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Kaion stand achtern neben dem Steuermann, der keine Mühe hatte, beide Ruderpinnen gleichzeitig zu halten, und blickte zurück. Kretas Hänge lagen im Sonnenschein, nur der Gipfel des Iouktas hüllte sich in Wolken. Im Hafen drängten sich die Schiffe dicht aneinander; er konnte schwach die Rufe der Steuerleute und Hafenlotsen hören. Das türkisfarbene Meer lag vor ihnen. Nur langsam entfernte sich das Schiff in nördlicher Richtung, trotz der Anstrengung der Ruderleute. Das Segel hing schlaff von der Rah, die Taue an seinen Enden lagen ruhig auf den Planken. Die Zeit, in der sie noch die des Nachts seewärts wehende Brise hätten nutzen können, war längst verstrichen. In der Decksmitte kauerte der Koch vor einem brodelnden Kupferkessel mit Ziegenfleisch und Gemüse.

„Nur noch ein kurzes Stück“, sagte der Steuermann, „und wir erreichen die westliche Strömung.“

Kaion nickte, und wie zur Bestätigung blähte sich das Segel ein wenig. Menes schlenderte herüber, mit einer Holzschale und einem Hornlöffel in der Hand. Er lehnte sich an die Bordwand, hielt die Schale dicht unters Kinn und begann seine Mahlzeit.

„Was ist mit dir?“, fragte er mit vollem Mund. „Hast du keinen Hunger? Sobald wir Wind und die Männer die Ruder verstaut haben, sind die besten Fleischbrocken weg.“

Kaion schenkte ihm einen verächtlichen Blick, verschränkte die Arme und richtete seine Augen wieder aufs Meer. „Ich habe jetzt keinen Hunger. Und im Gegensatz zu dir mache ich mir auch keine Gedanken über einen vollen Bauch.“

„Nein?“ Menes lachte auf. „Worüber denn dann?“

Kaion schwieg. Manchmal gab es Zeiten, da er den König von Argos um sein schlichtes Gemüt beneidete.

„O, ich weiß“, sagte Menes ohne jede Spur des Bedauerns. „Dein Neffe ist in dieser seltsamen Arena gestorben, und nun trauert dein Herz. Bei der Macht des Donnerers, du hast diesen Jungen zwei- oder dreimal in deinem Leben gesehen!“

Kaion zwang sich, den Blick von der Insel loszureißen. Er drehte sich zur Bordwand, stützte die Hände darauf und sah zu, wie Menes den Koch herbeiwinkte, ihm die geleerte Schale gab und einen Schlauch mit Wein entgegennahm. Sobald Menes getrunken hatte, streckte Kaion die Hand aus, und der halb geleerte Schlauch fiel auf seine Handfläche. „Du hast recht, mein Herz bleibt unberührt. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich gar nicht mehr genau, welcher meiner Brüder dereinst Kreta besuchte und Iasas Mutter dort schwängerte.“ Er setzte die Öffnung des Ziegenbalgs an die Lippen und trank. „Wie auch immer, die Vergangenheit ist unwichtig. Ich habe die Hüterin überredet, ihn anstatt ihrer Schwester zum Nachfolger zu küren. Iasa war ein stolzer junger Mann, aber schwach im Geist. Er wäre leicht zu beeinflussen gewesen.“

Menes kratzte zwischen seinen Zähnen herum und spuckte über die Bordwand. „Diese Mijaro erschien mir schwach genug.“

„Natürlich ist sie das. Sie ist eine Frau! Aber sie ist … nun, sie ist ihrem Volk verpflichtet. Iasa hingegen … Sein Kreta wäre nur eine Insel unter vielen gewesen. Unsere Männer hätten das Meer durchsegeln können, ohne von der kretischen Flotte behelligt zu werden. Unter seiner Herrschaft hätten wir tun und lassen können, was wir wollten. Wir allein hätten das Meer beherrscht!“ Mit einer ärgerlichen Bewegung verschloss Kaion den Schlauch und warf ihn auf die Planken. Wie sehr ihm die Vorherrschaft der Kreter missfiel! Sie bauten die besseren Schiffe, sie fertigten die edlere Keramik, sie woben die feineren Stoffe, und sie waren angesehener in den Ländern südöstlich des Meeres. Er hätte Iasa dazu bringen können, die besten Handwerker und Künstler nach Mykene zu schicken. O ja, Mijaro war eine beeinflussbare Frau, aber sie dachte doch stets zum Wohle ihrer Insel. Viele überzeugende Worte hatte es ihn gekostet, bis sie seinen Vorschlag angenommen hatte, Iasa zu wählen. Es dient dem Frieden beider Völker, hatte er ihr eingeflüstert. Und sie, zermürbt und müde von den ständigen Auseinandersetzungen mit achaiischen Gesandten der zahlreichen Königreiche, hatte genickt.

