Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 12
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ОглавлениеDas kleine Gipfelheiligtum war nur ein paar Schritte vom Haus entfernt, auf der höchsten Erhebung dieses Teils der Insel. Ein kniehohes, kreisrundes Mäuerchen markierte den heiligen Bereich; das Heiligtum selbst war ein aus drei nebeneinander liegenden Kammern bestehendes Tempelchen. Temidqe schob einen der im Wind flatternden Vorhänge beiseite. Akija sah nur einen Altarstein, auf dem kleine Votivfigürchen standen. In den kleineren Kammern lagerten die Gerätschaften, die für den Kult benötigt wurden.
„Die Priesterschaft besteht zurzeit nur aus einem Priester, einer jungen Schülerin und mir – und jetzt dir“, sagte er. „Die Priesterschülerin kümmert sich um die Pflege des Heiligtums. Ansonsten beschäftigen wir uns mit dem Gemüsegarten und opfern der Göttin von den Früchten. Opfertiere kaufen wir unten in der Stadt. Um den Wein kümmert sich der alte Priester. Es sind nur wenige Rebstöcke, aber die Arbeit ist schon fast zu viel für ihn. Ich verstehe leider nichts vom Weinanbau. Du?“
Akija schüttelte den Kopf. Temidqe stieg auf das Mäuerchen. „Umherziehende Priester finden leider selten den Weg zu uns.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Und falls doch, wollen sie meistens nicht lange bleiben. Das Mädchen ist auch nur hier, weil es unten in der Stadt lebt und seine Familie wenig zu essen hat. Ich verstehe das nicht.“ Mit ausgebreiteten Armen drehte er sich auf dem Mauerkranz. „Es ist eine schöne Gegend. Dort unten in der Stadt ist alles eng und laut, aber hier oben haben wir Ruhe und können den Blick schweifen lassen. Es ist ein friedlicher Ort, an dem die Göttin gerne verweilt.“
Akija stellte sich neben ihn. Westlich war das Festland zu sehen; es schien gefährlich nahe zu sein. Im Norden der Insel entdeckte sie eine große Bucht. „Wäre dies nicht ein geeigneterer Ort für eine Stadt?“
„Durchaus. Aber wie Siedlungen entstehen, blühen und vergehen, ist nicht immer eine Frage der Vernunft. Dort gab es vor langer Zeit eine achaiische Siedlung. Piraten, so heißt es, hätten diese Bucht beansprucht. Nun lebt dort längst niemand mehr, aber ihretwegen entstand unsere Stadt hier. Auch die Felsen hier haben ihre Schönheit und Vorzüge.“ Es klang beinahe so, als habe er diese Gegend nie verlassen.
„Möchtest du nicht einmal andere Inseln, andere Länder sehen?“, fragte sie verwundert.
„Hast du denn schon andere Länder bereist?“
„Nein. Aber ich kenne Kreta. Es gibt keinen schöneren Ort.“
Er sprang zu Boden. „O, Kreta kenne ich auch. Vor einigen Monaten besuchte ich Knossos. Aber dies hier ist mein Zuhause. Meinen Dienst hier begann ich schon als halbwüchsiger Junge. Auch ich lebte zuvor unten in der Stadt. Komm!“ Er ergriff Akijas Hand, und sie ließ es geschehen. Als sie die Felsen hinunterstiegen, kam ihnen die junge Priesterschülerin entgegen. Sie begrüßte Akija ehrerbietig und stieg an ihnen vorbei zum Heiligtum hinauf. Im Hof ergriff Temidqe wieder ihre Hand, doch jetzt entzog sie sich ihm.
