Читать книгу Die Stiertänzerin - Sabine Wassermann - Страница 8
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ОглавлениеDas Licht, ein langsam über den Höhlenboden wandernder Fleck, streifte die in den Fels geritzten Zeichnungen. Eine Frau hielt Schlangen in den Händen, einer anderen fehlten Kopf und Hände, und Blut schien aus den Stümpfen zu tropfen. Die Zeichnungen waren alt, und das Wissen, was es damit auf sich hatte, war verloren gegangen. Nur von der Frau mit den Schlangen wusste man, dass sie eine Priesterin war, denn auch heute wurde die Große Göttin – die Mutter der Insel, die Mutter allen Lebens – verehrt, indem man Schlangen zu ihren Altären brachte. Nur waren es selten lebende Schlangen; heute brachten die Priester und Priesterinnen kleine Figuren aus Stein, Holz oder Ton dar. Allein die Hohepriesterin ließ sich Schlangen um die Arme legen, um zu zeigen, dass sie eins war mit der Göttin, der großen Schlangenmutter.
Auch Akija würde dies eines Tages tun. Noch war sie eine Priesterin von vielen, noch bestand ihre Gabe an die Göttin aus nichts als einer Specksteinfigur. Vor vielen Jahren hatte sie die Figur mühsam geschnitzt, und so sah sie auch aus: ein kleiner, unförmiger Klumpen, geschaffen von der Hand eines Kindes. Noch heute erkannte Akija eine Schlange darin, und die Öse, die ihre Mutter durch den Stein gebohrt hatte, um ihn an ihrem Stiertänzertuch festzunähen, bildete die beiden Augen, die Furchen des Messers das Zackenmuster des Leibes.
Akija legte die Schlange neben all die anderen Bittgaben – schmucklose Tonidole, ein kleiner Delfin aus Alabaster, ein bronzenes Salbgefäß – und blickte den Lichtstrahl hinauf, den die Sonne durch eine winzige Öffnung in der Höhlenwand warf. Außerhalb dieses Strahls herrschte hier unten Dunkelheit.
Es war die Hohepriesterin, für die Akija das Wohlwollen der Göttin erbat. Ihre Schwester war seit einigen Tagen verschlossen und reizbar. Mijaro pflegte nicht mit ihren jüngeren Schwestern über die Sorgen zu reden, die eine Hüterin des Volkes plagten. Aber für gewöhnlich zeigte sie sich tatkräftig und entschlossen und saß nicht stundenlang an den Fenstern ihrer Gemächer, die Hände im Schoß. So blieb Akija das Gebet an die schutzgebende Göttin, dass sie ihrer Schwester beistehen möge. Ein Gebet. Und eine Gabe.
Akija musste sich überwinden, die Schlange liegen zu lassen, und beinahe hätte sie sie wieder an sich genommen. Schnell drehte sie sich um, raffte ihr Kleid und schritt behutsam über den steinigen Boden. Um hinauszugelangen, musste sie durch einen schmaler werdenden Korridor gehen und sich schließlich auf die Knie hinablassen, um durch einen kurzen Tunnel zu kriechen. Unangenehm war ihr das nicht, nur musste sie auf ihr kostbares Kleid achten, das um ihre Beine bauschte und sie behinderte. Die winzige Höhlenöffnung war von außen durch dichtes Buschwerk verborgen. Es gab viele Höhlen auf Kreta, in denen die Göttin verehrt wurde; einige besaßen große Eingänge und mächtige Hallen, in denen Zeremonien abgehalten wurden. Akija kämpfte sich zwischen dornigem Ginster hindurch ins Freie.
Sie richtete sich auf, trat auf den Waldweg und begann Blätter aus dem Haar zu pflücken, das ihr in dichten, schwarzen Locken bis zu den Ellbogen fiel. Während sie nach ihrer säumigen Dienerin rief, versuchte sie ihr Kleid zu begutachten, und als sie aufsah, erblickte sie das Mädchen an der nächsten Wegbiegung. Es schien sich von jemandem zu verabschieden, der gerade fortging und hinter einer Gruppe von Zypressen und Aleppokiefern außer Sicht geriet.