Ja, endlich hatte sie genickt, nachdem sie erkannt hatte, dass sie schwanger war.

Er konnte ein leises Fluchen nicht unterdrücken und schüttelte den Kopf. „Seltsam, diese Bräuche dort“, murmelte er. „Warum muss eine Frau abdanken, bevor sie ein Kind gebiert? Warum erben die Kinder nicht den Thron? Warum muss es überhaupt eine Frau sein, die herrscht?“

„Du fragst mich Dinge, die ich dir nicht erklären kann.“ Menes hob den Kopf. Aufkommender Wind ließ sein Haar aufsteigen und flattern. Er eilte zum Heck und übernahm eine der Ruderpinnen. „Wind, Männer!“, brüllte er übers Deck. „Wir haben die Strömung nach Westen erreicht! Beim Dyaus, morgen Abend sind wir in der Heimat.“

Die Männer zogen die Ruder ein, verstauten sie dicht an den Bordwänden und eilten zu den lose flatternden Tauen, um sie zu straffen und das Segel fest im Wind zu halten. Schon begann sich das Schiff mit der Dünung zu heben und zu senken, und die Gischt spritzte beiderseits des Bugs in die Höhe. Kaion presste das Gesäß gegen die Bordwand, um das Gleichgewicht zu halten. Es gab für ihn nichts zu tun, Menes kommandierte geschickt die Männer und wusste um jeden Handgriff im Schlaf. Doch nicht nur deshalb hatte er den König von Argos auf diese Reise mitgenommen. Manchmal brauchte Kaion die Gegenwart dieses stets gut gelaunten Kerls, auch wenn dessen schlichtes Gemüt und fehlender Ehrgeiz ihm manchmal lästig waren. Wohl jeder achaiische König beäugte misstrauisch den Reichtum seines Nachbarn, nur Menes schien das gleichgültig zu sein. Wenn er mit seinen Leuten zu Beutezügen aufbrach, dann nur um des Abenteuers willen.

Abenteuer habe ich ihm versprochen, erinnerte sich Kaion. Und war der Überlebenskampf einer halbnackten Frau in einer Stierarena nicht ein prächtig anzusehendes Abenteuer gewesen? O ja, das war es. Und Menes hatte sich entsprechend begeistert gezeigt – er war von diesem Weibsbild gehörig beeindruckt.

Warum eigentlich? Er selbst hatte ein verängstigtes Mädchen in Erinnerung, das sich hingekauert und geschrien hatte. Ja, zuvor hatte sie Haltung gezeigt, und es war in der Tat ein prächtiges Bild gewesen: der Stier und diese junge Frau in ihrem weißen Schurz und mit nackten, stolz vorgereckten Brüsten. Und da war ihr Blick gewesen, zornig und enttäuscht, als die Hüterin ihre Entscheidung verkündet hatte. Ein Blick, der versprach, sich dieser Entscheidung nicht zu beugen. Aber nun war sie auf eine Insel verbannt, wo irgendein Mann ihr den stolzen Blick sicher auszutreiben wusste.

Was kümmerte es ihn.

