Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 15
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ОглавлениеDie Zeit der Stürme schien weit fort zu sein. Akija stand am Bug, die Hände auf der Kante der Bordwand. Sie wusste, das Wetter konnte schnell umschlagen, doch angesichts eines strahlend blauen Himmels und einer wärmenden Sonne fiel es ihr leicht, an eine rechtzeitige Rückkehr nach Kreta zu glauben. In ihrem Herzen herrschte ein bohrender Druck, und ihre Gedanken flogen weit voraus übers Meer, zurück nach Knossos. Zurück in den Palast. In den Thronsaal, wo noch immer Mijaro saß. Vielleicht war alles sinnlos und Mijaro würde sie nicht willkommen heißen. Warum sollte sie auch? Hätte sie nicht längst nach der Schwester geschickt? Wenn ich vor ihr stehe, wird sie sich besinnen, redete Akija sich ein. Welche andere Lösung sollte es geben?
Immer wieder blickte sie zurück zu dem ockerfarbenen Segel und vergewisserte sich, dass es straff vorgewölbt im Wind stand. Das kanaanitische Handelsschiff war nicht so schwerfällig, wie es den Anschein gehabt hatte, als sie das Deck betreten und einen Blick in den prall gefüllten Laderaum geworfen hatte. Der Schiffsführer hatte ihr versichert, dass eine schwere Ladung durchaus nicht mit einem Verlust an Geschwindigkeit einherging.
Bereits heute Nachmittag würden sie am Zielhafen anlegen, einer kleinen achaiischen Stadt, die all die Zinnbarren kaufte, die jetzt im Rumpf lagerten, dazu Stoffballen, versiegelte Krüge mit Olivenöl und Kisten mit Dörrfisch.
„Die Stoffe sind für Knossos bestimmt, sie werden in der achaiischen Stadt nur gelagert“, erklärte Buriaschs Gehilfe, ein junger Mann, der noch nicht mit der wohlbeleibten Figur seines Herrn aufwarten konnte, dafür reichlich mit dem Stolz der kanaanitischen Handelsherren. Da die drei Gäste ihm anvertraut waren, legte er alle gebotene Höflichkeit an den Tag, hatte aber deutlich sein Unverständnis dargelegt, weil sie umsonst reisen durften.
„Diese Kanaaniter verkaufen ihre eigene Familie, heißt es“, raunte Temidqe ihr zu, der zu ihr an den Bugsteven kam. Wachsam sah er sich um. „Warum ist Buriasch so freundlich zu dir?“
Akija wusste nicht, ob die Geschichten über die Kanaaniter der Wahrheit entsprachen. Sie hatte aber oft gehört, dass sie ihren Göttern Kinder opferten – nicht etwa, um ein unheilvolles Ereignis abzuwenden, sondern als Teil der ständigen Verehrung. Doch das waren nur Geschichten, und die Städte der Kanaaniter lagen an einer Küste weit im Südosten. Die Küstenlinie des Festlandes war eine ständige Bedrohung, und sie wusste, dass Temidqe nach achaiischen Piratenschiffen Ausschau hielt.
„Er beklagte sich im Palast darüber, dass eines seiner Schiffe von Mykenern überfallen wurde. Ich trat für ihn ein, als die Hüterin ihn in die Hände des mykenischen Königs geben wollte.“
Er wandte den Blick nicht vom Meer ab. „Es steht mir nicht zu, das zu sagen, aber deine Schwester scheint sehr hartherzig zu sein.“
„Sie ist verunsichert. Die Achaier bedrängen sie ständig wegen irgendwelcher Angelegenheiten, zeigen ihr aber andererseits, dass sie sie nicht ernst nehmen. Und das nur, weil sie unsere Bräuche und Traditionen nicht verstehen wollen. Bei ihnen herrscht der König, und die Frau bindet er mit einem Ritual an sich. Das tun auch die einfachen Menschen – sie heiraten. Und er wartet darauf, dass sie ihm einen Sohn schenkt, an den er den Thron weitergeben kann. Das alles ist seltsam.“
„Du verstehst also die Bräuche und Traditionen der Achaier nicht?“, fragte er mit spöttischem Lächeln und warf ihr einen warmen Seitenblick zu.