„Wer war das?“
Dann deutete Akija auf den Ziegenschlauch an der Schulter des Mädchens. Es wickelte die Schnur von der Öffnung und streckte ihn vor. Akija setzte ihn an die Lippen und trank so heftig, dass das Wasser ihren Hals hinunterrann. Es war herrlich kühles Quellwasser, wie es hier überall aus den Felsen sprudelte. Jedes Mal, wenn sie aus der Höhle trat, schien es ihr noch besser zu schmecken, der Thymian und Salbei, die im Schutz der Ginsterbüsche wuchsen, kräftiger zu duften und die Sonne strahlender zu sein. Nirgends war es schöner als auf der Insel der Göttin. Akija hatte sie noch nie verlassen, um das behaupten zu können, aber alle anderen sagten es auch: all die Händler und Reisenden von jenseits des Meeres, aus Ägypten, dem nördlichen Festland oder den Ländern der Kanaaniter und Hethiter.
Das Mädchen nahm den Schlauch zurück und verschloss ihn. „Jemand aus dem Palast. Ich soll dir sagen, dass du in den Thronraum gehen sollst. Auch dein Bruder wird sich einfinden. Es klang sehr wichtig.“
Akija blickte erschrocken zur untergehenden Sonne. „Es ist schon spät! In welchem Zustand ist mein Kleid?“
„Es ist zerknittert und hat Risse, wie immer, wenn du durch den Ginster kriechst, Herrin.“
„Komm, wir müssen uns beeilen. In den Thronraum, habe ich das richtig verstanden?“ Akija war erstaunt. Dann musste es sich in der Tat um eine wichtige Angelegenheit handeln. In letzter Zeit hatte die Hüterin die Anwesenheit ihrer Geschwister nur eingefordert, wenn Besuch zugegen war. Oft waren Gesandte aus den anderen großen Palästen Phaistos, Mallia oder Kato Zakros zu Gast, oder sie empfing hochrangige Priester und Priesterinnen der umliegenden Heiligtümer. Manchmal kamen Händler aus den südöstlichen Städten jenseits des Meeres.
Sie folgte dem Pfad, der bald in die nördliche Prozessionsstraße mündete. Dort zog sie die Sandalen mit den keilförmigen Absätzen aus, um schneller laufen zu können. Die silbrig glänzenden Ölbaumfelder wichen den Gärten herrschaftlicher Villen, deren Blumen und Sträucher jetzt im Frühsommer in voller Blüte standen. Weiter nördlich schimmerten die weißen Mauern und roten Säulen des Palastes im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Akija bedauerte, keine Zeit mehr für einen Umweg in eines der Palastbäder zu haben, denn sie schwitzte entsetzlich. Wenigstens hatte sie darauf verzichtet, ihre Augen mit Bleiglanz zu umranden. Ihr Gesicht sähe sonst vermutlich scheußlich aus.
Als sie die kleine Schlucht am Südende des Palastes erreichte, war die Sonne untergegangen. Sie lief über eine Brücke und an dem verfallenen Treppenaufgang vorbei, der von der alten Zeit vor der großen Flut kündete, als die Göttin der Tiefe ihre Schultern geschüttelt hatte und die Schlangen aus ihrem Haar geflüchtet waren. Tagelang hatte damals die Erde gebebt, selbst jenseits der Meere. Zehn Generationen lag das jetzt zurück, und immer noch lagen die roten Zypressenholzsäulen mit den schwarzen Kapitellen zerborsten im Gras.
