bis es keine mehr gab und eine der Priesterinnen erwählt wurde, die dann die neue Herrscherfamilie gründete. So wie Mijaro von der jetzigen Hüterin ausgewählt worden war. Merk dir diese Worte, meine Tochter: Wer Kreta führen will, darf kein Mann sein, darf keine Mutter sein und muss über die Hörner des Stiers springen.
Akija hatte wenig davon begriffen, nur eines: dass sie eines Tages auch lernen würde, mit dem Stier zu tanzen. Die Aussicht, endlich zu erfahren, was genau dies war – es zu sehen –, ließ sie unruhig zappeln. Ihre Mutter hatte sie einige Male mit zur Weide genommen. Dort unten am Holzzaun hatte sie sie auf die Schulter gehoben, damit sie den Stier besser sehen konnte. Und dort war er gewesen; weit entfernt hatte er friedlich gegrast. Dunkel sein Fell, mit ein paar weißen, unregelmäßigen Flecken, seine Hörner riesig, jedes so groß wie ein erwachsener Mann. Oder noch viel größer – einfach ungeheuerlich groß. Und sie hatten in der Sonne wie Schnee geleuchtet.
Eine Priesterin trat aus dem Haus des Stiers. Ihr Mieder war so eng geschnürt, dass es die Brüste anhob, die wie zwei glänzende Äpfel aus dem Ausschnitt ragten. Ihren Kopf zierte eine kegelförmige Bedeckung, um die sich eine Schlange ringelte. War sie echt? Die Schlangen an den ausgestreckten Armen ganz bestimmt, denn sie bewegten sich und ließen die Zungen vorschnellen.
„Dies ist die Hüterin Kretas“, hörte Akija die Stimme der Amme über den Lärm hinweg. „Sie wird nachher den Stier mit der heiligen Doppelaxt opfern.“
Was es bedeutete, wenn ein Tier geopfert wurde, wusste Akija genau, doch sie war sich nicht sicher, ob sie es wirklich sehen wollte, wenn es den stolzen, mächtigen Stier traf. „Dann werde ich die Augen schließen“, erklärte sie unruhig.
Die Amme lachte auf, wandte sich ihrer Sitznachbarin zu und begann ein Gespräch. Es sah so aus, als interessiere die Frauen das Geschehen unten auf dem Tanzplatz nicht sonderlich. Sie unterhielten sich und ließen die Geschmeide an den Handgelenken und Ohren klirren und klappern. Akija rutschte ungeduldig auf ihrem Platz hin und her und drehte den Kopf in alle Richtungen. Überall saßen Frauen, dazwischen einige Männer, doch nur wenige Kinder, und diese waren ein ganzes Stück größer als sie. Akija stellte die Fersen auf das Sitzbrett und stand auf.
Nun konnte sie den ganzen Tanzplatz überblicken. Ihr Herz schlug höher, denn in diesem Augenblick betrat ihre Mutter gemeinsam mit zwei weiteren Tänzerinnen den Platz.
Akija fühlte bei ihrem Anblick unbändigen Stolz. Kraftvoll schritt ihre Mutter aus, und das lange, ungebändigte Haar wirbelte um ihre breiten Schultern. Sie war fast nackt, bis auf einen wulstigen Gürtel und ein weißes Tuch, das kunstvoll um ihre Hüften geschlungen war, sodass eine Ecke wie eine Spitze tief über ihre Schenkel ragte. Diese Tuchecke war mit einer kleinen Figur beschwert, der ersten Figur, die Akija selbstständig aus Speckstein geschnitten hatte. Sie war natürlich nicht gelungen – sie sollte eine kleine Schlange darstellen und sah doch nur aus wie ein irgendwo aufgelesener Stein –, doch ihre Mutter hatte ein Loch hindurchgebohrt und sie an ihrem Springerschurz befestigt. Nun pendelte die kleine Schlange vor ihren Schenkeln hin und her.
Die drei Tänzerinnen blieben in der Mitte des Platzes vor der Hüterin stehen. Mittlerweile hielt sie statt der Schlangen eine bronzene Doppelaxt in den ausgestreckten Händen. Nacheinander berührten die Frauen den Schaft der Axt.
„Akija, setz dich!“
Die Amme zerrte an ihr, sodass sie unsanft auf dem nackten Gesäß landete. Doch weitere Schelte blieb aus; die Amme wandte sich wieder ab.
War dies die Axt, mit der die Hüterin den Stier opfern würde? Werde ich das eines Tages auch tun?, fragte sich Akija. Allein der Gedanke war aufregend. Sie ergriff die Hand der Amme, doch die schien sie nicht wahrzunehmen. Mit einem Mal fühlte sich Akija alleingelassen. Furcht beschlich ihr Herz.