„Nein. Aber ich lasse sie ja auch in Ruhe!“
Sie stieß sich von der Bordwand ab und marschierte übers Deck, vorbei am Mast und unter den handgelenkdicken Trossen hindurch. Die Ruderer saßen beisammen, würfelten und zupften an Fladenbroten. Solange der Wind so gut stand, gab es für sie nichts zu tun. Kusupata hockte abseits mit dem Rücken an der Bordwand. Sie spürte seinen Blick, als sie an ihm vorüberstapfte und zur Ladeluke ging. Er war so lästig wie eine Fliege, die von Schweißgeruch angezogen wurde. Während sie über eine schmale Leiter in den düsteren Laderaum hinabkletterte, dachte sie über Kusupata nach. Nur ein schmaler Gang in der Mitte war frei geblieben, zwischen Kisten mit Trockenfisch und den festgezurrten Zinnplatten, die aus einem fremden Land im Osten stammten. Bei den in Wachstüchern eingehüllten Stoffballen hatte Akija ihren Sack verstaut; sie nahm einen Apfel und ein Stück Brot heraus, setzte sich auf eines der Wachstücher und begann zu essen. Sie ließ sich Zeit, denn sie war froh, hier unten Kusupatas Blicken entzogen zu sein. Als sie fertig war, zog sie ihre Schmuckschatulle aus dem Sack und öffnete sie. Den Kanaanitern war nicht zu trauen; sie waren so diebisch wie die Achaier. Aber nichts fehlte. Nun, wenn sie erst die Überfahrt nach Kreta bezahlen musste, würde sie ohnehin die Hälfte davon einbüßen; sie zweifelte nicht daran, dass der achaiische Händler, den sie im Süden des Festlandes anzutreffen hoffte, ihre Notlage schamlos ausnutzen würde.
Sie steckte die Schatulle zurück. Auch ihr Priesterinnenkleid lag sorgfältig zusammengefaltet im Sack. Kaum hatte sie ihn wieder an seinem Platz verstaut, hörte sie den Schiffsführer bei seinen Göttern fluchen, und die Füße der Ruderer trommelten übers Deck. Befehle erschallten; die Ruder knatterten, als sie über die Bordwände geschoben wurden, und das Wasser gischte, wenn sie eintauchten. Akija kletterte zurück an Deck. Die Männer saßen an den Riemen; gleichförmiger Trommelschlag donnerte vom Heck her über das Schiff.
Zafar-El stand am Hecksteven, bei ihm Temidqe und Kusupata. Akija hörte sie aufgeregt reden. Sie rannte zu ihnen, doch angesichts des fremden Schiffes war es nicht mehr nötig, nach dem Grund des Aufruhrs zu fragen. Es war weit entfernt, aber sein rotes, mit schwarzen Spiralen bemaltes Segel gut zu erkennen.
„Baal ist ungerecht“, jammerte Zafar-El. „Kaum wagt man sich aufs Meer hinaus, sind diese Piraten da. Rudert, ihr Hunde!“
Die Männer taten ihr Bestes; ihre Arm- und Schultermuskeln bewegten sich wie lebendige Tiere unter schweißüberzogener Haut. Aber ihre Anstrengungen machten das Schiff nicht schneller, da der Wind jetzt kräftig wehte. Auch das rote Segel der Verfolger stand wie ein praller Ball vor dem Mast. Sie schienen ihre Ruderer jedoch nicht einzusetzen. Es war nicht nötig, die Zeit arbeitete für sie. Irgendwann würden die Kräfte der kanaanitischen Ruderer nachlassen, und dann waren sie im bevorstehenden Kampf keine Gegner mehr.
„Hast du Waffen, Zafar-El?“ Temidqe musste schreien, um sich über den Lärm des Wellengangs Gehör zu verschaffen. Der Wind brachte das Meer zum Kochen; die Gischt spritzte an den Bordwänden hoch und regnete auf die Schultern der Ruderer. Jetzt war der Himmel grau und düster, und in der Ferne hing der Regen unter den Wolken wie die Fransen eines fremdländischen Teppichs.
