Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 13
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ОглавлениеSorgfältig legte Akija das Kleid zurück in die Truhe. Sie hatte bedauert, es abzulegen, denn es erinnerte sie an ihr altes Leben. Nun aber musste sie wieder das ungeliebte Hemd anziehen, das ihr kaum bis zu den Knien reichte, aber weite, unförmige Ärmel besaß. Sie hob es hoch. Es war inzwischen zweimal gewaschen, trotzdem wies es Flecken auf. Sie warf es zu Boden und nahm ein großes Tuch aus der Truhe, das sie unter den Achseln um sich schlang und vorne verknotete. Als sie sich umdrehte, sah sie Kusupata in der Tür stehen.
„Hast du dich in der Kammer geirrt?“, fauchte sie ihn an. „So viele gibt es hier nicht!“
Hastig wich er auf den Hof zurück. Was wollte er? War er in seinem Bemühen, sie zu beobachten, einen Schritt zu weit gegangen? Sie spähte durch den Vorhang und sah ihn über die Außentreppe steigen. Erleichtert aufatmend ging sie in die Küche, wo Temidqe am Tisch saß und etwas schnitzte, das ein Schöpflöffel werden mochte.
„Kusupata ist mir ein Dorn im Auge“, begann sie sofort.
Temidqe ließ sein Werkzeug sinken. „Aber du hast ihn doch selbst mitgebracht.“
„Als ob das mein Wunsch gewesen wäre“, seufzte sie.
„Er ist ein wenig verschlossen. Das wird sich geben, wenn er sich eingewöhnt hat.“
Sie setzte sich ihm gegenüber und ergriff den Wasserkrug und einen Becher. „Er ist nicht einfach nur verschlossen. Er starrt mich an.“
Temidqe schob die Brauen gegeneinander. Bei jedem anderen hätte diese Miene düster gewirkt. „Auf welche Art?“
„Auf eine andere, als du es tust.“
„Ach, das tue ich?“
„Ja, das tust du.“
Er nahm seine Arbeit wieder auf; seine Finger bewegten sich geschickt und doch fahrig, als müsse er etwas tief in seinem Innern beruhigen. Plötzlich ließ er das Schnitzmesser fallen und legte seine Hand auf ihre, die noch immer um den Becher lag. Seine Berührung brachte ihre Finger zum Zittern. Sie starrte auf seine Hand, und als sie endlich den Kopf hob, blickte sie in seine ruhigen Augen. Mit der linken Hand fuhr er ihr durchs Haar, seine Lippen öffneten sich, und sie sah ihn nach Worten suchen, doch dann ergriff er wieder den halb fertigen Schöpflöffel und das Messer.
„Ich sollte dem wohl keine Bedeutung beimessen“, sagte er, und seine Stimme klang ungewöhnlich rau. „Weißt du, es ist schon eine ziemliche Weile her, als ich zuletzt eine … eine …“
„Frau?“, half sie ihm aus.
Er nickte schwer.
Plötzlich musste sie lachen. „Du bist ein Mann mit einer Vergangenheit, selbstverständlich. Aber hast du nicht gehört, was ich sagte? Kusupata sieht mich nicht so an. Nicht – so.“
„Sondern?“
„Ach, wie soll ich das erklären? Er ist nicht mein Begleiter oder Diener. Er ist mein Leibwächter. Er bewacht mich, verstehst du? Die Hüterin gab ihm den Auftrag, mich nicht aus den Augen zu lassen.“
Er ließ wieder seine Arbeit sinken. „Mir sagte sie, ich solle auf dich aufpassen. Vertraut sie mir so wenig, dass es eines zweiten Mannes bedarf?“
„Erinnerst du dich, dass du mir den Rat gabst, nicht mehr zornig auf Mijaro zu sein? Das fiele mir leichter, wäre Kusupata nicht hier.“
„Ich kann ihn nicht wegschicken.“
„Nein, aber ich wäre froh, wenn du ihm sagst, dass er mich in Ruhe lassen soll. Ich finde seine ständige Gegenwart unangenehm. Er ist wie eine Fessel, die mich daran hindert, meine Vergangenheit abzuwerfen. Und du …“
„Dein Diener, der die Kette hinter dir herträgt, damit du es nicht zu schwer hast?“
Sie lachten beide.