Der Wachtposten am Westeingang verneigte sich und öffnete ihr die Tür. Sie rannte durch die fahle, von wenigen Kerzen unterbrochene Düsternis des Prozessionskorridors, wo auf einem nicht enden wollenden Wandbild Priester und Priesterinnen aufmarschierten und Gaben trugen. Am Ende des Korridors erhob sich auf rotem Grund das Bild des jugendlichen Gottes mit einem Lilienputz auf dem Kopf, der im erhobenen Arm eine Schlange hielt. Sie erinnerte sich an den Besuch eines festländischen Gesandten, der gesagt hatte, dies müsse wegen seiner Lilienkrone ein Prinz sein. Könige nannten sich die Herrscher der Festländer, und sie gaben ihre Zepter an die Söhne weiter. Diese Leute gebärdeten sich stets wie mächtige Eroberer.
Sie trat hinaus auf den großen Hof. In den Gemächern des Westflügels flammten die Lampen auf und warfen ihren matten Schein auf das Pflaster. Auch aus dem Vorraum, der zum Thronraum führte, floss das Licht der Kerzen ins Freie. Akija blieb abrupt stehen, denn der Hof war nicht leer, wie sie es erwartet hatte. Die Hüterin stand vor den Pfeilern des Vorraums, umringt von einigen priesterlichen Würdenträgern. Offenbar hielt sie jemand auf dem Weg zum heiligen Saal auf.
Es war ein kanaanitischer Händler, der sie mit einem empörten Wortschwall bedachte.
„Hundert Ballen feinstes ägyptisches Leinen!“, rief er mit einem fremdartig klingenden Akzent und hob die Hände zum Abendhimmel, als wolle er seine Götter anklagen.
Mijaro atmete tief aus und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. „Allmächtige Göttin“, murmelte sie. „So oft schon habe ich in letzter Zeit solche Klagen gehört. Wo befand sich dein Schiff?“
Akija schlüpfte in ihre Sandalen und trat leise näher. Sie versuchte ihre zerzausten Haare zu ordnen und zu begreifen, worum es hier ging. Ihr Halbbruder Iasa verspätete sich offenbar ebenfalls, denn er war nicht hier. Vermutlich hatte er draußen seine Stiertanzübungen verrichtet, wie so oft, und säuberte sich jetzt im Nordbad.
Der Händler war ein feister Mann, der es trotz der Reichhaltigkeit seines Schmuckes um Hals und Arme verstand, elendig dreinzublicken. „Der Zielhafen des Schiffes war schon in Sichtweite, so berichtete mir mein Schiffsführer, der den Überfall überlebte. Doch dann waren sie plötzlich da, diese festländischen Piraten. Baal möge ihre Seelen auf dem großen Feuer rösten!“
„Und haben sie gesagt, dass sie vom Festland sind?“
„Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Herkunft zu verbergen. Allesamt trugen sie Gold an den Ohren und in den Haaren. Und manchmal wechselten sie auch ein paar Worte in ihrer Sprache!“ Er verstummte und drehte den Kopf, wie alle anderen. Schritte hallten auf dem Pflaster. Ein junger Mann trat ins Licht, groß und von schlanker, kräftiger Gestalt. Er genoss es sichtlich, die Augen aller auf sich zu wissen. Vielleicht erschien er nur um dieser Wirkung willen zu spät.
„Langes Leben dir, Schwester“, sagte er und küsste ehrerbietig Mijaros Hand. Dann begrüßte er die Priester mit einem Kopfnicken und wandte sich dem Kanaaniter zu. „Ich habe bereits draußen in der Stadt von dem kanaanitischen Händler namens Buriasch gehört, der angeblich ein Schiff an die Achaier verlor. Dieser Händler bist du, nicht wahr?“
Der Kanaaniter blickte verunsichert drein. Mijaro deutete auf Iasa. „Dies ist Iasa, mein und meiner Schwester Halbbruder. Sein Vater war ein Hequetas, ein Angehöriger des festländischen Kriegeradels. Sein Onkel ist ein festländischer König.“
„Du bist ein Achaier?“, murmelte der Händler betroffen.