Wäre sie nicht ausgerechnet die Schwester der Hüterin gewesen, so hätte er sie vielleicht von Mijaro gefordert. Eine kretische Sklavin hätte sicher eine nette Abwechslung in seinem Palast sein können. Aber was machte das schon; in seinem Palast tummelten sich so viele Sklavinnen, dass er ihre Zahl nicht kannte, und viel mehr lockten ihn das Gold und die Macht. So hatten es die Könige auf dem Löwenthron des mächtigen Mykene schon immer gehalten, und so würde es bleiben. Er erinnerte sich, wie er als Junge seinen Vater auf einer Reise nach Ägypten begleitet hatte. Viele Tage hatte die Fahrt auf einem breiten Strom gedauert, der gesäumt gewesen war von grünen Ufern und dahinter schier endlosen Wüsten und Felsenlandschaften, bis sie schließlich eine Stadt erreicht hatten. Gewaltig war sie gewesen, geschmückt mit Tempeln und Palästen und beherrscht von einem mächtigen Gottkönig. Der König war zu jener Zeit eine Frau gewesen. Ihren Namen hatte er vergessen, aber niemals ihre kühlen Augen. Auch nicht ihre verwunderten, von einem Ägypter leise übersetzten Worte, nachdem sein Vater erklärt hatte, aus welcher Gegend er kam. Sie hatte niemals von Mykene gehört. Sie hatte geglaubt, es gäbe allein Kreta jenseits des Meeres, welches sie das Große Grün nannte. Sein Vater hatte sie an die Hyksoskämpfe vor vielen Jahren erinnert, als mykenische Söldner Seite an Seite mit Ägyptern auf den Schlachtfeldern gestanden hatten – aber auch davon hatte niemand etwas wissen wollen.

Er sah noch immer die mit Lapislazuli und Goldreifen geschmückte und mit Henna bemalte Hand, wie sie seinen Vater gelangweilt fortwinkte, und er spürte noch immer die Schamesröte auf seinem Gesicht …

„Ein Schiff voraus!“

Dieser Ruf riss ihn aus seinen Gedanken. Einer der Männer saß auf der Rah, mit den Schenkeln den Mast umklammernd, und deutete westwärts. Kaion eilte zum Bugsteven, wo bereits Menes stand, mit der Hand über den Augen.

„Ein kretischer Kauffahrer“, erklärte der König von Argos mit breitem Lächeln. „Er liegt tief im Wasser. Vielleicht Töpferware? Oder Krüge mit Olivenöl? Was immer er befördert, es wird sich lohnen, es zu überprüfen. Wir werden ihn mit Leichtigkeit einholen.“

„Dann los!“, rief Kaion, und die Männer jubelten ihm zu.

Buriaschs Schiff beschrieb einen Bogen in westliche Richtung, um den Fallwinden an Kias Südküste zu entgehen. Der Mast wurde umgelegt, die Ruderer griffen nach den Riemen. Buriasch stand am Bug und wies mit beiden Händen gestikulierend zum Hafen.

„Sieh, Herrin, das ist Kia!“, rief er. „Ein guter Ort, um Geschäfte zu machen, aber ein Ort zum Leben? Ich werde daheim in Tyros meinen Göttern ein Opfer darbringen und dafür beten, dass es dir hier gut ergehen möge.“

Akija neigte den Kopf. Buriasch hatte nicht vergessen, dass sie im Palast für ihn eingetreten war, und ihr mit Freundlichkeit und Fürsorge die Überfahrt zu erleichtern versucht. Dennoch hatte er ihr nicht verhohlen, froh darüber zu sein, nur wenige Tage auf Kia verweilen zu müssen, um seine Geschäfte abzuwickeln. Was er mehr noch erzählt hatte – Akija wusste es nicht. Sie war in ihre eigenen düsteren Gedanken versunken. Wieder und wieder hatte sie ihre Lage hin und her geschoben wie ein leckes Boot durch ein Meer aus Verzweiflung. Es gab keinen Ausweg. Außer irgendwohin zu flüchten, aber wo sollte das sein? Nur auf Kia konnte sie hoffen, dass Mijaro sich eines Tages eines Besseren besann und sie zurückholte. Aber diese Überlegung war eine der lichteren. Die anderen waren voller Dunkelheit, Vergessenheit. Und nun, da das Ziel erreicht war, fühlte sich Akija wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt.