„Dolche und Bogen“, rief Zafar-El. Er schien die Hände verzweifelt ringen zu wollen, aber der Wellengang zwang nicht nur ihn dazu, sich an der Bordwand festzuhalten. „Aber ihr Kreter seid doch genauso wenig Krieger wie wir!“
„Das ist wahr. Aber wenn wir uns verteidigen müssen, dann können wir das auch.“ Temidqe drehte sich um und stemmte sich gegen den Wind. „Akija! Für dich ist es besser, wenn du in den Laderaum gehst.“
„Warum? Du hast doch gerade gesagt, dass wir uns verteidigen, wenn es sein muss. Gilt das nicht für mich?“
„Nein, verdammt, du hast recht! Was solltest du da unten? Wenn sie uns einholen, töten sie uns auch, und dann ist es gleichgültig, wo du dich aufhältst. Wenigstens werden sie dich verschonen.“
Akija wusste, was er meinte. Wer als Frau auf diese Art in die Hände der Festländer fiel, wurde versklavt. Warum habe ich um mich keine Angst?, fragte sie sich mit eigenartiger Nüchternheit. Ich könnte die Hörner des Stiers nicht berühren, ohne vor Angst zu sterben, aber in diesem Augenblick kümmert mich mein Schicksal nicht.
Sie sah die Antwort in Temidqes Augen: Sie fürchtete sich allein um ihn. Der Gedanke, er könnte jetzt sterben, nun, da sie von ihm nichts weiter als einen Kuss bekommen hatte und so viel mehr wollte, war ihr unerträglich. Wo waren die Tage auf Kia geblieben? Waren sie tatsächlich ungenutzt verstrichen?
Welch eine Grausamkeit das doch war! Sie erkannte, dass er in diesem Augenblick ähnliche Gedanken wälzte. Sie blickten sich an, und es schien ewig zu dauern, diese unausgesprochenen Worte auszutauschen; dann fiel das Schiff in ein Wellental, und Akija verlor das Gleichgewicht.
Sie fiel auf die Planken und rollte zur Seite, wo die Ruderer inzwischen die Riemen eingezogen hatten und an der Bordwand festzurrten. Temidqe war es gelungen, auf den Beinen zu bleiben. Er taumelte auf sie zu, während er sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht hielt.
„Wir müssen Taue auf dem Deck spannen!“, schrie er über den Lärm der aufgewühlten See hinweg. „Und das Segel muss herunter!“
„Nein!“, heulte Zafar-El, der hinter ihm hertaumelte. „Dann holen sie uns ein.“
„Das Segel wird das Schiff kentern oder den Mast brechen lassen. Und wenn nicht, wird es zumindest zerrissen. Ist dir das nicht klar?“
Der Kanaaniter klammerte sich an die Masttrossen, um sich dicht an Temidqe heranzuziehen und ihm seinen Zorn ins Gesicht zu schleudern. Seine so kunstvoll mit heißen Bronzestäben erzeugten Bartlocken zerrten an seinem Kinn und verliehen ihm ein wildes Aussehen. „Glaubst du, du könntest mir etwas vormachen? Mein Volk beherrscht das Meer so wie deines!“
Ein Regenguss prasselte aufs Deck. Akija war sofort durchnässt, und der Wind ließ sie erbärmlich frieren. Temidqe starrte den Händler an. „Willst du uns umbringen?“, brüllte er.
„Lieber gehe ich mit meinem Schiff unter, als dass es in die Hände der beutegierigen Achaier fällt“, rief Zafar-El inbrünstig. „Niemand rührt das Segel an!“
Temidqe blickte zum Schiffsführer, der gemeinsam mit den beiden Steuermännern die Ruder zu bändigen versuchte und das Segel nicht bergen ließ. Ein paar Männer schleppten aufgerollte Seile heran und begannen sie an den Trossenschlaufen festzuknüpfen.
„Sie sind nicht mehr zu sehen“, hallte Kusupatas Stimme über das Deck. Er winkte und deutete hinter sich.
„Dann sind sie klüger als wir“, hörte Akija Temidqe sagen, doch sicher war sie sich nicht. Die Rah bog sich unter dem Druck. Akija wankte zur Luke und sprang unters Deck, um nach Tauen zu suchen. Jetzt tanzte das Schiff entfesselt auf den Wellen, und sie wurde zur Seite geschleudert. Der Laderaum erschien ihr auf einmal wie eine Rassel, die von der Hand einer riesigen Musikantin geschüttelt wurde. Gegenstände rollten hin und her, und das Knarren der Planken war, anders als vorher, ohrenbetäubend.
