Читать книгу Vermisst - Sam Hawken - Страница 14
7
ОглавлениеDas Polizeirevier im Zentrum von Nuevo Laredo, eins von mehreren in der Stadt, war nicht groß. Es mochte Gründe dafür gegeben haben, die Reviere dort einzurichten, wo sie waren, aber sie wirkten fast wie zufällig verteilt, die Zuständigkeiten überschnitten sich, die Lücken wurden von der Armee und der Bundespolizei, der Policía Federal, gefüllt. Der Eingang zum Gebäude war mit Betonpfeilern und Stacheldraht geschützt. Auf einigen Fenstersimsen lagen Sandsäcke.
Als ein dünner Mann in Arbeitskleidung das Revier betrat, bemerkte Gonzalo Soler ihn nicht gleich. Auf Gonzalos Schreibtisch stapelten sich Akten, jede verlangte seine Aufmerksamkeit, und er musste entscheiden, welche warten konnte und welche Priorität hatte. Als Polizist war er fast so etwas wie ein Arzt, der Verwundete nach Dringlichkeit einordnet. Gonzalo konnte nicht allen Akten die gleiche Aufmerksamkeit widmen, gab sich aber Mühe, zumindest einen Blick in jede zu werfen.
Pepito Barriga bemerkte den Mann zuerst. »Ach, verdammt.«
Gonzalo sah zu seinem Kollegen hinüber. »Was ist los?«
»Dieser Typ ist wieder da«, sagte Pepito. »Er war schon gestern hier, und vorgestern. Ich hab ihm gesagt, er soll nach Hause gehen und dort bleiben, aber er hört einfach nicht auf mich.«
Jetzt sah auch Gonzalo den Mann. Er war so dünn, dass er kurz vor dem Verhungern zu stehen schien, und trug eine zerschlissene braune Arbeitskluft, die sich seiner sonnengebräunten Haut angeglichen hatte. Insgesamt machte er den Eindruck einer wettergegerbten, schmutzigen Vogelscheuche auf einem Stoppelfeld. Er stand vor dem Tresen des Wachhabenden am Eingang, umklammerte seine Baseballkappe und warf den beschäftigten Polizisten, die ihm keinerlei Beachtung schenkten, flehende Blicke zu.
»Was will er?«, fragte Gonzalo.
»Geht um seine Tochter. Glaub mir, nicht der Mühe wert.«
Der Mann sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben und war sogar aus der Entfernung spürbar. Gonzalo klappte die vor ihm liegende Akte zu, stand auf und zog sein Jackett über.
Pepito bemerkte es. »Ich sag doch, spar dir deine Zeit.«
»Ich will nur mal mit ihm reden.«
»Von mir aus. Aber bitte mich nicht um Hilfe.«
»Mache ich nicht.«
Gonzalo ging zwischen den Tischen hindurch, von denen manche leer, manche besetzt waren. Als er den Mann im Eingangsbereich erreicht hatte, streckte er die Hand aus. »Hallo. Ich bin Inspector Gonzalo Soler. Mein Kollege meinte, Sie hätten ein Problem.«
»Ja«, sagte der Mann. »Der da drüben. Mit dem habe ich schon gesprochen.«
»Ich würde gerne hören, was Sie zu sagen haben. Wie heißen Sie?«
»Tomás Contreras.«
»Wohnen Sie in der Stadt?«
»Nein, señor. Ich arbeite auf einer Farm in der Nähe von Sabinas Hidalgo.«
»Das ist etwa eine Stunde von hier, oder? Nicht weit.«
»Nein, nicht weit.«
»Kommen Sie doch mit an meinen Schreibtisch, dann können Sie mir erzählen, was passiert ist.«
Gonzalo ging voraus, holte dem Mann einen Stuhl und ignorierte Pepitos Blick. Er nahm einen Notizblock und einen Stift aus einer Schublade, schlug eine leere Seite auf und schrieb den Namen des Mannes auf.
»Es geht um meine Tochter«, sagte Tomás, als Gonzalo bereit war. »Sie heißt Iris.«
»Wie alt ist sie?«
»Zwanzig.«
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Ja«, sagte Tomás. »Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen, beide jünger.«
Gonzalo wurde klar, dass das Alter des Mannes nur schwer abzuschätzen war. Lange Tage und Wochen und Monate unter der Sonne hatten sein Gesicht gegerbt, Staub schien sich in jede Falte gelegt zu haben. So ähnlich hatte Gonzalos Vater ausgesehen, kurz bevor er gestorben war. »Wo ist Ihre Tochter jetzt?«, fragte er.
»Hier. In Nuevo Laredo.«
»Sie lebt hier?«
»Ja. Seit drei Monaten.«
»Was macht sie hier?«
In dem Moment verzog Tomás so schmerzvoll das Gesicht, dass Gonzalo dachte, der Mann wäre irgendwie verletzt. Er kämpfte ganz offensichtlich mit seinen Gefühlen, in seinen Augen glänzten Tränen. »Verzeihen Sie, Inspector«, sagte er.
»Schon gut. Fangen Sie einfach an, wenn Sie so weit sind.«
Tomás nickte, atmete tief ein und zerrieb die Tränen in seinen Augen mit den Fingerknöcheln. Seine Brust hob und senkte sich. »Ich habe alles schon dem anderen Polizisten erzählt«, sagte er schließlich.
»Ich verstehe, aber ich höre es jetzt zum ersten Mal.«
Der Mann sah Gonzalo an, jede Falte in seinem Gesicht war verzogen. »Meine Tochter … Iris … arbeitet in Boy’s Town, Sir. In Boy’s Town.«