Das Schiff steuerte auf eine kleine, mit anderen Schiffen und Fischerbooten vollgestopfte Bucht zu und warf den Ankerstein an einem der wenigen freien Plätze aus. Unmittelbar hinter dem Strand erhob sich eine Felsenwand, an deren Hängen das wuchs, was der Händler die Stadt Kia genannt hatte. So klein und unscheinbar dieser Ort wirkte, er war bevölkert wie eine große Stadt. Die Gassen und Treppen waren voller Menschen, und ihr Lärm wallte von den Hängen und schlug an Akijas Ohren, als sie die Leiter hinunterstieg, die die Seeleute an die Bordwand eingehängt hatten. Hinter ihr folgte Kusupata, ihr schweigsamer Leibwächter. Sobald er ins knietiefe Wasser gesprungen war, ließen zwei Männer Akijas Kiste auf seine Schulter herab. Akija warf sich einen kleinen Sack auf den Rücken und stapfte den Strand hinauf. Der war nichts als ein schmaler, schmutziger Sandstreifen. Aufseufzend blickte Akija den Hang hinauf. Diese seltsame Stadt war lediglich eine unordentliche Ansammlung kleiner, niedriger Häuser. Treppen waren in die Felswand gehauen, wo sie zu steil war. Sicherlich befand sich das Haus der Priesterin ganz oben. Akija hatte keine Eile, ihr neues Zuhause zu betreten, dennoch freute sie sich auf ein Bad, auf kühles Wasser und frische Kleider. Kusupata ging voraus, um ihr den Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Sie vernahm ein Stimmengewirr, in dem sich mindestens ein halbes Dutzend Sprachen mischten: die der Ägypter, Kanaaniter, von den Inseln und dem Festland. All diese Leute kamen, um Handel zu treiben, so hatte es ihr Buriasch erzählt.

Es dauerte lange, bis sie den Felsen erklommen hatten. Hier oben lag der eigentliche Kern der Stadt, und die Häuser standen so dicht gedrängt wie am Hang. Akija hielt Ausschau nach dem größten der Häuser, von dem sie annahm, dass es am höchsten Punkt lag. Ein solches Haus gab es auch, doch es war kaum größer als die anderen. Achselzuckend marschierte sie darauf zu. Zumindest würde man ihr dort sagen können, wo die Priesterin wohnte.

Über der Tür einer mannshohen Umfassungsmauer war das aus Sandstein gehauene Stierhornsymbol errichtet – das Heim dahinter musste das der Oberpriesterin sein. Akija klopfte an die Tür. Nichts rührte sich. Unschlüssig sah sie sich um. Eine Treppe führte hinauf zur Mauerkrone. Schließlich ließ sie den Sack zu Boden gleiten und stieg die schmalen, ausgetretenen Stufen hoch. Bedächtig reckte sie den Kopf über die Mauer und blickte in einen kleinen Innenhof mit einem winzigen Wasserbecken in der Mitte. Daneben lagen mehrere geflochtene Schalen und Körbe, dazu Bündel von Weidenruten. An den Wänden waren Vorratskrüge aufgereiht, um vieles kleiner als jene in Knossos auf ihrer Heimatinsel Kreta. Gegenüber befanden sich nebeneinander drei mit Vorhängen versehene Türöffnungen. Auch dort führte eine Treppe zum Dach, auf dem Dattelpalmen in Kübeln wuchsen. Aus der mittleren der drei Kammern erklang das Klappern von Geschirr.

Tränen des Zorns und der Enttäuschung traten in Akijas Augen – oder entsprangen sie noch der Verzweiflung von vorhin? Nun, wenn dies hier wahrhaftig ihr neues, erbärmliches Zuhause war, dann bestand keine Veranlassung, auf sich aufmerksam zu machen. Dann konnte sie kommen und gehen, wie sie wollte! Sie schwang sich über die Mauer und stieg die dahinterliegende Treppe hinunter. Hinter dem Vorhang der mittleren Kammer brutzelte etwas, und der Duft von Lammfleisch ließ ihren Magen aufbegehren. Sie holte tief Atem und riss den Vorhang auf.

Ein Mann richtete sich von der Herdstelle auf, über die er sich gebeugt hatte. Er wirkte nur flüchtig überrascht. Er legte sein Messer, mit dem er offenbar das Fleisch in der Pfanne gewendet hatte, auf den Rand des gemauerten Herdes und machte einen Schritt auf sie zu.