„Meine Mutter ist Kreterin, demnach bin ich es nicht“, erwiderte Iasa mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. „Dennoch ist dies wahrhaftig kein leichtes Los in einer Zeit, in der jeder kretische Fischer befürchtet, seinen Nachen an achaiische Piraten zu verlieren.“
Buriasch hob beschwörend die Hände. „Es ist nicht meine Schuld, dass die Bewohner der Inseln Furcht haben müssen, wenn sie hinaussegeln. Ich schwöre bei meinem Gott Baal, dass ich die Wahrheit spreche.“
Iasa schüttelte den Kopf. „O nein, Kanaaniter, deine seltsamen dunklen Götter lassen dich nicht glaubwürdiger erscheinen. Eher hast du dein Schiff unterschlagen, um Ersatz zu fordern und den doppelten Verdienst einzustreichen. Ich glaube dir jedenfalls nicht.“
Des Händlers Blick wechselte von dem jungen ungestümen Mann hin zur Hüterin. Mijaros Brauen waren unheilvoll gerunzelt, aber sie schwieg.
„Doch selbst wenn du die Wahrheit sprichst, was soll es uns kümmern?“, fuhr Iasa kühl fort. Er schien zu genießen, das Wort zu führen, kaum dass er aufgetaucht war. Akija konnte kaum glauben, dass die Hüterin ihm nicht das Wort verbat. Mijaro hatte die Finger in ihre Oberarme gekrallt und rührte sich nicht.
Iasa verschränkte gewichtig die Arme vor der Brust. „Nun, Händler, hör mir zu: Deinesgleichen pflegt sich oft hier zu beklagen, wenn Fahrten misslingen. Ihr werdet uns eines Tages noch für Unwetter verantwortlich machen. Die kretische Flotte beobachtet die Hoheitsgebiete, die zur Insel gehören, aber sie gibt nur in seltenen Fällen Geleitschutz. Den Gewinn eines kanaanitischen Händlers zu mehren, ist ganz sicher nicht solch ein Fall.“
Buriasch riss die Augen auf, seine Lippen bebten. „Gewinn?“, stieß er heiser hervor. „Du irrst dich, Prinz von Kreta, mein Verdienst …“
„Prinz? Kreta hat keine Königin und auch keinen König, also bin ich kein Prinz.“
Der Händler wandte sich Mijaro zu und hob fragend die Schultern. „Du bist nicht die Königin?“
„Ich bin die Hüterin meines Volkes und sein Bindeglied zur Großen Göttin“, erwiderte Mijaro hoheitsvoll. „Eine Hüterin leitet die Geschicke des Volkes zu seinem Wohl, aber sie beherrscht es nicht aus Lust an der Macht.“ Nach kurzem Zögern nickte sie Iasa zu und wandte sich ab. Akija glaubte die Störung hiermit beendet und raffte ihr Kleid, um der Schwester zu folgen, aber Iasas Stimme durchschnitt die Dunkelheit wie ein scharfer Opferdolch:
„Aber du sollst durchaus Hilfe finden, Händler. Morgen schon werden zwei achaiische Könige hier eintreffen, zu freundschaftlichen, nachbarschaftlichen Gesprächen. Mein Onkel, der König von Mykene, ist einer von ihnen. Du wirst also Gelegenheit bekommen, deine Beschwerde an die Brüder des Festlandes zu richten. Sie glauben zwar, dass Kanaaniter schon zweimal gelogen haben, wenn sie einmal den Mund auftun, aber ich bin sicher, sie haben ein offenes Ohr für deine Sorgen.“
Akija drehte sich erstaunt um. Der Händler benetzte mit der Zungenspitze die Lippen, die Hände kneteten fahrig den Gürtel seines steifen, bunten Gewandes. „Nein“, murmelte er. Selbst in der Düsternis war zu sehen, wie fahl sein Gesicht geworden war. „Nein, Herr, das wird nicht nötig sein.“
„Glaubst du, du kannst eine so dreiste Behauptung aufstellen und dich dann entziehen, nur weil dir die Furcht im Nacken sitzt? Wo hast du dich einquartiert?“
„In … in einem Haus im Händlerviertel, Herr.“
„Gut. Es wird bewacht werden. Und ich werde dafür sorgen, dass einer der beiden Könige dich dort findet.“
Schweigen breitete sich aus, nur das hastige Atmen des Händlers war zu hören. Akija wartete auf einen Einwand Mijaros, doch nichts geschah. Sollten die Festländer den Händler wahrhaftig herausfordern, so mochte es sein Tod sein.