„Ich verstehe, dass es dir hier gefällt“, begann sie zögernd, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Nein, nicht weil es mir hier auch gefällt – das tut es nicht –, sondern weil du hier groß geworden bist. Aber das betrifft dich, nicht mich. Verstehst du?“
„Akija …“ Er setzte sich an den Rand des Wasserbeckens im Innenhof seines Hauses, schöpfte ein wenig Wasser und benetzte seine Stirn. „Du empfindest dies alles hier als Armut, und sicher ist es …“
„Nein!“, unterbrach sie ihn heftig. „Das ist völlig ohne Belang.“
„Du hast Heimweh.“
Sie unterdrückte den Wunsch, sich abzuwenden. „Nein“, beharrte sie und ärgerte sich über die plötzliche Zittrigkeit ihrer Stimme. Oder ärgerte sie sich wieder über seine Gelassenheit? Sie fragte sich, ob dieser Mann etwas wie Zorn überhaupt kannte.
„Das erfrischt“, sagte er und streckte die Füße ins Becken. „Versuch es.“
Akija raffte ihr inzwischen abgetragenes Hemd, stieg ins Becken und setzte sich ihm gegenüber auf die Einfassung. Das kühle Wasser reichte ihr bis zu den Waden. „Hat es einen Zulauf?“, fragte sie und starrte auf den Grund des kleinen Beckens.
Er schüttelte lachend den Kopf. „Wir sind hier doch nicht in Knossos! Nein, ich gehe alle paar Tage ein Stück den rückwärtigen Hang hinunter; dort entspringt eine Quelle. Drei- oder viermal muss ich Eimer schleppen, dann ist es geschafft.“
„Und das hast du heute früh auch getan?“ Sie schöpfte eine Handvoll Wasser und goss es sich übers Gesicht. Was war er für ein erstaunlicher Mensch, dass er die Dinge eines Dieners oder Sklaven tat und zufrieden damit war.
„Ja. Was ist das?“ Temidqe deutete auf ihren linken Schenkel. Sie schob ihr Hemd noch ein Stück höher, sodass er den Verband sehen konnte, ein kleines, zusammengefaltetes Tuch, das von einer Kordel gehalten wurde.
„Eine Verletzung“, erwiderte sie schroff und warf den Hemdsaum wieder darüber. „Nichts Schlimmes.“
„Nein?“
„Nein, du hörst es doch!“
„Und ich sehe, dass das Nein deine Miene verdüstert.“
So schweig doch, bat sie ihn in Gedanken. Doch plötzlich hatte sie die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Zorn, ja, den kannte sie. Und der schlimmste war der Zorn der Hilflosigkeit. Temidqe, so wie er war, konnte das niemals verstehen. Sie spürte seinen Arm um ihre Schultern; er hatte sich neben sie gesetzt und raunte beruhigende Worte. Sie wollte sich befreien, doch er ließ es nicht zu.
„Ich sehne mich nach Kreta“, sagte sie zittrig. „Mir kommt Kia entsetzlich klein vor. Aber das ist es nicht.“ Sie ließ die Hände sinken und sah ihm in die Augen. Es waren klare Augen, ein wenig verwirrt, vielleicht auch besorgt, aber verständig.
„Ich hätte die zukünftige Hüterin sein sollen. Ich war von klein auf dazu bestimmt. Nun ist es Mijaros Sache, darüber zu bestimmen, und wenn sie anders entscheidet, kann sie es tun. Aber es war nicht ihre Entscheidung.“ Sie sprach schneller und lauter, und er ließ sie los, um sie konzentriert betrachten zu können. „Achaier haben ihr das eingeredet. Zwei von ihnen, Könige nannten sie sich, hielten sich bei ihr auf, als sie mich zu sich rief. Ich bin hier, weil Mijaro sich ihrer Furcht vor ihnen gebeugt hat! Allein deswegen bin ich hier eine Gefangene. Und das kann ich nicht ertragen, denn der Bergthron gehört rechtmäßig mir. Ich bin die Erwählte! Verstehst du?“
Sie hatte die letzten Worte geschrien; nun sprang sie auf, um irgendwohin zu laufen, wo sie allein mit ihrer Scham sein konnte. Als sie einen Fuß auf den Beckenrand setzte, vernahm sie ein leises Grollen tief aus der Erde; das Wasser geriet in Bewegung, der Boden erzitterte. Vor Schreck hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren, doch bevor sie unsanft ins Becken fallen konnte, war Temidqe aufgestanden und hielt sie fest.