„Die Oberpriesterin von Kia“, kam sie ihm zuvor, „wohnt sie hier? Wo ist sie? Und wer bist du? Bist du ein Priester? Oder ein Diener?“

Dicht vor ihr blieb er stehen. „Das sind viele Fragen auf einmal“, erwiderte er nicht unfreundlich, „zumal für jemanden, der ungebeten hier eingedrungen ist. Wäre es sehr vermessen, wenn ich zuerst dich frage, wer du bist?“

Missmutig nahm sie wahr, dass er sie mit einer Spur Belustigung musterte. In ihrem kniekurzen Hüfttuch und dem schweißfeuchten, schmutzigen Hemd darüber konnte man in ihr kaum eine Schwester der Hohepriesterin vermuten. Aber sie dachte nicht daran, ihren Namen dem Erstbesten zu nennen, der sie danach fragte. „Das wäre es nicht, dennoch werde ich allein der Oberpriesterin antworten. Wenn sie jedoch nichts mit diesem Haus hier zu tun hat, dann gehe ich wieder.“ Sie wich auf den Hof zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Die Oberpriesterin von Kia ist vor einem Monat gestorben.“ Der Mann folgte ihr auf den Hof. Sein Lächeln wirkte ein wenig hilflos, doch seine tiefbraunen Augen schienen sie um Vertrauen zu bitten.

„Das weiß ich“, erwiderte sie, den Blick zur Seite. „Ich meine auch nicht sie, sondern jene, die zu ihrer Nachfolgerin bestimmt wurde.“

„Wer soll das sein?“ Er klang ehrlich überrascht. Plötzlich lachte er leise. „O, ich verstehe. Du weißt gar nicht, wer die Nachfolge antrat, nicht wahr?“

Akija ballte die Fäuste unter den Achseln und kämpfte um eine feste Stimme. „Nein, ich weiß es nicht.“

„Das dachte ich mir. Du hast natürlich erwartet, dass es eine Frau sein würde. Aber so ist es nicht. Der Oberpriester der Insel Kia bin ich – Temidqe.“

Akija starrte ihn an. Das war unmöglich. Kein Mann konnte Oberpriester sein … Kein Mann? Sie stieß einen Schrei aus und wich zurück, bis sie an die Außentür stieß. Sie kam sich entsetzlich töricht vor. „Ich hatte geglaubt, Mijaro sei dabei, mit Iasa das alte Gesetz zu brechen, dabei hat sie es hier längst getan! Hier bleibe ich nicht!“ Sie fuhr herum und tastete nach dem Riegel. Doch ihre Finger zitterten so sehr, dass er sich in seiner Halterung verkantete. Sie vermochte ihn nicht zu öffnen.

Allmählich wurde ihr gewahr, dass Temidqe ihre Schultern umfasst hatte und sie sanft, aber bestimmt zu sich herumdrehte. Sie zog die Nase hoch, aber es war zu spät, er konnte nun ihre Tränen sehen, die auf ihren staubigen Wangen vermutlich hässliche Furchen zogen.

„Akija“, sagte er bedächtig, und sie zuckte bei der Nennung ihres Namens zusammen. „Akija, es tut mir leid. Dass die Hüterin mich erwählte, verwunderte mich ebenso sehr wie dich jetzt, aber sie befiehlt, und ich gehorche.“

„Woher weißt du, wer ich bin?“ Sie versuchte unauffällig, mit dem Handrücken über ihr Gesicht zu wischen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Kusupata auf dem Mauerkranz. Ihr Schrei hatte ihn offenbar herbeigelockt. Auch Temidqe hob den Kopf, und als er Kusupata sah, ließ er sie los und trat zwei Schritte zurück.

„Heute Morgen kam ein Bote von Kreta, der deine baldige Ankunft ankündigte und mir auftrug, dich in meinem Haus aufzunehmen. Bis eben hielt ich dich noch für eine Diebin, aber nun ist mir klar, wer du bist, auch wenn ich dich in angemessenerer Kleidung erwartet hätte.“

„Ich weiß, ich sehe vermutlich aus wie die Frau eines Fischers“, brummte sie. „Aber was sollte ich hier auch mit kostbaren Stufenkleidern, Geschmeide und Dienerinnen, die mir die Haare kämmen? Lebst du allein hier?“

„Nein, da ist noch eine Magd, die mir zur Hand geht. Ich hoffe, du hast wenigstens eines deiner guten Kleider dabei, denn auch hier bist du immer noch eine Priesterin.“