„Was wirst du denn tun, wenn er dich nicht mehr bewacht?“
Sie warf die Hände hoch. „Dies ist eine Insel! Was sollte ich hier schon tun? Glaubst du, ich würde zum Hafen laufen und mich aufs nächstbeste Schiff stehlen? Wohin sollte ich denn segeln? Der neue Hüter von Kreta, wer es auch sein mag, wird mich nicht willkommen heißen.“
„Also gut, ich werde mit Kusupata sprechen, jetzt gleich. Aber um des Friedens willen bitte ich dich zu schweigen.“
Er rief nach Hapase und bat sie, Kusupata zu holen. Es dauerte nicht lange, und der Priester betrat die Küche. Etwas verlegen folgte er Temidqes einladender Geste und setzte sich an den Tisch, wobei er darauf zu achten schien, dass möglichst viel Platz zwischen ihm und Akija blieb. Temidqe holte einen Weinkrug unter dem Tisch hervor und schenkte Kusupata ein. Der ergriff den dargebotenen Becher nur zögernd.
„Nun“, begann Temidqe, „lass uns ein wenig plaudern. Wir haben selten Gäste, und von der weiten Welt hört man hier oben nicht sehr viel. Woher kommst du?“
„Aus Mallia. Meine Eltern waren dort Priester.“ Kusupata trank einen Schluck und hielt den Becher umklammert. Seine Stimme war fest. „Vor einigen Jahren verließ ich Kreta und segelte aufs Festland. Der Kult der Göttin ist dort am Sinken, und ich machte es mir zur Aufgabe, sie bei den Achaiern in Erinnerung zu rufen. Ich diente in vielen Heiligtümern im Süden des Landes, bevor ich nach Kreta zurückkehrte. Aber ich bin froh, nun hier der Göttin dienen zu dürfen.“
„Warum?“, fragte Akija. Temidqe erinnerte sie mit einem mahnenden Blick an ihr Versprechen zu schweigen, aber das war ihr jetzt gleichgültig. „Diese Insel gehört nicht den Achaiern.“
„Aber hier treffen die Menschen verschiedener Völker aufeinander. Wo könnte man der Göttin besser dienen? Und allein sie mag wissen, wohin es mich eines Tages erneut verschlagen wird.“
„Da du in so vielen achaiischen Heiligtümern warst: Hast du auch achaiische Könige getroffen?“
Kusupata hob abwehrend die Hand. „O nein, niemals. Diese Männer besitzen zwar das Amt eines Hohepriesters, denken aber an Gold, Frauen und Macht und nur selten an ihre Götter.“
Wie glatt er doch war, wie ein Fisch! Was willst du von mir?, wollte sie ihn anschreien. Sie atmete tief durch. „Du hast …“
„Akija.“ Temidqe hob eine Hand.
„Verzeih mir, Temidqe“, sie sprang auf und starrte Kusupata von oben herab an. „Du hast eine Wunde an deinem Oberschenkel. Woher stammt sie?“
Er hob verwirrt sein Hüfttuch, als müsse er sich erst vergewissern, wovon sie sprach. „Ach, das. Ich war in Mallia Stiertänzer. Warum möchtest du das wissen?“
„Du … du bist ein Stiertänzer?“ Trotz der Ähnlichkeit beider Narben hätte sie das nicht vermutet. Aber es passte, es passte sehr gut! Kusupata war ein Priester, besaß einen starken, geschmeidigen Körper, warum also nicht? Aber welche Bedeutung sollte das haben?
Auch Temidqe schwieg jetzt. Sie stand auf und ging in den Hof, wo sie sich ans Becken setzte und mit den Weidenruten zu hantieren begann. Es dauerte nicht lange, und Kusupata verließ die Küche, kletterte die Treppe hinauf und verschwand hinter der Mauer. Ganz offensichtlich war ihm dieses Haus, wenn er sich dazu entschied, Akija einmal nicht zu beobachten, zu eng.