„Es ist schon vorbei“, beruhigte er sie. „Die Göttin der Tiefe hat sich geräuspert, nichts weiter. Das geschieht manchmal.“
Akija musste lächeln. „Wenn das wirklich die Göttin war, dann hat sie mich ja vielleicht gehört.“
„Nein, Akija. Mag sein, dass dir der Bergthron gehören sollte, aber das tut er nicht, und nur das zählt. Und solange du das nicht anerkennst, quälst du dich nur.“
Es war angenehm, seinen Arm um ihre Mitte zu spüren. Das Beben war längst vorbei, aber es schien ihm zu gefallen, sie zu stützen. Temidqe, dachte sie, du fühlst dich gut an, aber auch du kannst meinen Schmerz nicht lindern … Sie umfasste seine Handgelenke und schob sie von sich, was er mit einem wehmütigen Nicken geschehen ließ. Würde sie all das je so sehen wie er?
Temidqe verlangte, dass sie täglich einige Stunden beim Körbeflechten half. Alles andere – kochen, den Gemüsegarten und das Haus pflegen, die Kleider unten an der Quelle waschen – blieb ihr freiwillig überlassen. Freude bereitete ihr die eintönige Arbeit nicht. Vielleicht kam das noch. Gemeinsam mit Temidqe im Hof oder im Garten zu flechten, wo sie den Blick schweifen lassen konnte, war jedoch angenehm.
Gern beobachte sie ihn auch, wenn er auf den Fersen kauernd Unkraut auszupfte oder sich aufrecht ins Boot stellte, um das Fangnetz auszuwerfen. Sie mochte es, wie sich die Sonne auf seinem gebräunten, schweißüberströmten Körper spiegelte. Und noch mehr, wenn er innehielt und ihr zulächelte. In seiner Gegenwart gelang es ihr manchmal, ihre Vergangenheit zu vergessen. Sein sanftes Wesen war eine Wohltat für ihr verletztes Gemüt. Doch dieser vertraute Moment, als sie beide im Becken gestanden hatten, war nicht zurückgekehrt.
In den Nächten lag sie lange wach, blickte in den schwarzen Himmel, versuchte an die Güte der Göttin zu denken. Welche Güte? Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen – die Göttin hatte sich von ihr abgewandt. Mijaros und Iasas Gesichter verblassten wie die von Verwandten, welche vor langer Zeit verstorben waren. Und so war es auch. Wenn Akija dann endlich schlief, waberte der Schemen von Iasa durch wirre Träume. Sie sah den Stier, sah seine Hörner, sah ihn heranpreschen und sich, bevor er sie erreichte, in schwarzen Nebel auflösen. Zurück blieb Iasas totenbleiches Gesicht, das anklagend auf sie herabstarrte. Manchmal träumte sie auch von ihrer Mutter, was sie auf Kreta seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Es hinterließ ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust, das sie noch spürte, wenn sie erwachte.
Nur einmal in dem einen Monat, seit sie hier war, fuhr sie keuchend aus dem Schlaf hoch. Sie hatte die Erde gespürt, ganz sicher. Unter den Tritten des Stiers war der Boden erbebt. So heftig war das Gefühl, dass sie die Beine über den Rand schwang und im Mondlicht nach einem Riss im Boden suchte.
Aber da war nichts. Alles war still.
Doch im nächsten Augenblick war Temidqe in ihrer Kammer und an ihrer Pritsche. Mehr noch, er hatte einen Arm um sie gelegt und wiegte sie leicht. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er leise.
„Ich – ich habe nur schlecht geträumt“, murmelte sie. Seine Umarmung verwirrte sie fast mehr als der Traum.