Akija wandte sich noch einmal mit hängenden Schultern der Tür zu. Dann blickte sie zu Kusupata hoch. Erstmals kam ihr der Gedanke, dass er sie gar nicht fliehen lassen würde. Sie drehte sich zu Temidqe um. „Wie es scheint, werde ich hierbleiben. Wo werde ich schlafen?“

Lächelnd deutete er auf die rechte Kammer. „Es ist nicht das größte Zimmer, aber dafür hat es ein Fenster. Die Magd wird dafür im Nebenhaus schlafen. Es diente bisher nur unserer Vorratshaltung. Dort kann auch dein Begleiter schlafen.“

Mit einem lauten Krachen landete Kusupata im Hof, öffnete die Tür und zerrte die Reisekiste und den Sack herein. Dann setzte er sich auf die Kiste und verfiel wieder in sein übliches Schweigen.

Akija betrat zögernd die Kammer der Magd. Dank des rückwärtigen Fensters und der weißen Tünche war es recht hell. Ein Lager aus Stroh mit einer Decke darüber, dazu ein Hocker, das war alles. Der Boden war nichts als festgetretene Erde. Mehr noch als diese Kargheit störte sie die Leere der Wände. Wie sehr hatte sie die Wandmalereien in Knossos geliebt, die Delfine, Blumen, Greife und feiernden Menschen in all ihrer leuchtenden Farbenpracht. Doch als sie ans Fenster trat, wurde sie mit einer schönen Aussicht entschädigt. Gleich hinter dem Haus waren ein kleiner Garten und ein mit Reben bestandener Abhang, der unterhalb der Reben steil zu sein schien und in einem baumbestandenen Wellental mündete. Die bergige Insel schien von kleinen Tälern durchzogen und wirkte durchaus nicht so hässlich, wie Buriasch es empfand.

„Komm, lass uns essen“, forderte Temidqe sie auf und hob einladend den Vorhang der mittleren Kammer. Hier stand eine Frau am Herd und rührte gleichzeitig in der Bratpfanne und einem kleinen Kupfertopf. „Das ist Hapase, meine Dienerin. Sie stammt aus der fernen Stadt Tyros.“

Hapase, eine ältere, stämmige Frau, musterte Akija misstrauisch und nickte zum Gruß. Die kupfernen Reife um ihre Handgelenke klirrten, während sie unablässig rührte. Akija rutschte auf die Bank hinter einem wuchtigen Tisch, Temidqe zog sich einen Hocker zwischen die Knie und verteilte kleine Schalen. Akija nahm ihre Schale. Sie war weiß glasiert und mit blauen Ornamenten bemalt; keine sehr kostbare, aber sorgfältige Arbeit. Das Blau war von gleicher Farbe wie auf den Essschalen im Palast.

„Möchtest du, dass dein Diener hier mit uns isst?“, fragte Temidqe. Akija überraschte die Frage. Da Kusupata sie bewachte, sah sie keinen Grund, ihn anders zu behandeln als die Wachleute in Knossos, die in ihren eigenen Unterkünften aßen. Aber er war immerhin ein Priester. Sie nickte, und Temidqe winkte ihn herein und zog ihm einen Hocker heran.

„Womit beschäftigt ihr euch den ganzen Tag?“ Akija ließ die Schale sinken. Hapase zog abfällig die Nase hoch und stellte Pfanne und Topf auf den Tisch.

„Mit Faulenzen“, brummte sie und schlug einen Löffel Getreidebrei in Temidqes Schale. Der zwinkerte Akija zu.

„In Hapases Heimat und Ägypten“, erklärte er, „überhaupt in diesen östlichen Ländern, ist der Priesterdienst verbunden mit einer Unmenge von Bräuchen und Gesetzen. Ich frage mich, wie ein Priester ernsthaft seiner Gottheit dienen kann, wenn er vor jedem Handgriff seine Gesetzestexte befragen muss, ob sie es ihm auch erlauben. Hapase begreift nicht, dass es der Göttin sehr viel mehr Freude bereitet, wenn wir als ihre Priester ein ruhiges, besinnliches Leben führen, das uns Zeit genug lässt, um zu ihr zu beten und die Natur zu genießen.“