Temidqe hockte sich an ihre Seite. „Ich hatte dich gebeten zu schweigen“, sagte er nach einer Weile, während Akija verbissen an den Weidenruten zupfte. „Leg das weg.“
Sie ließ die Ruten fallen. Er deutete auf ihren Oberschenkel. „Sag mir, was das ist. Hast du es etwa auf die gleiche Art errungen wie er?“
„Ja.“
„Ich verstehe.“ Er berührte mit den Fingerspitzen ihr Knie. „Wie sieht deine Wunde aus? Den Verband trägst du anscheinend nicht mehr.“
Sie hob den Saum des Tuches gerade so weit, dass er den rötlichen Fleck sehen konnte. „Sie ist verheilt; sie muss nur noch verblassen.“
„Siehst du …?“, murmelte er und drehte sie an ihrer Schulter zu sich. „Wunden verheilen und verblassen. Auch jene, die man nicht auf der Haut sieht. Verstehst du?“
Ja, sie verstand, was er damit sagen wollte, aber sie schüttelte trotzig den Kopf, was er zu unterbinden versuchte, indem er den Daumen auf ihr Kinn legte. Unwillkürlich öffneten sich ihre Lippen, und sein Daumen strich flüchtig darüber. Erschrocken fegte sie seine Hand beiseite und stand auf.
Akija beschloss, Kusupatas einengende Aufmerksamkeit mit Friedfertigkeit einzuschläfern. Oder es wenigstens zu versuchen. In den nächsten Tagen gab sie sich freundlich. Sie redete sich ein, dass dieses Leben leichter zu ertragen war. Nun, das war es. Aber ganz sicher nicht deshalb.
Sie arbeitete im Garten, ging mit den beiden Männern fischen oder auf den Markt. Dort sah sie zumeist zu, wie Temidqe oder Hapase die Flechtwaren feilboten. Manchmal begleitete sie ihn auch in das Haus eines Händlers; dann freute sie sich, dass Kusupata auf der Straße warten musste. Er blieb so schweigsam wie zu Anfang, und sie machte sich nicht die Mühe, das Gespräch mit ihm zu suchen. Er kam seinen Aufgaben im Gipfelheiligtum, die hauptsächlich daraus bestanden, der Schülerin bei der Instandhaltung der Gerätschaften behilflich zu sein, gewissenhaft nach. Er erledigte diese Arbeiten jedoch immer dann, wenn auch Akija dort war. Die Hoffnung, dass seine Aufmerksamkeit nachließ, erfüllte sich nicht.
Er schien nie zu vergessen, dass er im Auftrag Mijaros handelte. Gleichzeitig führte er jede Anweisung Temidqes aus. Er war der vollkommene Diener: ruhig, anspruchslos und treu. Es war erstaunlich, dass ein solcher Mann einmal Stiertänzer gewesen war. Aber hieß es nicht auch, dass man sich dem Stier unterwerfen musste, um erfolgreich zu sein? Wenn das so ist, dachte sie spöttisch, war er einer der Besten.
Noch zweimal bebte die Erde in diesem Sommer; einmal zerstörte sie die Hausdecke. Niemand kam zu Schaden, und Akija empfand das Herrichten des Daches als angenehme Abwechslung. Es war schön, an Temidqes Seite zu arbeiten und seinen unbekümmerten, aber so sicheren Anweisungen zu folgen. Oft bedachte er sie mit Blicken, die sie als sehnsüchtig empfand, aber da er sonst nichts tat, befürchtete sie, dass sie in ihnen nur ihr eigenes Begehren las. Wenn sie mit ihm in der Stadt war, traf er oft die ein oder andere Frau, die ihm ein aufreizendes Lächeln zuwarf. Einige schien er näher zu kennen. Aber weshalb ging er nicht mehr zu ihnen?
Es war der Beginn der herbstlichen Jahreszeit, wenn der trockene Nordwind, der die heißen Tage begleitete, endete und den ersten Herbststürmen wich. Zum ersten Mal sollte sie allein einige Weidenschalen verkaufen, nur in Kusupatas Begleitung. In aller Frühe betrat sie den Hof, wo Temidqe bereits damit beschäftigt war, die Schalen und Körbe zu bündeln. Kusupata wartete schon. Sie ging in die Küche, lud sich einen Löffel von dem noch dampfenden Getreidebrei in eine Schale und aß schnell. Ein wenig war sie aufgeregt. Sie hatte oft in Begleitung ihrer Dienerinnen und zweier Leibwächter die Märkte in Knossos besucht, aber nun musste sie statt des Müßiggangs dafür sorgen, dass genug Tauschware in ihre Beutel gelangte. Sie bezweifelte nicht, dass sie sich gründlich blamieren würde, schließlich hatte sie nie zu feilschen gelernt.