Akija blickte Iasa in die Augen. „Dieser Mann ist unser Gast“, sagte sie. „Du hast kein Recht, über ihn zu verfügen, nur weil er eine Äußerung getan hat, die du nicht gern hörst.“
Nun erst schien Iasa seine Schwester wahrzunehmen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, wobei sein Augenmerk einigen Rissen in ihrem Kleid galt. „Die kleine Akija. Sie läuft herum wie eine Tagdiebin und versucht sich an großen Reden. Du hättest dich baden und frisch ankleiden lassen sollen, statt hier herumzustehen und schwierige Gedanken zu wälzen. Hat dich dieser Kanaaniter bisher gut mit edlen Stoffen und kostbaren Schminktöpfen versorgt? Mit Geschmeide aus Ägypten? Es gibt doch so viele andere Händler, die dir alles bringen, was du wünschst.“
Sie bemühte sich, den Spott zu überhören. „Wenn er deinen Onkel sprechen will, so kann er das tun, und wenn er heute noch absegeln will, kann er das auch tun.“
„Ah. Du verrätst deine Gedanken.“ Er lächelte. „Du siehst dich schon an der Spitze der kretischen Priester, du ersehnst bereits die Macht, die das höchste aller Ämter mit sich bringt.“
„Macht? Hast du Mijaros Worte denn nicht gehört? Was bedeutet einer Hüterin Macht?“
„Warum bleibst du nicht in deinen Gemächern, ergötzt dich an deinen schönen Kleidern, lässt dir die Locken kämmen und wartest einfach ab, bis es so weit ist? Hm? Es könnte immerhin noch einige Jahre dauern, und vielleicht wird die Gelegenheit nie kommen.“
Akija starrte ihn an. Es war ihr unbegreiflich, wie er sich so aufführen konnte. Als er ihr in einer herablassenden Geste eine Ginsterblüte aus dem Haar pflückte, schlug sie seine Hand fort.
„Zumindest trage ich meine Gedanken nicht so offen vor mir her, wie du es tust!“
Er legte unbeeindruckt die Hand auf ihre Wange. Sie unterließ es, ihn anzuschreien, denn es war ungebührlich, wenn sich die höchste Familie Kretas inmitten des heiligen Hofes stritt. Es genügte, dass einige Höflinge an ihren Fenstern in den oberen Stockwerken standen und vermutlich neugierig lauschten.
„Dein Zorn ist deiner Schönheit abträglich“, sagte er, noch immer lächelnd. Sein Daumen fuhr über ihre Wange und drückte zu, sodass sie zu ihm aufsehen musste.
„Nun hört auf damit“, rief Mijaro ärgerlich. „Ich habe euch nicht gerufen, damit ihr hier herumstreitet. Auch nicht, damit ihr seht, wie mit einem durchtriebenen Händler verfahren werden soll. Er traf unangekündigt hier ein. Buriasch“, sie deutete auf den Kanaaniter, „nun lass uns allein. Die Gastfreundschaft gebietet, dass du in diesem Haus nächtigen darfst; ein Diener wird dir im Ostflügel ein Zimmer zum Schlafen zuweisen. Und ich wünsche nicht, dass du es heute Nacht verlässt.“
Akija blickte dem eingeschüchterten Händler nach, der sich mit hängenden Schultern verneigte und über den Hof tappte, wo er von den Wachen vor dem östlichen Treppenhaus in Empfang genommen wurde. Sie hatte gehofft, dass Mijaro ihr und nicht Iasa recht geben würde; nun aber lächelte ihr Bruder still und selbstgefällig vor sich hin.