„Du hast einen Schrei ausgestoßen.“
„Habe ich das? Daheim hatte ich nie Albträume. Es tut mir leid. Habe ich Hapase geweckt?“
„Die schläft doch immer wie ein Stein.“
„Du nicht?“
Im fahlen Licht sah sie, wie er hinaufdeutete. „Ich war noch wach. Ich hatte mich oben hingelegt, weil es so warm ist. Oben weht eine angenehme Brise.“
„Ich mag jetzt nicht weiterschlafen“, sagte sie.
Er ergriff ihre Hand und führte sie in den Hof, dann über die Treppe auf die Mauer, und von dort aus aufs Dach. Sie sah wenig, aber seine Schritte waren sicher. Es war schön hier oben, stellte sie fest. Man konnte ein wenig weiter schauen, als wenn man unten im Garten stand. Der Mond ließ die Hügelkuppen silbrig glänzen.
„Besser?“, fragte Temidqe. Er hatte sich mit gekreuzten Beinen nah an die Kante gesetzt, und ganz selbstverständlich ließ sie sich an seiner Seite nieder. Eben noch hatte seine Umarmung sie verwirrt, jetzt wünschte sie, er würde wieder einen Arm um ihre Schulter legen.
„Erzähl mir von Kreta“, sagte er nach einer Weile launigen Schweigens.
Sie zögerte. Der Augenblick war so friedlich, dass sie sich zum ersten Mal gestattete, an ihr Zuhause nicht mit Bitterkeit zu denken, sondern als den Ort, der er gewesen war: voller Buntheit und Frieden. Der Traum war weit fort. In Gedanken sah sie sich durch die Weinberge streifen, am Strand im heißen Kies liegen, in den heiligen Höhlen und Gipfelheiligtümern zur Göttin beten.
„Nein“, sagte er im gleichen Augenblick, da sie zu reden ansetzte. „Erzähl mir von dir.“
Sie schwieg. Von sich? Schon als Kind hatte sie die heiligen Herden gehütet, in der Palasttöpferei gearbeitet; sie war über die Märkte der Stadt gewandert und hatte bei den Schreibern am Hafen gelernt, die Zahlen der gelöschten Waren in Tontäfelchen zu ritzen und mithilfe eines gekerbten Stabes zu zählen – aber was interessierte ihn? So oft war sie später zum heiligen Berg gewandert und hatte in Anemospilia, der Stätte des Todes, Opfergaben dargebracht. Sie hatte den Palastschmieden zugesehen, wie sie die heiligen Doppeläxte schufen, und hatte den alten Priesterinnen gelauscht, die von längst vergangenen Zeiten erzählten, als die Erde gebebt und das Meer gekocht hatte.
„Alles, was ich war, was ich tat, diente der Vorbereitung für das Leben als Hüterin“, sagte sie matt. „Es erscheint mir noch immer so unwirklich, dass mein Leben ein anderes sein soll.“
„Vielleicht musst du ja noch ein bisschen weiterleben, um erzählen zu können, was dich ausmacht.“
„Dazu muss ich Hüterin sein.“
Er nickte. „Vielleicht. Auch wenn ich nicht wüsste, wie das gehen soll. Aber ich sehe doch einiges. Eine starke Frau. So mancher wäre an diesem abrupten Umschwung zerbrochen, aber du hältst dich tapfer, wie ich finde.“
Sie dachte daran, dass sie nicht imstande war, über den Stier zu springen. So war doch keine starke Frau! Jedenfalls keine, die Hüterin werden wollte. Da war es wieder – werden. Was war sie jetzt? „Du bist so geradeheraus. Ich bin so durcheinander. Dein Weg ist gerade, meiner krumm.“
Er lachte leise. „Ich glaube, niemandes Weg ist gerade. Du magst dein neues Leben nicht, aber du zeigst ihm die Zähne. Genauer gesagt Hapase und mir.“