Sie nahm einen Proviantbeutel, den Hapase ihr zurechtgelegt hatte, wischte sich den Mund am Ärmelsaum ab und ging zurück in den Hof. Temidqe richtete sich auf.
„Du wirst deine Sache schon gut machen“, sagte er mit einem aufmunternden Zwinkern. „Ich erwarte wirklich nicht, dass du mit Reichtümern heimkehrst.“
Kusupata verteilte die Bündel auf seinen Schultern und öffnete ihr die Tür. Akija ging voraus, ließ sich aber bald hinter ihn zurückfallen, da sie es nicht mochte, seinen Blick im Rücken zu spüren. Ihm schien das nichts auszumachen; er schritt kraftvoll aus. Der Anblick seiner kräftigen Wadenmuskeln ließ sie an die kreisrunde Narbe denken, die er unter seinem Schurz trug. Wie gut er wohl als Stiertänzer gewesen war? Und ob er es wohl bemerken würde, wenn sie jetzt in der nächstbesten Gasse verschwand, allein um ihn zu ärgern?
Doch diese Fragen wehte der Lärm des Marktes fort, der sich über die ganze verwinkelte Stadt auszubreiten schien. Akija hatte den Eindruck, als seien mehr Achaier, Kreter, Kanaaniter, Bewohner der Ostküste und der Inseln und sogar vereinzelt Hethiter unterwegs, als die Insel Einwohner hatte. Ein halbes Dutzend Sprachen schwirrte in der Luft, und das Gelächter und Geschrei der Menschen dröhnte in den Ohren. Es roch nach Gewürzen und gebratenem Hammelfleisch, und auf den Tüchern der Händler lagen etliche Käsesorten, Oliven, Kräuter, Metalle, Schmuck, Gefäße und was die Menschen sonst zum Leben brauchten. Akija breitete ihr Tuch in einer schmalen Seitengasse aus, denn anderswo war kein Platz.
Sie hockte sich auf das Tuch, während Kusupata einige Schritte entfernt an einer Hauswand lehnte. Den Leuten gegenüber versuchte sie ein Lächeln; einige schauten herüber, aber Interesse am Kauf schien niemand zu haben. Nach einer Weile griff sie nach dem Leinenbeutel und nahm einen kleinen Krug mit Käse und einen Schlauch mit verdünntem Traubensaft heraus. Ihr Magen knurrte, und sie grub den Finger tief in den bröckeligen Käse, während sie die Menschen beobachtete. Bald wurde es ihr langweilig. Um wie vieles lieber würde sie selbst über den Markt schlendern, um all die fremden Dinge zu berühren und den Geschichten der Händler und Seefahrer zu lauschen!
Mit einem ärgerlichen Seufzen schluckte sie den würzigen Käse hinunter, stand auf und winkte Kusupata heran.
„Pass auf die Sachen auf. Wenn jemand eine Schale kaufen will, nun, dann verkaufe sie. Ich werde mich ein bisschen umsehen.“
Er rührte sich nicht. „Du weißt, dass das nicht geht.“
„Nur ein paar Augenblicke, Kusupata!“
„Ich kann dich nicht daran hindern, über den Markt zu gehen, Herrin, aber dann packe ich die Sachen zusammen und folge dir.“
Sie funkelte ihn an. Sollte sie sich fügen oder ihn den ganzen Tag mit den Waren auf dem Rücken hinter sich herlaufen lassen? O große Göttin!, rief sie in Gedanken, wie kannst du es zulassen, dass ich, deine Dienerin, mich vor diesem Mann erniedrige? Hast du mich wirklich vergessen? Eher will ich sterben, als mein Leben so zu verbringen!
Ein Kanaaniter näherte sich, auf einen langen Stock gestützt, mit dem er einen Hund, dann einen Bierverkäufer verscheuchte, der wortreich sein Gebräu pries. Ihm folgte ein junger Mann, der über und über mit Beuteln beladen war.