Die Hüterin schritt über drei herabführende Stufen in den Vorraum, nahm dort eine der Kerzen und betrat den Saal der Reinigung. Die Geschwister folgten ihr, begleitet von einer hochrangigen Priesterin. Hier setzten sie sich auf die gemauerten Bänke an den Wänden. In der Mitte einer Längswand stand ein schlichter Stuhl mit wellenförmiger Rückenlehne, auf dem ein Weidenkorb stand. Mijaro steckte die Kerze in einen bronzenen Ständer und wandte sich zu den Geschwistern um.
Der schwache Schein ließ ihre Züge seltsam unnahbar erscheinen. Sie wirkte wie eine der Statuen der Göttin. Sie war sehr schön, wenn auch nicht mehr jung. Das rituelle Priesterkleid, das sie trug, engte ihre Taille ein und verhalf den entblößten Brüsten zu einer aufgerichteten Form. Es war ganz in Purpur gefärbt, wie es nur der Hüterin zustand, und die Volants des Stufenrocks stachen in leuchtendem Blau ab. Auf dem Kopf trug sie eine kegelförmige Mitra, die von einem wulstigen Seil – dem Abbild der Schlange – umschlungen wurde. Die Priesterin öffnete den Weidenkorb, hob die Schlange heraus und legte sie um Mijaros Schultern. Mijaro trat zu den Stufen, die zum Weihebecken hinunterführten, und schien in ihre Gedanken zu versinken. Ihre Finger glitten über den Schuppenleib.
Akija war das Schweigen unangenehm. Wenigstens sorgte das schwache Licht dafür, dass ihr zerzauster Zustand nicht weiter auffiel. Iasa starrte sie missmutig an. Er hatte die Hände abwartend auf die Schenkel gelegt; das Gold seiner Armreife glänzte matt. In seinem weißen Schurz und den langen Locken sah er tatsächlich aus wie das Abbild des jugendlichen Gottes.
Die Flamme knisterte und zuckte und ließ den Schatten Mijaros durch den Saal tanzen. Die heiligen Doppeläxte an den Wänden schienen lebendig zu werden, als wollten sie aus ihren Halterungen springen und eigenmächtig nach Opferblut suchen. Mijaro liebkoste die Schlange; vielleicht hielt sie in diesem Augenblick stumme Zwiesprache mit ihr, um den Willen der Göttin zu erkunden. Endlich wandte sie sich um und blickte nacheinander dem Bruder und der Schwester in die Augen.
„Ihr beide“, sagte sie schließlich, „ihr beide kennt das alte Gesetz, das eine Frau zur Hohepriesterin der Göttin und Hüterin der Insel macht: Die nächstältere Schwester übernimmt das Amt, wenn die Hüterin ein Kind erwartet. Eine Frau, die für ihr Kind sorgt und es hütet, kann nicht ein ganzes Volk hüten, denn ihre Gedanken sind geteilt. So übergibt sie ihrer Schwester die Verantwortung; spätestens dann, wenn die Schwangerschaft zur Last zu werden beginnt.“
Akija begann unter Iasas scharfem Blick zu frösteln. Mijaro sah sie jedoch nicht mehr an, als sie sagte: „Nun ist es so weit, dass ich die Verantwortung übergebe, denn ich erwarte ein Kind.“
Auch wenn dies jederzeit hatte eintreten können, hatte Akija nicht wirklich daran geglaubt, denn es gab derzeit keinen Mann an Mijaros Seite. Gewiss, da war ihr Leibdiener, ein junger, hübscher Kerl, der es verstand, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn zu glätten. Nun ja, auch wenn die Priesterinnen der Göttin es verstanden, einer Schwangerschaft vorzubeugen, so gelang es nicht immer.