Sie wischte sich über die tränenfeuchten Augen, und als sie wieder hinunterblickte, erschien der Stier im Tor. Zuerst waren nur die weißen Hörner zu sehen. Jetzt erschienen sie ihr nicht mehr ganz so groß wie damals am Weidezaun, aber immer noch gewaltig. Langsam schob sich der mächtige Kopf aus dem Schatten. Die Menschen gegenüber am Zaun schrien auf. Die Amme stockte kurz in ihrer Unterhaltung mit der Sitznachbarin; ihre Hand ballte sich unerwartet und schmerzhaft um Akijas Finger, doch dann redete sie weiter drauflos. Die Mutter hatte einmal erzählt, dass es zum guten Ton gehöre, während der Darbietung zu schwatzen und gute Laune zu zeigen. Doch Akija konnte die Anspannung spüren, die in den Stimmen der Frauen lag.
Der Stier trottete auf den Platz. Wieder schrien die Leute hinter dem Zaun auf. Wo waren die Tänzerinnen? Wo war ihre Mutter? Über den Lärm hinweg vernahm Akija das Schnaufen des Stiers, das Scharren der Hufe und die Schritte der Tänzer.
Sie entzog ihrer Amme die Hand und glitt unter die Bank. An unruhig wippenden Füßen und raschelnden Röcken vorbei kroch sie zum Ende der Reihe, richtete sich vorsichtig auf und warf einen Blick zurück. Die Amme hatte nichts bemerkt. Erleichtert rannte Akija hinter den Bankreihen entlang und den Hang hinunter. Hier saßen die Leute im Gras, darunter auch einige von den feineren Damen, die oben keinen Platz mehr gefunden hatten. In den letzten Reihen hatten sich die Menschen auf den Knien aufgerichtet oder standen, und Akija konnte nichts sehen. Sie lief in Richtung des Weidezauns, wo sie hoffte, zwischen den Beinen der Leute bis an den Zaun kriechen zu können.
Die Leute hier unten unterhielten sich nicht; sie schrien und klatschten laut. Erneut wurde Akija von Furcht erfasst. Sie versuchte sich zwischen den Menschen hindurchzuzwängen, und als das nicht gelang, ließ sie sich auf die Knie und Hände nieder. Nun war es einfacher. Jemand trat ihr auf die Finger und sie unterdrückte einen Schrei, aber bald sah sie zwischen dem Wald der Beine die Zaunbretter hindurchschimmern.
Und hinter den Brettern …
Dort war nur Staub.
Mit einem Mal erklangen aus unzähligen Kehlen Schreie. Stille folgte.
Akijas Angst wuchs. Endlich war sie am Zaun; sie reckte ihre Hände, um eines der Bretter zu greifen und sich daran hochzuziehen. Der Staub lichtete sich. Jemand lag auf dem Platz – eine Frau.
Mutter!
Daneben knieten die beiden anderen Tänzerinnen. Der Stier stand abseits. Er bewegte seinen Kopf, die Sonne ließ seine weißen Hörner aufblitzen. Zwei Männer, Stierpriester vermutlich, standen bei ihm und hielten ihn mit Stricken. Eine der Hornspitzen war nicht mehr weiß. Sie war rot.
Akija schlüpfte zwischen den Brettern hindurch und rannte auf den Platz. Sie nahm noch wahr, dass die Leute hinter ihr herriefen, aber sie hatte nur Augen und Ohren für die leblose Gestalt, die dort im Gras lag. Der Weg zu ihr schien unendlich weit zu sein. Ich will nicht zu spät kommen, dachte sie, und nun wandelte sich die Angst in Entsetzen, als sie diese Worte auch begriff. Es konnte nicht sein, ihre Mutter konnte nicht sterben. Sie hatte es ihr versprochen!
Sie streckte die Hand aus. Ihre Mutter wandte den Kopf in ihre Richtung und öffnete die Augen. Und auch sie streckte die Hand aus. Es war eine langsame Bewegung; Akija ahnte die Mühsal, die es kostete. Die Mutter öffnete den Mund und lächelte beschwichtigend. Es war fast geschafft. Ihre Fingerspitzen berührten einander.
Akija konnte nicht zugreifen. Der Körper der Mutter erhob sich vor ihren Augen, getragen von den Tänzerinnen und noch zwei, drei Priestern. Hatten sie sie nicht bemerkt? Mutters Hand wurde ihr entzogen; Akijas Finger glitten ab, strichen über den weißen Schurz und bekamen nur die seitlich über dem Schenkel baumelnde Schlange zu fassen. Im gleichen Augenblick, als sie sie umschlossen, wurde sie umgestoßen. Endlich schrie sie auf. Ein Priester war bei ihr und hob sie hoch. Akija schrie und streckte die Arme nach ihrer Mutter aus, aber der Mann ließ sie nicht hinunter. Er drehte sich, sodass sie nur noch den Bretterzaun sah, hinter dem sie eben gewesen war – vor wenigen Augenblicken, als sie noch geglaubt hatte, dass das niemals geschehen könne.