War sie wirklich so abweisend? Das hatte Temidqe nicht verdient, und die Ägypterin auch nicht. Wenn man nur mit dem eigenen Leid beschäftigt ist, sieht man die anderen so schlecht, dachte sie. „Das bedaure ich.“
„Das musst du gar nicht.“ Er lächelte sie von der Seite an. „Besser, du giftest gelegentlich, statt zu verdorren. Aber wenn du einen Rat hören magst: Begrabe deinen Zorn auf die Hüterin.“
Als sie erstmals dieses Haus betreten hatte, hätte sie geschworen, mit ihm niemals ein solches Gespräch zu führen. Und das war erst einen Monat her. Auch sie betrachtete ihn. Sein vollkommenes Profil. Seine Lider, die halb sanken, während er seufzend den Kopf in den Nacken legte. Seine bis weit auf den Rücken fallenden Haare waren fast so dunkel wie ihre. Wie alt war er? Mitte zwanzig? Ein Mann in der Blüte seiner Zeit und kräftig. Sie wünschte sich, den Mut zu haben, wenigstens eine Hand auf seine zu legen. Solche Gefühle waren ihr fremd. Sie kannte nur Männer, die sich ihr unterwürfig näherten; sie hatte sie nie weiter beachtet. Sie schlang die Finger umeinander, um der Versuchung zu widerstehen. Temidqe zu mögen – mehr zu mögen – bedeutete, die Vergangenheit abzuwerfen. War das nicht verlockend? Hatte Mijaro sie deshalb hierhergeschickt?
Unsinn!
Insgeheim lächelte sie über ihren Wunsch, diesen Bauern beeindrucken zu wollen. Sie fragte sich, wie er sich wohl im Palast von Knossos verhalten würde. Könnte er sich in all der Pracht wohlfühlen? Oder würde er ständig im Palastgarten zu finden sein, wo seine Finger in der Erde steckten?
Sie sprang auf und wandte sich ab.
„Wenn ich deine Ehre verletzt habe, vergib mir“, sagte er hinter ihr.
Schrei doch!, dachte sie. Wirf mir an den Kopf, wofür du mich hältst! Für ein lästiges Anhängsel, das du jetzt mit durchfüttern musst! Sie fuhr zu ihm herum. Er war aufgestanden und so nah bei ihr, dass sein Atem ihr Gesicht streifte wie eine erfrischende Nachtbrise. Sie sah nur das Licht auf seinem Haar, seine Züge waren im Dunkeln. Doch sie kannte jede Einzelheit. Hatte sie ihn tatsächlich so genau in sich aufgesogen? Sie wusste, er würde nicht schreien. Er würde verständig sein. Und genau so wollte sie ihn.
„Temidqe“, wisperte sie. „Du …“
Er wartete.
Sie wusste nicht, ob sie ihn wegen seiner Geradlinigkeit besonders aufrichtig oder seltsam finden sollte. Beide waren sie Priester, doch waren ihre Welten so verschieden. Warum nur? Empfand sie vielleicht nur so? Sollte sie von seiner Demut lernen? War das der Grund ihres Hierseins?
Nein. Für Mijaro existierte sie nicht mehr. Mijaro glaubte, dies sei der beste Ort, um Kreta zu vergessen. Vielleicht hatte sie sogar recht.
Irgendwann.
„Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren. All das hier … zu mögen. Es ist verlockend, ja. Aber … ich …“
„Du hast die Wahl: Akzeptiere es oder leide auf ewig.“ Er ergriff ihre Schultern. Wenn er jetzt sei vernünftig sagte, würde sie ihn schlagen und flüchten. „Aber wie immer du dich entscheidest, du kannst auf mich zählen.“
„Danke“, murmelte sie. „Schlaf gut.“
Anderntags kam er zu ihr in den Garten, wo sie auf den Knien ein Kräuterbeet pflegte. Er hatte einen Krug ägyptisches Bier bei sich und bot es ihr an. Akija kostete. Und spuckte sofort aus.