Mijaro winkte der Priesterin; die hob den Weidenkorb an, sodass die Schlange von Mijaros Arm in den Korb gleiten konnte.
„Morgen Mittag wird das alte Ritual stattfinden: der Stiertanz zu Ehren der Göttin, der von den besten Tänzern durchgeführt wird. Und wie es das alte Gesetz will, wird unter diesen Tänzern die neue Hohepriesterin sein. Denn nur wer imstande ist, mit dem Stier zu tanzen, kann das höchste Priesteramt erringen. Akija, deine Ausbildung ist noch nicht vollendet, und es wäre wünschenswert, dass eine vollkommene Tänzerin das Amt übernimmt, aber es ist nun in so kurzer Zeit nicht zu ändern.“
„Aber …“, begann Akija, doch Mijaro winkte sofort ab.
„Ich habe es so entschieden und niemand wird das infrage stellen. Morgen ist ein guter Tag. Und es ist gut, dass die achaiischen Könige zugegen sein werden. Iasa wird morgen früh noch ein wenig üben. Wirklich nötig ist es nicht. Er ist in sehr guter Verfassung.“
Sie streckte aufseufzend den Rücken, als zehre die Schwangerschaft bereits an ihren Kräften. „Akija, Iasa, geht in eure Gemächer und ruht euch aus. Ich werde die Nacht hier verbringen.“
Alle erhoben sich, der Raum füllte sich mit dem Knistern der steifen Kleider. Akija zog an ihrem in Hüfthöhe angebrachten Volant, damit das Kleid straff saß. Es war eine allgegenwärtige Bewegung, die sie kaum noch wahrnahm. Sie wandte sich zum Ausgang, blieb aber stehen.
Es ist nicht richtig, dachte sie. So ist es nicht richtig.
Zögernd drehte sie sich um. Mijaro saß inzwischen auf dem Thron mit der Rückenlehne, die den heiligsten aller Berge darstellte, der Korb stand auf einer der Bänke. Die Priesterin verneigte sich vor ihr, küsste ihre Hand und schritt hinaus. Akija wartete, überlegte sich ihre Worte und schüttelte insgeheim den Kopf. Endlich hob Mijaro fragend eine Braue.
„Mijaro“, begann Akija und stockte. Sie hatte sich ihrer Schwester noch nie sehr nahe gefühlt, doch jetzt spürte sie eine Kluft, die sie nicht erschrak, aber doch erstaunte. Mijaros Taten und Entscheidungen waren oft nicht zu durchschauen, aber immer hatte Akija den Eindruck gehabt, dass sie für das Wohl der Insel die richtigen waren.
Aber diesmal war es nicht richtig.
Sie atmete tief ein. „Schwester, warum hast du es so eilig? Eine Frau kann nur Hüterin werden, wenn sie über die Hörner des Stiers gesprungen ist – so ist der Brauch. Ich habe diesen Sprung noch nicht getan, aber wenn ich angestrengt übe, kann ich ihn bald wagen. Ich verspreche dir …“
„Wirklich?“ Mijaros Augen verengten sich. „Ich habe mich immer gefragt, warum du zögerst, dich der Herausforderung zu stellen. Früher hielt ich dich für faul und gleichgültig, aber ich weiß, dass du dir nichts mehr wünschst als das Hohepriesteramt. Nun, wenn du es nach althergebrachter Art erringen willst, hättest du früher anfangen müssen, dich den Hörnern zu widmen. An den hölzernen Modellen bringst du ja immerhin sehr schöne Sprünge fertig. Aber faul bist du auf jeden Fall. Jetzt ist es zu spät. Ich werde nicht warten, nur weil du mir plötzlich ein so dünnes Versprechen gibst.“
Hastig wandte sich Akija ab, damit Mijaro nicht sah, wie sie errötete. Sie fühlte sich tief getroffen; umso schlimmer, da sie nichts erwidern konnte. Sie war nur froh, dass der Raum bereits leer war und niemand sonst, schon gar nicht Iasa, diese Worte gehört hatte. Und sie musste die Zähne zusammenpressen, damit sie nicht auch noch zu weinen begann.