Hapase runzelte unwillig die Stirn. Sie füllte die restlichen Schalen und setzte sich zu Akija auf die Bank. Akija bemühte sich um eine besänftigende Miene. „Kein Gott kann Freude an darbenden Priestern haben. Aber was ist es denn, womit ihr hier euren Lebensunterhalt bestreitet?“

„Wir flechten Behälter – Körbe, Schalen, Taschen – und verkaufen sie auf dem Markt.“ Temidqe spießte ein großes Stück Lammfleisch auf und biss hinein. „Draußen im Garten pflanzen wir Gemüse an. Und gelegentlich fahre ich zum Fischen hinaus. Es wäre wirtschaftlicher, nur zu flechten und das Essen zu kaufen, aber die Arbeit in der Natur macht Freude und ist ein Dienst an der Göttin.“

Akija nickte. Auch auf Kreta hatte sie gemeinsam mit den Priestern auf den Feldern außerhalb der Stadt gearbeitet. Aber Körbe flechten? „Ich kann nicht flechten“, erklärte sie sofort.

„Das wäre aber ungewöhnlich für eine Priesterin, dass sie nichts mit den Händen tut.“

Sein Lächeln war warm und echt, und sie fragte sich, warum es sie ärgerte. Warum, bei der Göttin, fühlte er sich von ihrem Hiersein nicht gestört? Priester sollten natürlich gehorsam sein, aber nahm er alles so gelassen hin?

„In Knossos habe ich oft in der palasteigenen Töpferei gearbeitet“, gab sie zu.

„Hier töpfern wir aber nicht“, warf die Magd mit strengem Ton ein.

Temidqe hob eine mahnende Hand. „Hapase, lass es gut sein mit deiner Stichelei. Akija wird das Körbeflechten schon lernen.“ Er angelte unter der Bank eine aus Weidenruten geflochtene Schale hervor. Es war eine einfache, aber feine Arbeit. „Wenn du an Töpferware aus dem Palast Hand anlegen durftest, wird dir dies hier keine Schwierigkeit bereiten.“

Er hielt ihr die Schale hin, aber Akija dachte nicht daran, sie zu nehmen, sondern schaufelte ihren Brei in sich hinein. Er war recht gut gewürzt; dennoch wäre ihr ein frisches Stück Brot lieber gewesen. Sicher gab es hier häufiger Getreidebrei als Brot, und vermutlich auch nicht ständig Lammbraten. Seufzend ließ Temidqe die Schale sinken. „Es tut mir ehrlich leid, dass du hier Dinge wirst tun müssen, die in Knossos unter deiner Würde waren.“

„Ja“, schnappte Akija. „Dir glaube ich, dass es dir ganz ehrlich leidtut.“

Verwirrt runzelte er die Stirn, und sie wünschte sich, Hapase würde weitersticheln. Das Verhalten dieser Frau war zumindest verständlicher als seines. „Ich werde meinen Teil der Arbeit beitragen“, schnaubte sie. „Ob ich sie mit oder ohne Freude tue, muss dich nicht kümmern. Vergiss nicht, es ist nicht mein Wunsch, hier zu sein!“

Temidqe wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nickte langsam. „Ich weiß.“

Er erhob sich und trat zum Durchgang. Eine Hand am Vorhang, schien er um Worte zu ringen, doch er ging schweigend hinaus. Da Akija hier nichts mehr zu suchen hatte, trat sie ebenfalls auf den Hof. Auf den Fersen kauernd begutachtete Temidqe die neben dem Wasserbecken aufgestapelten Flechtarbeiten. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Unschlüssig stand Akija hinter ihm. Sie wollte sich in ihre Kammer zurückziehen, aber dort hätte sie nichts anderes tun können, als sich auf ihre Strohmatratze zu werfen und die kahlen Wände anzustarren. Schließlich ging sie an seiner Seite in die Hocke.

„Also zeig es mir“, brummte sie und presste fest die Lippen zusammen, als sich seine Miene erhellte. Er nahm das Weidenrutenbündel, schnitt die Kordel durch, die es zusammenhielt, und begann seine Erklärung. Sie starrte auf seine Finger, bemüht, ihre Blicke sich nicht kreuzen zu lassen.

Die Stiertänzerin

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