Sie taumelte durch den Gang und fand ein Seil. Irgendwo in ihrem Kopf waberte der Gedanke, dass sie alle hier unten Schutz suchen sollten, aber war das richtig? Und wer würde sie jetzt hören? Wieder glitt sie aus, als sich das Schiff nach vorne neigte und zu fallen schien. Auf den Knien rutschte sie zurück zur Luke und landete in den Armen eines Kanaaniters.
Ein dumpfes Knarren erhob sich über das Getöse. Es kam von den aufgestapelten Zinnplatten. Plötzlich wurde das Schiff von einer übermächtigen Faust erschüttert. Akija und der Mann fielen zu Boden, Tongefäße klirrten, Olivenöl ergoss sich über sie, gefolgt von einem der Stoffballen. Erschrocken strampelte Akija den weißen Stoff, der sich über sie zu breiten drohte, fort. Mit eigenartiger Klarheit erkannte sie, dass er durchnässt war – nicht von dem Öl, sondern von Salzwasser. Sie bemerkte, wie der Seemann auf allen Vieren zwischen der lebendig gewordenen Ladung kniete und zum Heck starrte.
Dort gähnte ein riesiges Loch. Akija sah den grauen, verregneten Himmel, als sich das Schiff über eine Welle erhob, dann den brodelnden Horizont. Eine Wasserfontäne schoss herein. Der Kanaaniter stieß verzweifelte Worte in seiner Sprache aus, während ihn das Wasser hob und zum Heck trug. Und dann war er so schnell durch das Leck verschwunden, dass Akija sich nicht sicher war, ob sie das wirklich gesehen hatte.
Das Wasser umspülte ihre Knie. Sie wusste, sie musste zurück aufs Deck. Aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Über das Tosen hinweg glaubte sie das Stampfen und Schnaufen des Stiers zu hören, und für einen Augenblick war sie überzeugt, dass sie in seine glühenden Augen blicken würde, wenn sie jetzt den Kopf hob.
Ein Knarren über ihr, noch lauter als alles andere und noch bedrohlicher. Mit einem Mal war Temidqe bei ihr und zog sie auf die Füße. Sie rannte mit ihm zur Luke und ließ sich von ihm hochheben. Oben packte Kusupata ihre Handgelenke und zerrte sie mit solcher Wildheit aufs Deck, dass sie sich die Oberschenkel aufscheuerte – vermutlich, wirklich spüren konnte sie es nicht. Hier oben schien sich die Welt verändert zu haben. Der windgepeitschte Regen war so stark, dass er fast schmerzte; der Himmel stand dunkel über den Wellenbergen. Akija hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung der Wind wehte. Die See kochte; ständig gischtete die Bugwelle über die Bordwand, sodass die Planken von weißem Schaum überzogen waren. Zafar-El und drei der Männer hatten Taue um ihre Hüften geschlungen und kauerten mit aschfahlen Gesichtern an der Bordwand. Die Ruderpinnen waren aufgegeben; nun schlugen sie im Takt der Wellen gegen das Schiff.
All das nahm Akija nur für einen kurzen Moment wahr, bevor sie sich dem unheilvoll knarrenden Mast zuwandte. Das Segel war noch immer gehisst. Doch jetzt wies es einen tiefen Riss auf. Einige der Segeltrossen waren vergebens gekappt worden. Niemand wagte jetzt noch, auf die Rah zu steigen, um das Segel einzuholen.
Kusupata zog sie mit sich zur Bordwand, wo er ein Ende eines Seiles ergriff und durch eine der Trossenschlaufen führte. Dann knüpfte er es sich um die Mitte. „Binde dich fest!“, schrie er sie an, doch sie hörte ihn kaum. Sie starrte zu Temidqe, der die letzten Segeltrossen zu kappen versuchte. Warum gab er nicht auf? Es war zu spät! Alle anderen hatten sich irgendwo festgebunden und überließen das Schiff sich selbst.