„Und nun einen Schluck Wein“, hörte sie ihn in seiner Sprache reden, während er die Gasse hinunterschritt. „Du bringst den Sack auf mein Schiff und übergibst ihn Zafar-El, und ich gehe in die Schenke, die ich auch sonst aufzusuchen pflege. Dort ist der Wein halbwegs gut und nicht zu teuer. Man kann ihn ebenso trinken wie den Göttern als Dankopfer darbieten. Und Grund zu Dankbarkeit gibt es reichlich, denn haben wir nach Knossos nicht auch hier gute Geschäfte getätigt?“
Akija blickte den beiden verwundert nach. Buriasch – es war Buriasch gewesen, und er hatte sie nicht gesehen. Schon war er in der Menge verschwunden. Gute Göttin, das ist nicht zu fassen! Da begegnete ihr jemand, der ihr von Knossos erzählen konnte, und sie starrte ihm mit großen Augen hinterher.
Während sie überlegte, ob sie ihm folgen sollte, wurde sie von ein paar Frauen belagert, die die Weidenschalen befingerten und sich berieten. Es dauerte lange, bis sie sich auf einen Satz von drei ineinanderpassenden Schalen einigten; sodann folgte das Feilschen, und was Akija als Bezahlung nahm, war so gering, dass es vermutlich sogar Temidqe ärgern würde. Sicherlich war Buriasch inzwischen in der Schenke – wo die wohl war?
Aber was war das? Alles stand für einen Augenblick still. Die Menschen waren erstarrt. Nur ein Hund bellte hektisch. Da spürte sie eine eigenartige Bewegung unter den Fußsohlen. Ein tiefes Grollen, wie aus weiter Ferne. Rasch wurde es lauter, und mit einem Mal neigte sich der Boden. Akijas Knie knickten ein; sie sackte vornüber auf die Hände. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie auch andere stürzten. Töpfe schlugen auf dem Boden auf und zerschellten. Eine Frau gellte aus voller Kehle.
Auch Kusupata hatte das Gleichgewicht verloren. Ein Ziegelbrocken knallte auf seine Schulter. Er sprang auf und taumelte vorwärts, und im gleichen Augenblick regneten weitere Ziegel vom Dach des Hauses. Dann war wieder alles still. Ängstlich blickte Akija nach oben, ob auch sie in Gefahr war.
Plötzlich schien sich die Mauer in ihrem Rücken zu neigen. Die Menschen stoben hin und her und stolperten; auch Kusupata fiel erneut hin. Akija richtete sich mühsam auf, an der schwankenden Hausmauer Halt suchend. Die Tür war aufgeflogen, und sie wankte in den Innenhof. Ein großer Ölkrug war umgekippt, und nun schwappte das grünliche Öl über den Erdboden. Auf allen Vieren kletterte sie die Treppe an der Mauer hinauf. Unten kauerte Kusupata auf dem Boden; mit einer Hand hielt er sich den Kopf, als habe ihn erneut ein fallender Stein erwischt. Akija kroch über den Mauerkranz aufs Flachdach des Hauses. Hier verlor sie das Gleichgewicht, als ein letzter kräftiger Erdstoß erfolgte, und sie presste sich auf die verputzten Holzbalken.
Akija hatte in ihrer Kindheit oft gespürt, wie sich die Göttin in der Tiefe bewegte, und oft waren Jahre vergangen, in denen nichts geschehen war. Dieses Beben war heftiger als alle zuvor in diesem Sommer. War die Göttin so zornig, und worauf? Akija presste die Augen zusammen und flehte, dass es aufhören möge.
Die Erde stand still. Hastig kroch Akija zum anderen Ende des Daches, sprang hinunter und tauchte in die Menge.
Sie rannte an Händlern vorbei, die ihre auf dem Boden verteilte Ware begutachteten und dabei Klageschreie ausstießen. An Frauen, die ihre heulenden Kinder beruhigten, und an Männern, die vor ihren Häusern standen und nach Schäden suchten. Verletzt schienen nur wenige zu sein. Schenken gab es hier genug, und oft waren sie als solche gar nicht erkennbar. Sie riss Haustüren auf, und in der allgemeinen Verwirrung ließ man sie gewähren. Da Kusupata sie auf der Hochebene suchen würde, begann sie den Abhang hinunterzusteigen. Aber sie fand Buriasch nicht. Sie hockte sich auf einen Treppenabsatz und schöpfte Atem. Es kam ihr nun unsinnig vor, blind herumzutappen. Dennoch gefiel ihr, Kusupatas ständigen Blicken entkommen zu sein, und sie würde es auskosten.