Mijaro schien das nicht wahrzunehmen. „Ich habe es so entschieden, und es ist nicht an dir, das zu bemängeln. Mächtige achaiische Könige werden zugegen sein; wir erwarten sie bereits morgen früh. Du wirst auf dem Stiertanzplatz sein, das genügt. Entscheidend ist, dass du die Doppelaxt aus meiner Hand empfängst und den Stier tötest, damit du deine Hände in sein Blut tauchen und sie der Göttin als Beweis für deinen Mut zeigen kannst.“
Sie blickte geradeaus, hinab ins Reinigungsbecken. Akija neigte höflich den Kopf und ging hinaus auf den Hof. Dort hockte sie sich auf den Boden unterhalb der heiligen Säule, um sich ihren Gedanken hinzugeben. Der nachtdunkle Hof war verlassen, auch brannten nur wenige Lichter in den Fenstern. Vielleicht sollte sie hier ausharren, so wie ihre Schwester dort drinnen.
Ihre Dienerin tappte plötzlich auf blanken Füßen über das Pflaster und entschuldigte sich schweigend dafür, dass sie ihre Herrin aus den Augen verloren hatte. Akija hob den Kopf.
„Warum ist es so wichtig, dass diese festländischen Könige dem Ritual beiwohnen? Warum überhaupt nimmt die Hüterin diese Männer so wichtig?“, platzte sie heraus, und das Mädchen hob verwirrt die Schultern. Akija lauschte auf Geräusche aus den Fenstern, aber niemand schien ihre Worte gehört zu haben. Sie zog die Fersen an, so gut das Kleid es zuließ, und presste das Gesicht auf die Knie. Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Es waren nicht die Festländer, über die sie sich ärgerte, auch nicht die Hüterin. Sie erboste sich allein über ihre eigene Feigheit.
Ich kann nicht über den Stier springen, dachte sie.
Sie glaubte nicht, dass Mijaro das wusste. Niemand wusste es. Niemand wusste, dass sie das von dem Blut ihrer sterbenden Mutter gerötete Horn des Stiers gesehen hatte. Nur ihre Amme war dort gewesen, aber Akija hatte ihr unter Tränen das Versprechen abgefordert, niemals darüber zu reden. Jeder hatte gesehen, konnte es bezeugen, konnte es beschwören, wie ihre Mutter gestorben war. Aber niemals hatte sie jemandem anvertraut, dass sie es gesehen hatte. Und dass sie seitdem den Stier fürchtete.
Es kostete sie stets große Überwindung, einen Stiertanzplatz zu betreten. Sie war nicht faul – und vielleicht war sie nicht einmal feige. Sie konnte sich in der Nähe des Stiers aufhalten, auch wenn ihr Herz vor Furcht jedes Mal zu zerspringen schien. Sie konnte vor dem Stier tanzen, ja, das konnte sie. Aber allein der Gedanke, eines der Hörner zu berühren, um sich von ihnen zum Sprung hinaufheben zu lassen, jagte ihr Angst ein.
Ich wusste, dass das eines Tages auf mich zukommen würde, dachte sie und wischte die Tränen fort. Ich sollte erleichtert sein, dass ich das Amt erringen darf, ohne zu springen. Warum habe ich diese Tragödie für mich behalten? Weil ich wusste, dass ich Mijaro nicht traue?