„Furchtbar bitter! Wo hast du das her?“
„Ich habe es auf dem Markt eingetauscht und unten an der Quelle gelagert, damit es kühl blieb. Wirklich bitter? Hapase wäre sicher erstaunt, hätte sie gesehen, wie du das Gesicht verziehst. Wie geht es dir?“
„Du meinst, ob ich den Gedanken, hier zu leben, nun besser ertragen kann? Nein, das kann ich noch immer nicht.“
Er überging ihre schroffe Antwort mit einem Lächeln. „Dann wird es dich vielleicht erfreuen, dich deiner eigentlichen Aufgabe zu widmen, dem Dienst an der Göttin. Ich habe auch eine Ziege besorgt. Wir wollen sie heute der Göttin opfern.“
„Oh.“ Sie erhob sich und klopfte die Erde von den Knien. „Aus einem bestimmten Grund?“
„Nun, zum einen ist deine Anwesenheit hier ein Dankopfer wert …“ Er brach ab und trank. Akija blickte ihn erstaunt von der Seite an, während er stirnrunzelnd über seine Worte nachzusinnen schien. „Es ist angemessen“, fuhr er fort. „Deine Ankunft als neue Priesterin hier bezeichnet eine neue Zeit für unser kleines Gipfelheiligtum. Zum anderen ist die Zeit der Ernte angebrochen. Unser kleiner Garten gedeiht wunderbar. Ich weiß, in Knossos gibt es prächtige Feste und Schauspiele, in denen der jugendliche Gott für den Winter in die Unterwelt geschickt wird, und es wird mit dem Stier getanzt und all das. Das kann ich dir hier leider nicht bieten.“
„Ich weiß deinen Eifer zu schätzen. Soll ich mich gleich vorbereiten?“
„Ich bitte dich darum.“
Das Blut einer Ziege würde nicht genügen, um diesen Ort zu einer neuen Heimat zu machen. Dennoch empfand sie einen Hauch von Freude. Auch wenn sie es nicht liebte, Blut fließen zu sehen, war es doch ein besonders edler Dienst an der Göttin. Endlich würde sie wieder geweihte Gerätschaften berühren, geweihtes Wasser über ihre Finger fließen lassen und Weihrauch riechen. Aus ihrer Kammer holte sie ihr Kleid und ein Tonfläschchen mit Seifenkrautsud. Als sie hinter dem Haus den Abhang hinunterstieg, war Temidqe verschwunden.
Abseits der Quelle legte sie ihr Kleid über den Ast einer verkrüppelten Steineiche. Hier war der Abhang flacher, und das Quellwasser sammelte sich in einem kleinen Felsenbecken, bevor es seinen Weg hinunter ins Tal fortsetzte. Akija schlüpfte aus ihrem unförmigen Hemd und stieg in das Becken. Das Wasser reichte ihr nur bis zu den Waden, erfrischte aber ungemein. Um den Kopf mit dem aus dem Hang sprudelnden Quellwasser zu benetzen, musste sie sich bücken. Eilig verrieb sie den zähen Sud auf ihrem Körper und in den Haaren. Das kühle Wasser brachte ihre Haut zum Prickeln, und sie musste sich beherrschen, um nicht vor Wonne aufzuschreien. Schließlich sprang sie zurück aufs Gras, warf sich das Hemd um die Schultern und wanderte ein paar Schritte, um sich auf einen warmen, sonnenbeschienenen Stein zu setzen.
Als sich ihre Haut fast trocken anfühlte, hörte sie Schritte. Akija reckte den Kopf. Temidqe rutschte den Abhang herunter und stieg in das Becken. Er war nackt. Noch nie war ihr seine Haut so wunderbar tiefgebräunt erschienen. Nur um die Hüften und an den Stellen, wo er seinen Armschmuck trug, war sie eine Spur heller. Wie kam es, dass sie ihm mehr Aufmerksamkeit zu widmen begann? In der letzten Nacht war nichts geschehen, das etwas verändert hatte. Oder doch?
Krumme Wege, dachte sie. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was mit mir los ist. Göttin, steh mir bei.
Nun war er es, der sich bücken musste, um den Kopf unter die Quelle zu halten, und angesichts seines sich vorwölbenden Gesäßes musste sie kichern.