Als sei ich eine Sklavin, die ein Stück Freiheit genießt, dachte sie ärgerlich.
Ihr Blick wanderte zum Hafen – dort war er. Buriasch.
Er tappte am Kiesstrand entlang. Akija hastete die Treppe hinunter und folgte dem steilen Verlauf der Gasse, bis sie den Strand erreicht hatte. Soeben öffnete er die Tür des letzten Hauses.
Noch auf der Schwelle stehend drehte er sich um, als sie herangerannt kam. Seine Stirn legte sich in Falten, und jäh weiteten sich seine Augen. „Herrin! Du! Jetzt ist mir doch, als hätte ich dich eben erst gesehen.“
Sie nickte heftig. „Ich saß auf dem Boden und bot Schalen aus Weidengeflecht an.“
„O, tatsächlich? Dann ist das der Grund, weshalb ich dich nicht erkannte, schließlich bist du keine Händlerin. Verzeih mir.“ Buriasch öffnete die Tür. „Darf ich dich zu einem Becher Wein einladen?“
Dieses Haus war tatsächlich eine Schenke; ein Junge war damit beschäftigt, Tonscherben aufzufegen, und ein anderer wischte verschütteten Wein auf. Ein rundlicher Mann mit kräftigen Oberarmen richtete einen Tisch auf. Ansonsten war der Schankraum leer; offenbar waren alle Gäste geflüchtet, um in ihren Häusern nach dem Rechten zu sehen.
„Ah, Buriasch“, sagte der Wirt und wischte sich den Schweiß von den Händen. „Auf dich und deinen Durst nach Wein und ägyptischem Bier ist Verlass. Es sind noch genügend Krüge heil geblieben.“
Buriasch kramte in den kleinen Beuteln, die an seinem Gürtel hingen, und fischte ein längliches Kupferstück hervor, das er auf einen der Tische legte. „Gib uns so viel Bier und Wein, wie es das wert ist.“
Der Wirt brachte zwei Krüge. Einer war aus unglasiertem Ton, in den viele Rillen geritzt waren. Akija wusste, dass man auf diese Art Tonkrüge auf dem Festland verzierte. Buriasch schenkte zwei Holzbecher voll und schob einen vor sie.
„Hab Dank“, sagte Akija. „Ich habe vorhin gehört, wie du sagtest, du seist in Knossos gewesen. Kannst du mir Neuigkeiten erzählen? Wen machte meine Schwester zum Nachfolger?“
Er kratzte seine steifen Bartlocken, während er nachzudenken schien. „Ja, ich verstehe, dass dich das interessiert, Herrin. Aber deine Schwester sitzt noch immer auf dem Bergthron.“
„Aber das kann nicht sein!“
„Weshalb denn nicht?“, fragte er sichtlich erstaunt.
„Weil sie …“ Akija zögerte. Er war ihr fremd, und sie musste mit ihm über Dinge reden, die zwischen ihr und Temidqe ungesagt geblieben waren. „Sie ist schwanger. Kennst du nicht das alte göttliche Gesetz?“
Buriasch breitete fragend die Handflächen vor ihr aus und ergriff seinen Becher. Dann erhellte sich seine Miene. „Ah, jetzt weiß ich, was du meinst! In den Straßen von Kunusa spricht man heute noch davon.“ Er trank, und sie fragte sich, von welchen Straßen er sprach, bis ihr einfiel, dass dies das kanaanitische Wort für Knossos war. Sie wartete, bis er getrunken hatte, und drängte ihn mit ihrem Schweigen. Er zupfte verlegen an seinem schweren Goldohrring.