Eine Welle schüttelte das lose Segel. Behäbig begann sich der Mast zu senken. Die Planken unter dem Mastfuß splitterten. Akija schrie Temidqes Namen, doch der heulende Wind riss ihn von ihren Lippen. Temidqe warf das Messer fort und versuchte zur Bordwand zu kriechen, aber er wurde nur hin und her geschleudert. Der Mast schlug das Deck der Länge nach entzwei, keine drei Schritte von Akijas Füßen entfernt, und bohrte sich durch den Rumpf. Wasser schoss aus dem Leck in die Höhe. Akija klammerte sich an die Bordwand und senkte den Kopf, um sich vor den peitschenden Trossen zu schützen. Sie hörte unter sich ein Scharren und Rumpeln, und sie ahnte, dass es die Zinnplatten waren, die sich gelöst hatten. Als sie irgendwann, nach einer halben Ewigkeit, hochzublicken wagte, stockte ihr der Atem: Das Schiff war in zwei Hälften gespalten. Die Bordwand gegenüber war zerstört und begann zu sinken. Die Kanaaniter, die sich daran festgebunden hatten, schlugen voller Panik um sich.
Im nächsten Augenblick schwammen dort, wo sie eben gewesen waren, die versiegelten Krüge. Ihre Hälse tanzten auf dem Wasser; zwischen ihnen entfalteten sich anmutig die weißen Stoffe. Aber schon riss die nächste Welle alles mit sich fort. Das Deck begann sich zu neigen und wollte Akija den Seeleuten hinterher ins Meer spülen. Das Seil, das sie in der Hand hielt, begann sich zu straffen. Gierig griff das kalte Wasser nach ihren Füßen.
Kusupata streckte sich nach ihr, aber sie begriff, dass es ihr Tod sein musste, wenn sie das Seil losließ, um nach seiner Hand zu greifen. Sie stürzte ins Wasser; Kälte und Dunkelheit hüllten sie ein, sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen. Voller Entsetzen trat sie mit den Füßen nach dem Wasser; ihre Hände umklammerten das Seil so fest, dass es ihre Finger zerschnitt. Ihr Mund füllte sich mit Wasser. Große Göttin, nein, nein, lass mich nicht sterben! Dann hatte sie das Wellental erreicht, und sie wurde aus dem Wasser zurück auf die Planken geschleudert. Wie sie es schaffte, endlich das Seil mit blutigen Fingern um ihre Mitte zu knüpfen, hätte sie nicht sagen können. Was sie tat, war nur noch getrieben vom Instinkt eines Tieres in Todesangst.
Wo war Temidqe? Er musste auf dem anderen Teil des Schiffes sein – jenem, das nicht mehr zu sehen war. War es abgetrieben? Untergegangen?
Es war Kusupata, der sie an sich zog. Nein, der sich an ihr festklammerte. Sie nahm ihn kaum wahr. Ihre kalten Lippen formten wilde Gebete, stießen heisere Schreie aus. Um sie nur beißende Gischt und das Klatschen der eigenen Strähnen im Gesicht. Sie war weniger als ein Tier, sie war ein Ding, das zerbröselte unter gewaltigen Händen. Das Schiff unter ihr – oder waren es nur noch lose Planken? Sie wusste es nicht – schlingerte und tanzte auf den Wellen und würgte sie. So schien es Stunden zu gehen, während derer sie auf die eine Welle wartete, die sie endgültig unter Wasser drückte.
Stattdessen bemerkte sie irgendwann, dass der Regen nachließ. Sie wagte es, eine Hand zu heben, um die Haare aus dem Gesicht zu streifen. Der Himmel war dunkel, und langsam begriff sie, dass es Abend geworden war. Die See beruhigte sich. Sie konnte über die Wellenkämme hinweg die Küstenlinie sehen. Waren dort nicht sogar Lichter? Von Feuern? Sie starrte zur Küste, als könne ihr Blick das Wrack wie an einem Treidelseil ans Land ziehen. Sie sehnte sich nach dem Land; und es war ihr inzwischen gleichgültig, ob sie dort von helfenden Händen aufgefangen oder an felsigen Klippen zerschellen würde.
„Der Sturm hat nachgelassen“, rief sie, und wahrhaftig, sie konnte die eigenen Worte hören. Vorsichtig drehte sie sich auf den Knien. Da war das Heck. Der Rest des Hecks. Dort lag Zafar-El mit dem Oberkörper im Wasser. Sein bunt besticktes Gewand war bis zum Gesäß hochgeschoben, sein linker Fuß steckte in einem Stoffschuh. Im Takt der Wellen hoben und senkten sich seine Füße. Akija verschloss die Augen vor diesem seltsamen Anblick. Sie waren alle tot.