„Akija?“, rief er prustend und sah sich um.
„Ich bin hier!“ Sie schnappte sich ihre Sachen und stieg schnell in ihr Kleid. Als sie die Hände durch die Ärmel steckte, fiel ihr ein, dass sie es ohne fremde Hilfe nicht anziehen konnte. Nie hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, denn immer war eine Dienerin zur Stelle gewesen, um es im Rücken zu schnüren. Akija zog die Ärmel bis hinauf zu den Schultern und ging zurück zur Quelle. Offenbar war Temidqe zurück im Haus.
Sie umrundete es und fand vor dem Eingang Kusupata. Er war offenbar herausgekommen, um zu beobachten, was sie tat. Es missfiel ihr, wie er sie musterte, und sie war sich bewusst, welch seltsamen Anblick sie bot – eine Frau in einem Kleid, das vermutlich das kostbarste war, das sich jemals auf dieser Insel befunden hatte, ihr jedoch ungeschnürt von den Schultern zu rutschen drohte. Ihre Haare klebten wirr und nass auf der Haut und bedeckten kaum die bloßen Brüste. Und doch war sein Blick keineswegs begierig.
Hinter sich hörte sie Schritte. Akija fuhr herum. Temidqes Erscheinen erfüllte sie mit Erleichterung. Er war noch nass; sein Schurz klebte an den Hüften. Akija stöhnte erleichtert auf.
„Temidqe“, begann sie, und ihre Stimme zitterte leicht vor Ärger, „ich habe dir noch nicht gesagt, dass Kusupata ein Priester ist.“
„Tatsächlich? Nein, das hast du nicht.“ Er blickte ihn über ihre Schulter hinweg an. Sie hoffte, dass er nicht fragen würde, weshalb sie das verschwiegen hatte. Was sollte sie darauf antworten? Dass sie dadurch erst recht Kusupatas Gegenwart ausgeliefert war, weil er ihr sogar bis ins Heiligtum folgen konnte?
Kusupata neigte ehrerbietig den Kopf. „Ich bin nur ein Pilger, ein bescheidener Diener, nichts weiter. Ich hätte es meinerseits nicht gewagt, meine Dienste anzubieten.“
Temidqes Blick wanderte von ihm zu ihr. „Nun, dann bist du noch willkommener in diesem kleinen Heiligtum. Ich staune, dass sich überhaupt jemand findet. Und nun gleich zwei.“
Zwei? Er ging durch die offen stehende Tür. Akija folgte den beiden ins Haus und huschte in die Küche. Hapase erhob sich vom Tisch, wo sie an Näharbeiten gesessen hatte, und nickte mit dem Kopf zum geschlossenen Vorhang.
„Habe ich das eben richtig gehört? Dein Leibwächter ist ein Priester?“
„Deine Ohren reichen weit, wie mir scheint.“
„Und dein Mundwerk ist so groß wie der Mond. Lass mich dein Kleid schließen.“
Akija ließ Hapase an dem Kleid ziehen und zupfen, bis es richtig saß und verschnürt war. Ein Kamm glitt unsanft durch ihre Haare, und sie biss die Zähne zusammen. Die Worte der beiden Männer drangen gedämpft herein. Akija öffnete den Vorhang einen Spalt. Kusupata war noch jung, vielleicht drei, vier Jahre älter als sie. Er besaß gepflegte Hände, aber Arbeit schien ihm nicht fremd zu sein, wie man an den kräftigen Arm- und Wadenmuskeln sah. All das hatte sie während der Überfahrt bereits wahrgenommen, doch jetzt bemerkte sie zum ersten Mal eine kleine, kreisförmige Narbe dicht unterhalb seines Priesterschurzes. Sie raffte das Kleid, bis sie die eigene Narbe auf dem Schenkel sah. Beide ähnelten sich, nur war seine von heller Färbung, während ihre noch gerötet war. Erstaunt ließ sie den Stoff fallen.