„Ja, in deiner Stadt spricht man von ihrem Kind, von ihrem Bruder, der in der Stiertanzarena starb. Und von ihrer Schwester, die verbannt wurde, weil sie ihn hat sterben lassen.“ Er blickte erschrocken drein und räusperte sich verlegen. „Nun, soviel ich weiß, verlor die Hüterin ihr Kind, sodass sie sich noch nicht wieder für einen Nachfolger zu entscheiden brauchte.“
„Was sagst du da?“ Über den Tisch hinweg presste Akija die Finger fest in seinen Arm. „Sie verlor es?“
„Ja! Ja, ich bin mir sicher.“
Mijaro hatte das Kind verloren. War es wirklich so einfach gewesen? Sie muss es getötet haben.
Buriasch blickte an ihr vorbei zur Tür, und Akija wandte sich um. Der Schatten eines Mannes fiel durch die geöffnete Tür, und unwillkürlich krampfte sich ihr Magen vor Enttäuschung zusammen.
Doch es war Temidqe. Sie las Verärgerung in seinen Augen, als sich ihre Blicke trafen. Er trat an den Tisch und stützte sich auf.
„Ich sah dich hier drinnen verschwinden“, sagte er, ohne Buriasch eines Blickes zu würdigen. „Was sollte das?“
„Wo ist Kusupata?“, fragte sie stattdessen. Er machte eine Geste in Richtung der Stadt.
„Er kehrte zurück und sagte, dass du fort seist. Ich bin sofort losgelaufen, um dich zu suchen. Du hättest doch irgendwo verletzt liegen können! Aber wie ich sehe, hast du nur die Gelegenheit genutzt, hier herumzustreifen. Gut, dass ich dich zufällig vom Hang aus sah.“ Er streckte eine Hand aus. „Komm, lass uns heimgehen.“
Sie erhob sich und reckte ihm das Kinn entgegen. „Du behandelst mich wie eine Sklavin!“
Der Wirt kam herbei und rieb erwartungsvoll die Hände, aber Temidqe achtete nicht auf ihn. Er zog die Hand zurück. „Das tue ich nicht“, murmelte er, aber er wirkte beschämt. „Ich soll auf dich achten, und du sollst nicht ohne Begleitung sein, das weißt du.“
Akija ballte die Fäuste; sie wollte ihn anschreien, aber sie konnte es nicht. Vielmehr überkam sie die unsinnige Hoffnung, er möge sie so berühren, wie er es zu Beginn des Sommers getan hatte. Einfach den Arm um sie legen. Und aufmunternd lächeln. Doch er stand nur da und wartete.
„Ich komme gleich mit dir“, sagte sie schließlich und wies auf Buriasch. „Aber zuerst wirst du zuhören, was dieser Händler zu sagen hat.“
„Was habe ich denn zu sagen?“, rief Buriasch widerwillig. „Herrin, ich weiß doch nichts.“
„Das, was du über die Hüterin sagtest“, drängte sie ihn. „Dass sie ihr Kind verloren hat.“
Buriasch hob die Hände zur verrußten Schenkendecke. „Ja, das ist wahr, Baal sei mein Zeuge, dass ich die Wahrheit spreche.“
Temidqe blickte ihn abwartend an, und als der Händler schwieg, zuckte er die Schultern. „Das wusste ich nicht. Aber was ändert es?“
„Begreifst du denn nicht?“, rief Akija. „Sie hat selbst dafür gesorgt, dass sie es verliert.“
„Wie kannst du das wissen?“
„Sie ist meine Schwester. Sollte ich sie nicht kennen? Sie hat es getan, um der Frage der Nachfolge zu entgehen.“
Temidqe rieb sich das Kinn, dann wandte er sich zur Tür. „Gut, ich habe es gehört. Mag sein, dass du recht hast. Aber ich frage dich noch einmal: Was ändert es?“
Akija schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Seine Begriffsstutzigkeit machte sie rasend! Temidqe drehte sich zu ihr um. Für einen Moment sah sie Bewunderung in seinen Augen aufblitzen, aber der Eindruck schwand schnell, und seine Brauen senkten sich unheilvoll.
„Ich werde nicht bleiben“, erklärte sie. „Ich werde nach Knossos zurückkehren. So schnell wie möglich.“
Er mahlte mit den Kiefern. „Das kannst du nicht“, sagte er nach einer Weile. „Es ist zu spät zum Segeln. Kein Schiff fährt jetzt noch nach Kreta.“
Das hatte sie nicht bedacht. Die Geschäftigkeit der Stadt hatte sie vergessen lassen, dass sich die Zeit des Handelns dem Ende zuneigte; und wie es auch in Knossos kurz vor den einsetzenden Herbststürmen der Fall gewesen war, hatten die Händler die Märkte noch einmal schier zum Bersten gebracht. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben.
„Buriasch“, sagte sie, „du magst Kia nicht; ich kann mir nicht vorstellen, dass du hier überwinterst.“
„Das ist wahr, Herrin“, murmelte der Kanaaniter und blickte ängstlich von ihr zu Temidqe. „Ich werde auf dem Festland überwintern, in Hermion. Aber bis nach Kreta fährt jetzt, glaube ich, niemand mehr. Ich kenne einen Händler, der tollkühn genug ist, das noch zu wagen, und es sicher auch tut, aber der lebt im Süden des Festlandes.“
„Das heißt, ich könnte mit dir fahren und in Hermion ein Schiff suchen, das mich zu diesem Mann bringt?“
„Herrin, wenn du es wünschst, werde ich dich mitnehmen, aber mehr kann ich nicht für dich tun. Es wäre möglich, dass du dich umsonst aufmachst, weil er vielleicht doch nicht mehr fährt oder weil du kein Schiff mehr findest, das dich rechtzeitig zu ihm bringt. Es wäre wirklich vernünftiger, bis zum Frühjahr zu warten.“
Akijas Gedanken wirbelten durcheinander. Wäre es das? Was würde Mijaro in dieser Zeit tun? „Nein.“ Sie stieß das Wort hart aus und war erleichtert, dass es die Entscheidung brachte. „Ich kann das nicht ertragen, hier zu warten. Diese Insel ist mein Grab!“
Sie fing Temidqes Blick auf, dem sie, sie sah es, damit einen tiefen Stich versetzte. Plötzlich war er mit zwei Schritten bei ihr und packte sie schmerzhaft am Arm.
„Und du glaubst, ich ließe dich gehen?“, schrie er sie an. „Die Hüterin trug mir auf, dich zu bewachen – ja, dich zu bewachen! Ich trage die Verantwortung für dich. Und ich lasse nicht zu, dass du dein Leben auf dem Meer wagst. Ich lasse es nicht zu!“
Wie gequält er sie doch ansah. Akija blickte unverwandt in seine Augen. „Und wie willst du es verhindern?“
Aufstöhnend legte er die Hände in ihren Nacken und ließ sie auf ihre Schulterblätter hinuntergleiten, um sie an sich zu ziehen. Sie spürte in seiner Umklammerung, wie seine Armmuskeln zitterten.
„Wärst du doch nie gekommen“, flüsterte er an ihrer Schulter. Es klang tränenerstickt, aber sie war sich nicht sicher. Als er den Kopf hob, waren seine Augen trocken, sein Blick jedoch von großem Schmerz. Und dann umfasste er ihren Hinterkopf, sodass sie sich nicht zu rühren vermochte, und küsste sie. Akija packte seine Unterarme, da sie zu fallen glaubte, aber ihre Füße standen noch fest auf dem Erdboden der Schenke.
„Ich werde dich begleiten“, sagte er schließlich und ließ sie los. „Buriasch?“
Der Händler nickte ergeben. „Ich selbst fahre erst in drei Tagen, aber morgen früh schicke ich meinen Gehilfen Zafar-El mit dem zweiten Schiff los, denn es ist zum Bersten gefüllt. Auf meinem Schiff hättet ihr es allerdings bequemer.“
„Wir nehmen das erste Schiff“, sagte Akija sofort.
„Morgen früh“, wiederholte Temidqe. „Die Göttin möge mir verzeihen, dass ich ihr Heiligtum im Stich lasse.“
„Was ist mit Kusupata?“, fragte sie. „Er kann doch bleiben.“
Temidqe hob abwehrend den Finger. „Nein, er wird mitkommen. Er ist hier, um auf dich zu achten. Sollen wir denn alle Gebote missachten?“
Akija spürte erneut ihren Widerwillen erwachen, und sie wollte ihm sagen, dass es ihn nicht zu kümmern hatte, wie sehr sie die Gebote ihrer Schwester übertrat. Aber dass er sich dazu bereit erklärte, sie gehen zu lassen, war mehr, als sie erwarten konnte. Sie nickte.